Auf1 verbreitet irreführende Behauptungen über Messerangriffe in Deutschland

Das für Desinformation bekannte Portal Auf1 macht auf X und Telegram Stimmung gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Diese, so behauptet Auf1, neigten zu mehr Kriminalität und würden sechsmal häufiger „zum Messer greifen“ als Deutsche. Wir haben uns die Sachlage und die Quellen von Auf1 angeschaut: Die Aussagen des Portals verzerren die Realität.

Die Statistiken der Bundespolizei und des Bundeskriminalamtes, die Auf1 für diese Behauptungen nutzt, treffen keine Aussagen über Menschen mit Migrationshintergrund. Für Vergleiche, wie häufig Ausländer oder Deutsche Straftaten begehen, sind die Zahlen nur begrenzt aussagekräftig. Die kriminologische Forschung zeigt, dass nicht die Herkunft eines Menschen oder seine Staatsbürgerschaft entscheidend sind für die Begehung von Straftaten, sondern Faktoren wie Gewalterfahrung, Bildungsniveau oder Armut.

Auf Telegram macht Auf1 gezielt Stimmung gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Dabei erfasst die Bundespolizei den Migrationshintergrund von Tatverdächtigen ebenso wenig wie die Polizeiliche Kriminalstatistik. (Quelle: Telegram; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Zahlen von Auf1 stammen nur teilweise aus dem Jahresbericht 2023 der Bundespolizei

Auf1 behauptet, sich auf Zahlen aus dem „Jahresbericht 2023 der Bundespolizei“ zu berufen. In dem Bericht, der am 19. August 2024 vorgestellt wurde, finden sich diese jedoch nicht. Die Aussage, dass Menschen mit Migrationshintergrund „sechsmal häufiger“ Messer als Tatwaffen einsetzen, fanden wir darin ebenfalls nicht.

Wir haben daher bei der Redaktion von Auf1 nachgefragt, woher die Angaben stammen. Antwort bekamen wir von Chefredakteur Stefan Magnet, der lediglich mitteilte, dass die Aussage: „Nichtdeutsche greifen sechsmal häufiger zum Messer“ vom Präsidenten der Bundespolizei, Dieter Romann, stamme.

Aussage über sechsmal häufigeren Messergebrauch bezog sich nicht auf Menschen mit Migrationshintergrund

Romann stellte am 19. August gemeinsam mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser den Jahresbericht 2023 der Bundespolizei vor. Dabei sagte er, 2023 habe es „den höchsten Wert an Gewaltdelikten mit Messern“ gegeben. Insgesamt gab es 853 solcher Fälle, in 555 davon sei von dem Messer „Gebrauch gemacht“ worden. In den restlichen Fällen wurde das Messer also nur mitgeführt und nicht eingesetzt.

Dann folgt der entscheidende Satz von Romann: „Das Ganze sollte man auch sehen in Relation zur Gesamtbevölkerung. 2023 hatten wir 84,7 Millionen Einwohner, davon 85 Prozent Deutsche, 15 Prozent Ausländer und wenn man das daneben legt, haben wir in der Relation zur Gesamtbevölkerung einen sechsmal häufigeren Gebrauch des Messers bei Gewaltdelikten als von Deutschen.“ Das Wort „Gebrauch“ ist hier aber irreführend, denn, wie wir durch eine Presseanfrage erfuhren, wurden für diese Berechnung auch die Fälle einbezogen, in denen das Messer nur mitgeführt wurde.

Auf1 bezieht Romanns Aussage fälschlich auf Menschen mit Migrationshintergrund. Maik Beckmann, Pressesprecher der Bundespolizei, schrieb uns: „Die Polizeiliche Eingangsstatistik der Bundespolizei (PES) weist keinen etwaigen Migrationshintergrund aus, sondern Staatsangehörigkeiten.“ Unterschieden wird in Deutsche und Nichtdeutsche. Die Bezeichnung „Menschen mit Migrationshintergrund“ kann beides umfassen. 2022 hatten laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Deutschland 23,8 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund (28,7 Prozent). Von diesen haben rund 51 Prozent die deutsche Staatsangehörigkeit.

