Deutschland hat Pädophilie nicht entkriminalisiert

Deutschland will ein Gesetz aus dem Jahr 2021 auf den Prüfstand stellen, das die Mindeststrafen für den Besitz und die Verbreitung von Kinderpornografie verschärft. Nachdem die Regierung dies angekündigt hat, begannen im Februar 2024 falsche Behauptungen in englischer und serbischer Sprache zu kursieren, wonach die Nutzung und Verbreitung von Kinderpornografie in Deutschland nicht mehr strafbar seien. Dies ist jedoch falsch. Die Gesetzesänderungen wurden vorgeschlagen, um zu verhindern, dass Personen strafrechtlich verfolgt werden, die Beweise für die Polizei sammeln oder derartige Inhalte ungewollt erhalten – was nach der geltenden Gesetzgebung möglich ist. 

„In Deutschland ist der Besitz und die Verbreitung von Kinderpornografie nicht mehr strafbar“, lautet die Überschrift eines Artikels, der am 10. Februar 2024 auf Serbisch veröffentlicht wurde. Links zum Artikel oder Screenshots der Schlagzeile wurden Dutzende Male auf Facebook geteilt, wie hier und hier. Der Artikel kursiert auch auf Telegram in einem Beitrag, der innerhalb weniger Tage über 6300-mal gesehen wurde, sowie auf X.  

Die Website und die mit ihr verbundenen Social-Media-Konten haben in der Vergangenheit zahlreiche falsche Behauptungen veröffentlicht, von denen einige von AFP überprüft wurden, wie hier, hier und hier. Dieser neue Artikel ist eine Übersetzung eines Textes auf Englisch, der von „The People’s Voice“ veröffentlicht wurde. Diese Website ist dafür bekannt, falsche Informationen zu verbreiten – beispielsweise die wiederholt falsche Behauptung, dass sich das Weltwirtschaftsforum für die Entkriminalisierung von Pädophilie ausspricht, oder dass die Tochter von Klaus Schwab „Klima-Lockdowns“ angekündigt habe.

Mit dem 2021 verabschiedeten Gesetz (§ 184b StGB über die Verbreitung, die Beschaffung und den Besitz kinderpornografischer Inhalte) wurden die Mindeststrafen angehoben und insbesondere die Strafe für das „Abrufen oder Verschaffen des Besitzes von kinderpornografischen Inhalten, die eine tatsächliche oder eine realistische Handlung wiedergeben, oder [den Besitz] solcher Inhalte“ auf ein Jahr bis fünf Jahre erhöht. Während das Gesetz darauf abzielt, sexuelle Gewalt gegen Kinder zu bekämpfen, wurde es von Polizeibeamten, Staatsanwälten und Kinderschutzexperten kritisiert, weil es dazu führte, dass automatisch Strafverfahren gegen Personen eingeleitet wurden, die keinen kriminellen Vorsatz hatten – wie in diesem „Tagesschau“-Artikel vom Januar 2024 (hier archiviert) aufgezeigt wird. Der neue Gesetzentwurf zielt darauf ab, Strafverfahren gegen solche Personen zu vermeiden. 

 

Blog-Post-Screenshot (links) und Facebook-Screenshot (rechts) der Behauptung: 13. Februar 2024

Anders als die Beiträge auf Serbisch vermuten lassen, ist das Gesetz noch nicht verabschiedet. Die Bundesregierung hat den Gesetzesentwurf am 9. Februar 2024 dem Bundesrat zur Stellungnahme vorgelegt. Der Bundesrat hat sechs Wochen Zeit, eine Stellungnahme abzugeben. Dies ist erst der Anfang des Gesetzgebungsverfahrens. Danach kann die Regierung darauf reagieren und den Gesetzesentwurf dem Bundestag vorlegen, und das Verfahren kann fortgesetzt werden. Am 14. Februar 2024 war auf der Website des Bundestages zu lesen, dass der Bundesrat den Gesetzesentwurf noch nicht erörtert hat.

