Nein, die EU führt keine neue "Kuchensteuer" ein - Featured image

Nein, die EU führt keine neue „Kuchensteuer“ ein

In Schulen sind Kuchenverkäufe ein beliebtes Mittel, um Geld für Klassen zu sammeln. Beiträge, in denen behauptet wird, dass die Europäische Union eine neue Mehrwertsteuer auf selbstgebackene Kuchen einführt, sind falsch. Diese basieren auf einer Fehlinterpretation deutscher Medienartikel über Änderungen des deutschen Steuerrechts.

Seit Mitte Juni 2024 wurden in polnischen Medien (beispielsweise hier, hier und hier) und in sozialen Medien auf Facebook, X, Tiktok und Telegram Beiträge veröffentlicht, in denen behauptet wurde, dass beim Kauf von Kuchen auf Schulveranstaltungen eine neue Mehrwertsteuer zu zahlen sei.

Die EU-kritischen Abgeordneten Konrad Berkowicz und Witold Tumanowicz (hier und hier) sowie die euroskeptische PiS-Abgeordnete Anna Dabrowska-Banaszek (hier) teilten die falsche Behauptung ebenfalls.

„Die Europäische Union führt umstrittene Vorschriften für das Backen zu Hause ein, die Anfang 2025 in Kraft treten werden. Die neuen Vorschriften werden sich erheblich auf Schulen, Kindergärten und andere Einrichtungen auswirken, wo Kuchen angeboten werden. Der Verkauf von selbstgemachten Backwaren in öffentlichen Einrichtungen wie Schulen und Kindergärten wird mit der Mehrwertsteuer belegt werden“, schrieb Dabrowska-Banaszek.

Die Behauptung löste eine Welle von Anti-EU-Kommentaren aus. In einigen Beiträgen wurde der Austritt Polens aus der EU gefordert. Eine Nutzerin auf X schrieb, es sei „eine absurde Regelung, die Traditionen und Freiwilligenarbeit angreift. Gibt es noch einen Aspekt des Lebens, den die EU nicht regulieren will?“

Es gibt jedoch keine neue EU-Richtlinie, die die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, eine Mehrwertsteuer auf selbstgebackene Kuchen zu erheben, auch nicht, wenn sie in Schulen verkauft werden. Dies bestätigten sowohl polnische als auch deutsche Steuerrechtsexpertinnen und -experten und Beamtinnen und Beamten der Europäischen Kommission in Warschau gegenüber AFP.

X-Screenshot der Behauptung (links) und Facebook-Screenshot der Behauptung (rechts): 11. Juli 2024

Ursprung der falschen Behauptung

Die erste Falschmeldung in polnischer Sprache, die AFP ausfindig machen konnte, wurde am 13. Juni 2024 auf der Website Kancelaria Lega Artis mit dem Titel „Kuchensteuer kommt: Neue EU-Verordnung tritt bald in Kraft“ veröffentlicht. Eine Website mit Nachrichten für in Deutschland lebende Polinnen und Polen – polskiobserwator.de – veröffentlichte ebenfalls einen Artikel zu diesem Thema.

Bei Kancelaria Lega Artis handelt es sich um eine Website, die von AFP schon mehrmals als Quelle für EU-feindliche Desinformation identifiziert wurde (beispielsweise hier, hier, hier, hier oder hier).

Ein zweiter Artikel wurde am 4. Juli 2024 veröffentlicht – dieser ist inhaltlich fast identisch, trägt aber einen anderen Titel. „Die Europäische Union hat beschlossen, neue Regeln für den Verkauf von selbstgemachten Backwaren einzuführen, die ab Anfang 2025 in Kraft treten. Ziel dieser neuen Mehrwertsteuer-Richtlinie ist es, private Unternehmen vor der Konkurrenz öffentlicher Einrichtungen wie Schulen und Kindergärten zu schützen, die bisher keine Steuern auf den Verkauf von Kuchen zahlen mussten. Obwohl die Einführung der Rechtsvorschriften ursprünglich bereits für 2023 geplant war, wurde beschlossen, sie zu verschieben, um eine Anpassung an die neuen Regeln zu ermöglichen“, heißt es in dem Artikel.