Warum der Migrationshintergrund in Polizeistatistiken nicht auftaucht, erklärt uns auf Anfrage ein Pressesprecher des Bundeskriminalamtes (BKA): Tatverdächtige müssen laut Gesetz gegenüber der Polizei nicht angeben, ob sie einen Migrationshintergrund haben und ein solcher ist auch nicht über einen Ausweis feststellbar. „Eine einheitliche und faktengemäße Erfassung ist damit nicht sichergestellt“, schreibt uns der Pressesprecher – und die Forderung nach einer Erhebung des Migrationshintergrundes sei deshalb auch nicht sinnvoll.

Statistik der Bundespolizei umfasst ausschließlich Vorfälle auf Bahnanlagen und in Zügen

Wichtig ist zudem: Die Zahlen der Bundespolizei sind nicht aussagekräftig für ganz Deutschland. Denn es handelt sich ausschließlich um Vorfälle auf Bahnanlagen und in Zügen. Die Bundespolizei ist für die tägliche Polizeiarbeit gar nicht zuständig. Sie schützt unter anderem die Grenzen, den Luftverkehr und ist an Bahnhöfen und auf See präsent. Alles Orte, an denen Ausländer sehr häufig anzutreffen sind.

Die Betrachtung von Ausländerkriminalität im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung ist zusätzlich kritisch zu betrachten. Zur Gruppe der nichtdeutschen Tatverdächtigen gehören auch Touristen, reisende Tätergruppen, Stationierungskräfte und Pendler, die nicht in Deutschland leben. „Deswegen wird der Anteil an den Tätern immer größer sein als der Anteil an der Wohnbevölkerung“, erklärt der Kriminologe Martin Thüne gegenüber der Frankfurter Rundschau.

Laut Polizeilicher Kriminalstatistik 2023 gab es 8.951 Messerangriffe – Vergleich mit Vorjahr ist nur begrenzt aussagekräftig

Weiter schreibt Auf1 in seinen Beiträgen, im Jahr 2023 habe es 8.951 Angriffe mit Messern gegeben, das entspreche 24,5 Fällen pro Tag. Angriffe mit Messern hätten „Hochkonjunktur“, so Auf1.

Die 8.951 Angriffe mit Messern finden sich in der Polizeilichen Kriminalstatistik 2023 (PKS) des BKA. Das BKA definiert Messerangriffe als „Tathandlungen, bei denen der Angriff mit einem Messer unmittelbar gegen eine Person angedroht oder ausgeführt wird“. Das bloße Mitführen eines Messers reiche hingegen – anders als bei der Bundespolizei – für eine Erfassung nicht aus.

Die BKA-Zahlen belegen einen Anstieg der Fälle 2023 im Vergleich zu 2022. Doch deshalb wie Auf1 von einer „Hochkonjuktur“ zu sprechen, ist ohne weiteren Kontext irreführend, wie uns der Pressesprecher des BKA erklärte: Die Innenministerinnen und -minister der Länder hätten sich erst im Jahr 2018 darauf verständigt, die Verwendung von Messern bei Straftaten zu erfassen. Damit sei bundesweit am 1. Januar 2020 begonnen worden. Allerdings habe sich bei einer anschließenden Bewertung herausgestellt, dass es „Harmonisierungsbedarf“ bei der Erfassung gebe. Messerkriminalität werde erst seit dem 1. Januar 2024 bundesweit einheitlich erfasst, die vollständige Statistik dazu sei erst für 2025 vorgesehen. Die Zahlen der letzten Jahre sind daher vorläufig und nur begrenzt aussagekräftig.

Wie auch die Bundespolizei unterscheidet die PKS zwischen deutschen und nichtdeutschen Tatverdächtigen. Der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger bei den Messerangriffen 2023 lag laut dem Mediendienst Integration zwischen 33 und 50 Prozent. Diese Statistik enthält jedoch nur Daten aus acht Bundesländern.

Was sagen die Polizei-Daten zur Gewaltkriminalität insgesamt in Deutschland? 

