Für die syrische Bevölkerung ist die Zukunft ihres Landes nach dem Sturz des ehemaligen Machthabers Baschar al-Assad durch islamistisch angeführte Milizen Anfang Dezember 2024 ungewiss. In diesem Zusammenhang verbreitete sich ein Video, das angeblich einen Sklavenmarkt in Syrien Ende 2024 zeigen soll. Diese Behauptung ist jedoch falsch: Die Sequenz stammt aus dem Jahr 2014 und zeigt in Wirklichkeit einen Protest kurdischer Aktivisten vor dem britischen Parlament in London.
Verschleiert mit einem sogenannten Nikab, der nur die Augen erkennen lässt, und gefangen von Ketten aus Metall – so knien eine Handvoll Frauen vor mehreren Männern, die sie halten. „Wir haben jesidische Frauen, kurdische Frauen, christliche Frauen! Kommt und nehmt, was ihr wollt!“, ruft ein Mann mit einem karierten Schal auf Englisch in ein Megafon, wie ein Verkäufer an einem Marktstand. Hierbei handelt es sich um Szenen aus einem Video, welches in einem X-Beitrag vom 21. Dezember 2024 geteilt wurde. Laut der Beschreibung soll die Aufnahme von einem Sklavenmarkt in Syrien stammen, wo Frauen verkauft werden.
Auch auf Facebook war das Video im Umlauf. „Syrien s neue Machthaber unterstützt durch unsere Bunten_Regierung“, heißt es etwa in einem Posting vom 21. Dezember 2024. In anderen Beiträgen wird behauptet, dass der Sklavenmarkt Teil der „neuen Ordnung“ Syriens sei, welche „nach dem Sturz des ‚diktatorischen‘ Regimes Assads“ eingekehrt sei.
Das Video wurde auch in anderen Sprachen wie Französisch, Spanisch oder Griechisch geteilt.
Diese Behauptung ist jedoch falsch: Bei dem Video handelt es sich um eine von kurdischen Aktivistinnen und Aktivisten organisierte Inszenierung eines Sklavenmarktes als Demonstration in London im Jahr 2014, wie eine Analyse der Aufnahmen ergab.
Video stammt aus 2014
AFP führte eine erweiterte Websuche mit Stichwörtern durch, die im Video auf Englisch zu hören sind. Durch die Eingabe der Wörter „Kurdish“, „Christian“, „women“, „sex“ und „slave“ auf Google fand AFP einen Artikel der US-amerikanischen Nachrichtenplattform Newsweek, der am 15. Oktober 2014 veröffentlicht wurde (hier archiviert).
Auf einem der Fotos, die im Artikel vorkommen, sind mehrere Ähnlichkeiten mit den Sequenzen zu erkennen, die derzeit in sozialen Netzwerken verbreitet werden. Zu sehen ist derselbe Mann in grüner Jacke, mit kariertem Tuch auf dem Kopf und rot-weißem Megafon vor dem Mund. Im Hintergrund erkennbar ist derselbe Mann mit weißem Kopftuch und brauner Jacke sowie Frauen in schwarzen Nikabs.
Außerdem stimmen die architektonischen Elemente im Hintergrund mit jenen überein, die im aktuell geteilten Video erkennbar sind.
Laut der Bildunterschrift von Newsweek wurde das Foto am 14. Oktober 2014 vor dem Westminsterpalast, dem Sitz des britischen Parlaments, in London aufgenommen.
An diesem Tag hatten kurdische Aktivistinnen und Aktivisten im Zentrum Londons einen „Sklavenmarkt“ inszeniert, um auf die „Sklavenhandelspraktiken des Islamischen Staates“ aufmerksam zu machen, heißt es in dem Newsweek-Artikel.
Eine erweiterte englischsprachige Suche nach dieser Veranstaltung führte zu weiteren Artikeln zu diesem Thema auf den Websites der BBC und der englischsprachigen Version der Huffpost, die im Oktober 2014 veröffentlicht wurden (hier und hier archiviert).
In diesen Berichten geht es darum, dass kurdische Demonstrantinnen und Demonstranten im Zentrum der britischen Hauptstadt eine Sklavenauktion inszeniert haben. Laut BBC gehörten die Aktivisten einer Gruppe namens „Compassion 4 Kurdistan“ an. Aus den Artikeln geht auch hervor, dass die Gruppe die Inszenierung vor mehreren wichtigen Orten in London, darunter dem Westminsterpalast, geprobt hatte.
Ein Blick auf das britische Parlament in London auf Google Street View zeigt, dass die selben architektonischen Elemente wie im Video erkennbar sind: die Säulen und das Gitter, die den Palast umgeben (hier archiviert).
AFP konnte den genauen Ort aus den Aufnahmen nicht lokalisieren, da sich das Muster der Gitter und Säulen um das Gebäude herum wiederholt.
Zahlreiche Hinweise wie die Kleidung der gezeigten Personen und die Kulisse lassen jedoch darauf schließen, dass das Video nicht kürzlich in Syrien, sondern in London in der Nähe des Westminsterpalastes bei einer Veranstaltung im Jahr 2014 gedreht wurde.
Die geteilten Aufnahmen wurden nicht zum ersten Mal aus dem Zusammenhang gerissen und mit falscher Behauptung geteilt. Im Jahr 2021 veröffentlichte AFP einen Faktencheck zu den Bildern, die damals fälschlicherweise als Aufnahmen der Taliban in Afghanistan dargestellt wurden.
Minderheiten waren von Menschenhandel betroffen
Die kursierenden Bilder zeigen also keine authentische Sklavenauktion in Syrien. Dennoch war Menschenhandel für einige ethnische oder religiöse Minderheiten des Landes in den vergangenen Jahren Realität. Insbesondere Frauen aus bestimmten Gemeinschaften bekamen den Status von Sexsklavinnen auferlegt.
Die neue syrische Regierung besteht aus einer Koalition bewaffneter Gruppen und ist seit Anfang Dezember 2024 an der Macht. Sie steht unter internationaler Beobachtung bezüglich des Umgangs mit unterschiedlichen Gemeinschaften in dem religiös und ethnisch vielfältigen Land.
Bei ihrem Besuch am 3. Januar 2025 in Syrien forderte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) von der neuen islamistischen Führung des Landes die Einbeziehung aller gesellschaftlichen Gruppen – und sagte, dass sie die islamistische HTS-Miliz weiter an ihren Taten messen würde.
Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gibt es Hinweise, dass religiöse Minderheiten nach dem Sturz des langjährigen syrischen Machthabers Baschar al-Assad das Land aus Angst vor „möglichen Bedrohungen“ verlassen hätten.
Der Sturz von Baschar al-Assad hat in sozialen Netzwerken zu zahlreichen falschen oder irreführenden Behauptungen geführt. AFP hat bereits mehrere davon widerlegt, wie etwa ein Video mit der Falschbehauptung, es handle sich um ein ehemaliges Opfer des Assad-Regimes. Ein weiteres Video, welches fälschlicherweise als Beweis für „Flüchtlingsströme“ aus Syrien nach Europa verbreitet wurde, hat AFP hier überprüft.
Fazit: Ein Video, das angeblich einen Sklavenmarkt im Dezember 2024 in Syrien zeigen soll, stammt tatsächlich aus dem Jahr 2014. Dieses zeigt einen Protest kurdischer Aktivistinnen und Aktivisten vor dem britischen Parlament in London.