In den polnischen Artikeln wird ein Beitrag auf der deutschen Website Chip.de erwähnt – eine Website, die auf Nachrichten aus der IT-Branche spezialisiert ist. Der deutsche Artikel von Patrick Hannemann erschien erstmals am 10. Juni 2024 unter dem Titel „Wegen einer EU-Regelung: Darum gibt es bald eine Kuchensteuer“. Dieses ursprüngliche Veröffentlichungsdatum ist mit einem Rechtsklick unter der Funktion „Seitenquelle anzeigen“ zu finden.“ Der Artikel wurde am 24. Juni 2024 aktualisiert und ist weiterhin unter dem Titel „Kuchensteuer der EU: Diese Regel köntte ab 2024 in Deutschland greifen“ online.

 

Screenshot des Quellencodes des Artikels auf Chip.de mit den Daten der Erst- und Update-Veröffentlichung in rot: 17. Juli 2024

 

Beiträge auf X in deutscher Sprache (hier und hier) vom 11. und 12. Juni 2024 zeigen, dass der Originalartikel von Chip.de bereits vor dem Artikel auf Legaartis.pl veröffentlicht wurde.

X-Screenshots nach der Veröffentlichung des Artikels auf Chip.de: 17. Juli 2024

Steuerrechtsänderungen in Deutschland

Laut deutschen Steuerexpertinnen und -experten sei die Fehlinterpretation auf eine mögliche bevorstehende Änderung des deutschen Rechts zurückzuführen.

Andreas Erdbrügger, Rechtsanwalt bei der Kanzlei Flick Gocke Schaumburg in Berlin und Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin, betonte, dass „das alles mit dem deutschen Umsatzsteuergesetz (UStG) zusammenhängt, insbesondere mit dem verschärften § 2b UStG.“ Schulen und Kindergärten mit einem Jahresumsatz von bis zu 45.000 Euro waren bisher vom EU-Wettbewerbsrecht ausgenommen, erklärte er. Nach neuem Recht (§2b UStG) und je nach Auslegung durch die zuständige Finanzverwaltung entfällt diese Grenze nun.

§2b UStG sei tatsächlich eine Verschärfung, sie wurde 2015/2016 eingeführt und hatte eine großzügige Übergangsfrist, die eigentlich 2021 auslaufen sollte (geregelt in §27).  Allerdings sei die Frist bereits zwei Mal verlängert worden, zunächst bis 2023 und dann bis 2025. Nun wurde sie durch das Jahressteuergesetz ein drittes Mal bis 2027 verlängert, wie aus einem Regierungsbeschluss vom 5. Juni 2024 hervorgeht.

„Wenn es ab 2027 bei der strikten Auslegung des Umsatzsteuergesetzes bleiben sollte, müssten Schulen/Kindergärten also ab diesem Zeitpunkt Umsatzsteuer auf Kuchenverkäufe zahlen.“ Es ist wichtig zu beachten, dass „die Besteuerung von Kuchenverkäufen nur für die Verkäufe an staatlichen Schulen gilt, nicht jedoch für Verkäufe beispielsweise durch Schulfördervereine“, so Erdbrügger am 13. Juli 2024 telefonisch gegenüber AFP.

Auf Anfrage von AFP erklärte ein Sprecher des Bundesministeriums für Finanzen in einer E-Mail am 11. Juli 2024, dass „auf Kuchenverkäufe, die von Einzelnen oder einer Gruppe von Eltern oder Schülern in KiTas oder Schulen durchgeführt werden, die allgemeinen umsatzsteuerrechtlichen Grundsätze anzuwenden [sind]“.

„Im Regelfall wird selbstgebackener Kuchen, den Eltern/Schüler z. B. bei Schulfesten für die Klassenkasse verkaufen, weiterhin nicht der Umsatzbesteuerung unterliegen. Die Entscheidung in steuerlichen Einzelfällen obliegt nach der Finanzverfassung den Finanzbehörden der Länder“, teilte der Sprecher weiter mit.