Auf1 behauptet in seinem Beitrag auch, dass Menschen mit Migrationshintergrund allgemein „zu mehr Kriminalität neigen“ würden. Die Behauptung soll durch zwei Grafiken gestützt werden. Die Zahlen stammen jedoch ebenfalls aus der PKS, die keinen Migrationshintergrund erfasst.

Eine der Grafiken zeigt die Veränderung von Tatverdächtigen unter Kindern und Jugendlichen bei der Gewaltkriminalität von 2022 auf 2023. Zur Gewaltkriminalität zählen unter anderem Mord, Raub und gefährliche und schwere Körperverletzung.

Die zweite Grafik zeigt die „Veränderung der tatverdächtigen Erwachsenen“, bei Delikten ohne „ausländerrechtliche Verstöße“. Ausgeschlossen sind also Delikte gegen das Aufenthalts- oder das Asylrecht, die überwiegend von Nichtdeutschen begangen werden.

In der PKS 2023 fanden wir die Grafiken, die Auf1 für seine Beiträge auf Telegram und X nutzte (Quelle: bka.de; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Auch hier fehlt ein wichtiges Stück Kontext: Der Anstieg an nichtdeutschen Tatverdächtigen zwischen 2022 und 2023 geht mit einem Anstieg der nichtdeutschen Bevölkerung durch Zuwanderung einher. Im selben Zeitraum wuchs die Bevölkerungsgruppe – je nachdem, ob man die Zählung vom Anfang oder Ende des Jahres nimmt – zwischen 4,7 und 13,1 Prozent, wodurch ein entsprechender Anstieg der Verdächtigen erwartbar ist. Dieses Detail wird auch in der PKS als wichtiger Grund für die Entwicklung angemerkt und in einer Grafik ausgeführt.

Entwicklung der nichtdeutschen Bevölkerung und der Anzahl nichtdeutscher Tatverdächtiger ohne ausländerrechtliche Verstöße zwischen 2005 und 2023. (Quelle: bka.de; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Dennoch ist auch hier der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen höher als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Aus der PKS geht hervor, dass 34,4 Prozent der Tatverdächtigen bei „Straftaten insgesamt ohne ausländerrechtliche Verstöße“ nichtdeutsch sind, während die Gruppe nur etwa 15 Prozent der Bevölkerung ausmacht.

In der kriminologischen Forschung werden mehrere Faktoren genannt, die kriminelles Verhalten begünstigen. Der Sprecher des BKA verweist auf Studien, die zu dem Schluss kommen, dass „nicht die Staatsbürgerschaft oder der Migrationshintergrund ursächlich für die Begehung von Straftaten (insbesondere Gewaltkriminalität) ist“. Bedeutsamer seien Faktoren, die unabhängig von der Herkunft wirken, wie Gewalterfahrungen, Bildungsniveau, sowie Armut und Diskriminierungserfahrungen.

Wie sind die Anstiege bei der Gewaltkriminalität von Kindern und Jugendlichen einzuordnen?

Wie aber ist der Anstieg der Jugendgewalt zu erklären? Die PKS wurde am 9. April in der Bundespressekonferenz vorgestellt. Dort ordnete Holger Münch, Präsident des BKA, die Zahlen ein. Zunächst wies er darauf hin, dass ein Vergleich der Jahre 2022 und 2023 problematisch sei. „2023 war das erste Jahr, in dem es keine durch die Corona-Pandemie bedingten Einschränkungen mehr gab und deshalb ist es immer klug, einen Vergleich mit dem Jahr 2019 – vor der Corona-Zeit – zu ziehen“, so Münch. Unabhängig davon gebe es aber „Auffälligkeiten, die über Nachholeffekte hinausgehen“.

Mit Blick auf die Zahlen zu Kindern und Jugendlichen sagt Münch, dass Jugendliche eine „entwicklungsbedingt größere Neigung“ hätten, gegen Normen zu verstoßen und Straftaten zu begehen. „Mit Wegfall der Covid-bedingten Einschränkung entfalten die Faktoren, die Kriminalität insgesamt steigen lassen bei Jugendlichen, möglicherweise besonders deutliche Wirkung.“ Kinder und Jugendliche seien von den Covid-bedingten Maßnahmen besonders stark betroffen gewesen.