Screenshot der Website des deutschen Bundestags: 21. Februar 2024

Einstellung von Strafverfahren gegen Eltern und betroffene Lehrende 

Wie der Gesetzesentwurf des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) erläutert, ist das geltende Recht und die Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe „insbesondere dann bedenklich, wenn der Beschuldigte offensichtlich nicht aus eigenem sexuellem Interesse an kinderpornografischen Inhalten gehandelt hat, sondern (…) [um] eine weitere Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung kinderpornografischer Inhalte zu verhindern oder aufzuklären.“ 

Mit der Gesetzesänderung solle „sichergestellt werden, dass in jedem Einzelfall wieder eine straf- und schuldangemessene Reaktion möglich ist“, heißt es in dem Entwurf nach Kritik von Organisationen wie dem „Deutschen Anwaltverein„, der Bundesrechtsanwaltskammer und der „Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe.“ 

Leontine Päßler, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des gemeinnützigen Vereins „Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter e. V.“ (FSM), der sich für Jugendschutz im Internet einsetzt, bestätigte, dass das derzeitige Gesetz zu unerwünschten Auswirkungen geführt habe. 

Durch das Gesetz von 2021 wurde „auch in nicht strafrechtlichen Fällen ermittelt. Dies führte zu einer Zunahme von Verfahren gegen Personen, die offensichtlich nicht aus eigenem sexuellem Interesse an kinderpornografischen Inhalten gehandelt haben. Besonders häufig traten solche Fälle bei Eltern und Lehrenden auf, die auf den Geräten ihrer Kinder oder Schüler gefundenes kinderpornografisches Material dokumentiert oder weitergegeben haben, um auf einen Missstand aufmerksam zu machen, Straftaten aufzuklären oder zu verhindern“, berichtete sie am 13. Februar 2024 in einer an AFP gerichteten E-Mail. 

Im August 2023 berichteten deutsche Medien über den Fall einer Lehrerin, die ein intimes Video heruntergeladen hatte, das in der Schule kursierte, um die Eltern der Schülerin zu alarmieren. „Die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, gegen die Frau zu ermitteln und Anklage zu erheben, auch wenn die Ermittler davon ausgehen, dass die Lehrerin in bester Absicht gehandelt hat“, heißt es in dem Artikel (hier archiviert). 

Der Gesetzesentwurf zitiert auch den Fall einer Frau, „auf deren Mobiltelefon schwer belastendes kinderpornografisches Material war, das unbeabsichtigt durch einen automatischen Download gespeichert wurde“. 

Die Behauptung, dass „Pädophile, die im Besitz von Kinderpornografie überführt werden, jetzt nur eines Bagatelldelikts angeklagt werden“, ist falsch, da der Gesetzentwurf die Höchststrafe für derartige Verbrechen nicht ändert, sondern bloß ermöglicht, dass jemand, von dem die Behörden ohnehin nicht glauben, dass er oder sie mit kriminellem Vorsatz gehandelt, auch nicht angeklagt werden muss – wie die eben oben erwähnte Lehrerin. 

Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann erklärte in einer Pressemitteilung, in welcher er die Verabschiedung des Gesetzentwurfs durch die Bundesregierung am 7. Februar 2024 ankündigte, dass „die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte eine schwere Straftat ist, die mit bis zu zehn Jahren Haft geahndet werden kann. Das ist richtig und daran wird sich auch nichts ändern“ (hier archiviert). 

Die Soziologin Dr. Barbara Kavemann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts zu Geschlechterfragen Freiburg und Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, erklärte gegenüber AFP in einer E-Mail vom 14. Februar 2024, dass es bei der geplanten Änderung „darum geht, dass zum Beispiel Eltern, die auf dem Handy ihrer Kinder pornografisches Material finden und es an Beratungsstellen oder die Polizei weitergeben, nicht wegen einer Straftat belangt werden können. Oder Kinder und Jugendliche, denen pornografisches Material zugeschickt wird.“ 

Die Verbreitung, der Erwerb und der Besitz von Kinderpornografie „ist nach wie vor illegal und wird strafrechtlich verfolgt“, sagte ebenfalls Leontine Päßler gegenüber AFP. 

„Durch die Gesetzesänderung werden die deutschen Behörden hoffentlich mehr Kapazitäten haben, um mit den schweren Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch umzugehen“, erklärte sie. 