Eine Stichwortsuche nach den Begriffen „Kuchen Steuern in der Schule“ ergab Dutzende von Artikeln in deutschen Medien (etwa hier, hier oder hier) sowie Kommentare von Politikerinnen und Politikern. Es konnte auch eine Mitteilung der EU vom 19. Mai 2022 und eine Mitteilung des Finanzministeriums der Landesregierung von Baden-Württemberg ausfindig gemacht werden.

Dies gilt jedoch nicht für Polen und ist kein „neues“ Mehrwertsteuergesetz.

Die Verschärfung des deutschen Rechts durch §2b UStG hat – anders als in Medienberichten erklärt – nichts mit der EU-Regelung zu tun (die gibt es bereits seit 40 Jahren).

Die Website von RadioZet zitierte die beiden Artikel von Legaartis.pl und Chip.de. Auch Tysol.pl, Fronda.pl, Nczas.info und Warszawawpigulce.pl berichteten über die angebliche neue Steuer. Nur RadioZet nahm dem Artikel wieder von ihrer Website, als sich herausstellte, dass es sich um Falschinformation handelte.

AFP schickte diese Artikel an die Vertretung der Europäischen Kommission in Polen mit der Frage, ob hausgemachte Backwaren tatsächlich in der gesamten EU und damit auch in Polen besteuert werden würden. „Die Kommission hat keine Änderungen an der Mehrwertsteuerrichtlinie in Bezug auf die in den Artikeln genannten Punkte vorgeschlagen“, antwortete Piotr Wolski, Leiter der Presseabteilung der Europäischen Kommission in Polen, am 11. Juli 2024 in einer E-Mail an AFP.

Steuer auf Kuchen weder in Polen noch generell in der EU vorgesehen

Die Falschinformationen seien ein „völliger Schwindel“, sagte Krzysztof Komorniczak, polnischer Steuerberater und Dozent für Steuerrecht an der SGH Warsaw School of Economics und der Universität Warschau, gegenüber AFP am 11. Juli 2024. „Es gibt keine derartige Richtlinie und es gibt auch keine Pläne, solche Vorschriften in Polen oder in der EU einzuführen“, sagte er in einem Telefongespräch.

Robert Nogacki, Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der Anwaltskanzlei Skarbiec, bestätigte in einer E-Mail an AFP vom 12. Juli 2024 ebenfalls, dass er „keine Gesetzesentwürfe im Land oder EU-Vorschriften zur Einführung einer solchen Steuer in Polen gefunden habe“. „Jemand hat eine deutsche ‚Schlagzeile‘ aufgegriffen, das Gesamtproblem der Mehrwertsteuer auf die Aktivitäten öffentlicher Einrichtungen falsch übersetzt oder missverstanden und darüber in Polen geschrieben, wobei er das sehr eingängige Thema der Schulbackwaren gebrauchte.“

Der Kuchenverkauf durch Kinder oder ihre Familien wird nicht als Verstoß gegen die polnische Auslegung des EU-Mehrwertsteuerrechts angesehen. Ein Verstoß würde nur dann vorliegen, wenn die Schule Backwaren in einem Tempo herstellen würde, das die örtliche Bäckerei gefährden könnte.

Ewelina Skwierczyńska, Steuerexpertin und Dozentin an der Universität Breslau, weist ebenfalls darauf hin, dass es sich um eine „falsche Information“ handle. „Im Gegenteil, der polnische Gesetzgeber hat eine besondere Präferenz eingeführt“, indem er eine „jährliche Freigrenze von bis zu 200.000 PLN“ für den Verkauf von Süßwaren im kleinen Maßstab beschloss, fügte sie in einer E-Mail an AFP am 15. Juli 2024 hinzu. „Diese Tätigkeiten unterliegen nicht automatisch der Mehrwertsteuer“.

Fazit: Die Einführung einer Steuer durch die EU auf selbstgebackene Kuchen ist nicht vorgesehen. Derartige Falschbehauptungen basieren auf einer Fehlinterpretation deutscher Medienartikel über Änderungen des deutschen Steuerrechts.

Fact Checker Logo

Gesellschaft, EU

Autor(en): Maja CZARNECKA / Lisa-Marie ROZSA / Johanna LEHN / AFP Polen

Ursprünglich hier veröffentlicht.

Nach oben scrollen