Warum bei den Daten der PKS immer Vorsicht geboten ist 

Selbst mit einheitlicher Datenerfassung durch die Länder ist die Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik beschränkt. Nicht alle Straftatbereiche sind in der PKS vertreten, es fehlen beispielsweise Staatsschutzdelikte, Ordnungswidrigkeiten, Verkehrsdelikte und Finanz- und Steuerdelikte. Die PKS enthält zudem nur die polizeilich bekannten Straftaten, das sogenannte Hellfeld, wodurch bei einigen Delikten nur ein Bruchteil der tatsächlich vollzogenen Straftaten in der Statistik auftaucht.

Dieses Hellfeld wird leicht durch Veränderungen der Datenerfassung verzerrt. Gibt es zum Beispiel in einer bestimmten Region oder an Bahnhöfen mehr Polizeikontrollen, dann werden auch mehr Straftaten registriert, ohne einen Anstieg an kriminellem Verhalten. In der Kriminologie ist dieser Effekt als „Lüchow-Dannenberg-Syndrom“ bekannt. Auch die Anzeigebereitschaft in der Gesellschaft hat Einfluss auf die Statistik: Steigt die Bereitschaft, ein Delikt aus dem Dunkelfeld anzuzeigen, steigen auch die Fälle in der PKS, obwohl es nicht mehr Kriminalität gegeben hat.

In der PKS „werden alle der Polizei bekannt gewordenen und durch sie endbearbeiteten Straftaten erfasst“, schrieb uns ein Pressesprecher des BKA. Das heißt, in der PKS sind alle Straftaten aufgeführt, die ausermittelt sind und von der Polizei an die Staatsanwaltschaft oder an ein Gericht abgegeben wurden. Ob es bei diesen Verdachtsfällen auch zu einer Verurteilung kam, ist in den Daten nicht enthalten. Es werden insgesamt nur etwa 30 Prozent aller Tatverdächtigen auch verurteilt.

Die Anzahl an Verdächtigen ist keine ideale Datenquelle für Aussagen über Unterschiede in der Kriminalität verschiedener Bevölkerungsgruppen, wie zum Beispiel eine Studie zur Gewalt bei Flüchtlingen zeigt: Übergriffe von als fremd wahrgenommenen Menschen werden Opferbefragungen zufolge eher zur Anzeige gebracht. Auch Sprachbarrieren können laut dem Sprecher des BKA dazu führen, dass Menschen in Konflikten eher die Polizei zur Hilfe rufen. Dazu kommt, dass Menschen, die als „nichtdeutsch“ wahrgenommen werden, Studien zufolge häufiger verdachtsunabhängig durch die Polizei kontrolliert werden, wodurch sie zusätzlich in der Statistik überrepräsentiert sein können.

Mehrere Kriminologen mahnen deshalb zur Vorsicht, anhand der PKS voreilige Schlüsse über das kriminelle Verhalten verschiedener Bevölkerungsgruppen oder die Entwicklung der Kriminalität insgesamt zu ziehen (zum Beispiel hier, hier und hier).

Redigatur: Paulina Thom, Alice Echtermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Jahresbericht der Bundespolizei 2023: Link
  • Artikel des BKA „Polizeiliche Kriminalstatistik 2023: Gesamtkriminalität steigt weiter an“ vom 9. April 2024: Link
  • Studie: „Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland. Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer“, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Januar 2018: Link
  • Studie: „Gewaltkriminalität bei Flüchtlingen“, Fachzeitschrift Die Polizei, Mai 2018: Link
  • Expertise: „Jugenddelinquenz in der Einwanderungsgesellschaft: Ursachen und neuere Entwicklungen“, Mediendienst Integration, Dezember 2023: Link
  • Studie: „Diskriminierungsrisiken in der Polizeiarbeit“, Schriftenreihe des Instituts für Kriminalitäts- und Sicherheitsforschung, 2024: Link
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Migration, Gesellschaft

Autor(en): CORRECTIV

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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