Falsche Behauptungen über Frankreich und Neuseeland 

„The People’s Voice“ wiederholt auch mehrere falsche Behauptungen, die auf dieser Website bereits im Januar 2023 verbreitet wurden, darunter zum Beispiel, dass Nationen einem Aufruf des Weltwirtschaftsforums (WEF) folgen würden, Pädophilie zu entkriminalisieren. Der Artikel zeigte einen gefälschten Tweet und es gibt keine Spur davon, dass eine derartige Strategie jemals vom WEF verfolgt wurde.  

Zudem ist falsch, dass Frankreich „Sex mit Kindern entkriminalisiert“ hat, wie der Text auf Englisch und Serbisch behauptet. Das „Schiappa-Gesetz“ aus dem Jahr 2018 wurde zwar kritisiert, weil es nicht streng genug war, aber inzwischen wurden neue Gesetze verabschiedet. Das 2021 verabschiedete Gesetz besagt, dass „kein*e Erwachsene*r sich auf die sexuelle Zustimmung eines Kindes verlassen darf, wenn (es) unter 15 Jahre oder im Falle von Inzest unter 18 Jahre alt ist.“ Nach diesem Gesetz wird der Tatbestand der Vergewaltigung eines oder einer Minderjährigen unter 15 Jahren mit bis zu 20 Jahren Gefängnis bestraft. 

Ein weiteres Beispiel für Frankreichs verschärfte Gesetzgebung ist das 2016 verabschiedete Gesetz gegen „Rachepornos„. 

Auch die Worte eines neuseeländischen Richters werden in den im Februar 2024 kursierenden Texten falsch wiedergegeben. Ein Richter erläuterte 2022 den Geschworenen, die über den Fall eines Mannes zu entscheiden hatten, der mehrerer Sexualstraftaten an einer 12-Jährigen und einem achtjährigen Mädchen beschuldigt wurde, die rechtlichen Unterschiede im Gesetz. Für unterschiedliche Anklagepunkte gegen ihn gelten unterschiedliche Gesetze. Der Richter entschied nicht nach dem Alter der Einwilligung. Er erklärte auch, dass er mit dem Schuldspruch der Geschworenen „einverstanden“ sei.  

Während in Neuseeland allgemein davon ausgegangen wird, dass Personen unter 16 Jahren nicht in sexuelle Handlungen einwilligen können, kann die Verteidigung in dem hier behandelten Fall, in dem die Anklage als Vergewaltigung bezeichnet wurde, immer noch versuchen zu argumentieren, dass das Opfer seine Einwilligung gegeben hat. Dies führte zu öffentlicher Empörung während des Prozesses und zu Forderungen nach einer Änderung des Gesetzes. 

Derartige Behauptungen, die dem Narrativ folgen, dass westliche Länder Kinder gefährden und Sexualverbrechen wie Pädophilie fördern, haben in den letzten Jahren an Aufmerksamkeit gewonnen. Sie sind eines der Hauptthemen der russischen Propaganda zur Rechtfertigung des Angriffskriegs auf die Ukraine, sowie von konservativen Organisationen, die sich gegen die Rechte von LGBTQ-Personen einsetzen. 

AFP hat solche falschen Behauptungen über eine angebliche Entkriminalisierung oder Unterstützung von Pädophilie hier, hier, hier und hier überprüft. 

Fazit: Die Behauptungen in sozialen Medien, wonach die Nutzung und Verbreitung von Kinderpornografie in Deutschland durch eine Gesetzesänderung nicht mehr strafbar sei, sind falsch. Das Ziel der vorgeschlagenen Gesetzesänderungen ist es, zu verhindern, dass Personen strafrechtlich verfolgt werden, die Beweise für die Polizei sammeln oder derartige Inhalte ungewollt erhalten. Die Bundesregierung hat den Gesetzesentwurf dem Bundesrat zur Stellungnahme vorgelegt. Auf der Website des Bundestages zu lesen, dass der Bundesrat den Gesetzesentwurf noch nicht erörtert hat.

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Politik, Gesellschaft

Autor(en): Marion DAUTRY / Lisa-Marie ROZSA / AFP Österreich / AFP Belgrad

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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