„Seit einiger Zeit schon wächst die Eisbedeckung in Grönland, was sich als unpraktisch für die Klimawandler erweist“, heißt es in einem Artikel des Blogs TKP Anfang September. Sowohl in der Antarktis als auch in der Arktis würde es seit einigen Jahren kälter werden, in Grönland seit 2012. Das dortige Inlandeis habe sich „in den letzten zwölf Monaten völlig normal entwickelt, wobei die Massenbilanz an der Oberfläche mit der normalen Rate zunahm“, schreibt der Autor. All dies sei in Studien, Datensätzen und Erfahrungen belegt.
Der Blog-Artikel verbreitet sich unter anderem auf X, Telegram und Facebook und erreichte mehr als hunderttausend Aufrufe. Auch die Blogs Kettner Edelmetalle und Unser Mitteleuropa griffen einige der Behauptungen auf.
Doch was ist dran an den Behauptungen? Mehrere Forscher schreiben uns, die Blog-Artikel betrieben Rosinenpickerei und seien irreführend.
Nein, die Temperaturentwicklungen in Arktis und Antarktis widersprechen nicht dem Klimawandel
Von Jahr zu Jahr gibt es zwar Temperaturschwankungen in Arktis (Nordpol) und Antarktis (Südpol) – sprich im einen Jahr kann es mal wärmer sein als im anderen. Entscheidend aber für die Frage, ob sich das Klima erwärmt oder abkühlt, sind langjährige Trends. Hierfür vergleichen Forschende die Durchschnittstemperatur eines Jahres mit einer Referenzperiode – die Weltorganisation für Meteorologie empfiehlt einen Zeitraum von 30 Jahren.
Für die Arktis bedeutet das laut dem Erdbeobachtungsprogramm Copernicus: 2023 lag die Jahresdurchschnittstemperatur für die gesamte Arktis (an Land und Meer) 0,92 Grad Celsius über dem Durchschnitt für den Referenzzeitraum 1991 bis 2020. Die zehn wärmsten Jahre seit dem Aufzeichnungsbeginn 1950 waren alle nach 2010. Von einer Abkühlung „in den letzten Jahren“ kann also keine Rede sein. Insgesamt hat sich die Arktis in den letzten zwei Jahrzehnten laut Sonderbericht des Weltklimarats (IPCC) von 2019 mehr als doppelt so schnell erwärmt, wie der globale Durchschnitt. Warum das so ist, haben wir in diesem Faktencheck erklärt.
Weniger eindeutig ist die Lage in der Antarktis: Je nach Region kam es hier in den letzten Jahrzehnten mal zu Erwärmungs-, mal zu Abkühlungstrends. Laut dem Sonderbericht des Weltklimarats weise die östliche Antarktis in den vergangenen 30 bis 50 Jahren insgesamt keine signifikante Veränderung der Temperatur auf. Aber der westliche Teil des Kontinents habe sich erwärmt. Seit 1950 um etwa 3 Grad Celsius und damals fünf Mal schneller als der globale Durchschnitt. Seit Ende der 1990er Jahre gibt es auch in der West-Antarktis einen Abkühlungstrend, der die vorherige Erwärmung jedoch nicht überwiegt. Die Ursachen für die unterschiedlichen Trends werden aktuell erforscht. Wie wir in einem früheren Faktencheck berichteten, sind einzelne Kälteextreme der vergangenen Jahre aber kein Widerspruch zum Klimawandel.
Doch, in Grönland wird es wärmer
Weiter behauptet TKP: „Nach einer kurzen, starken Erwärmung von 1994 bis Anfang der 2000er Jahre seien die mittleren jährlichen Landoberflächentemperaturen in Grönland seit etwa 2003 ohne Trend, seit 2012 habe sich das Land abgekühlt“.
Als Beleg für die vermeintliche Abkühlung wird auf eine Studie verlinkt. Doch in der Studie ist davon nichts zu lesen. Sie legt vor allem dar, wie sich Oberflächentemperatur und das Abschmelzen des grönländischen Eisschildes von 2000 bis 2020 entwickelten und zusammenhängen. Hervorgehoben wird dabei unter anderem, dass 2002, 2010, 2012 und 2019 sehr warme Sommer waren, die teils mit einem extremen Abschmelzen des Eisschildes zusammenfielen. Davon, dass sich Grönland seit 2012 abkühle, steht in der Studie nichts.
Die Behauptung, Grönland habe sich seit 2012 abgekühlt, sei „Rosinenpickerei der schlimmsten Sorte“, schreibt uns Ted Scambos, Klimaforscher am Cooperative Institute for Research In Environmental Sciences der Universität Colorado Boulder. 2012 sei ein außergewöhnliches, rekordverdächtig warmes Jahr gewesen, sowohl für das Grönlandeis als auch für das arktische Meereis. „Zu behaupten, der Eisschild habe sich im Vergleich zu einem Rekordjahr abgekühlt, ist irreführend“, schreibt Scambos. Auch Ingo Sasgen, Glaziologe am Alfred-Wegener-Institut, schreibt uns, das Rekordjahr 2012 sei zwar bisher nicht wieder erreicht worden, dennoch sei es im Mittel auch danach in Grönland zu warm.
Grafik des dänischen Polarportals zeigt Oberflächenmassenbilanz des grönländisches Eisschildes
Weiter heißt es bei TKP, der Eisschild auf Grönland wachse langsam. Als Beleg dafür teilt der Blog eine Grafik des dänischen Polarportals vom 31. August 2024. Die Grafik des Portals zeigt die Entwicklung der Oberflächenmassenbilanz des grönländischen Eisschildes – diese nimmt bei Schneefall zu und wird geringer bei Schnee- und Eisschmelze. Abgebildet wird das immer für das sogenannte Bilanzjahr in Gigatonnen. Es beginnt mit dem Eiswachstum im Herbst (September) und reicht bis zum Ende der Eisschmelze im Sommer (August), wie uns Martin Stendel vom Dänischen Meteorologischen Institut erklärt, der das Polarportal koordiniert. Denn: „Das Inlandeis sammelt zehn Monate im Jahr Schnee an und beginnt dann im Juli und August zu schmelzen. Ab Anfang September ist es dann so kalt, dass sich der gesamte Schnee ansammelt.“
In der Grafik werden insgesamt vier Dinge dargestellt:
- Die blaue Kurve zeigt die Oberflächenmassenbilanz für das Bilanzjahr 2023/24.
- Die rote Kurve zeigt die entsprechende Entwicklung für das Bilanzjahr 2011/12, als der Schmelzgrad einen Rekordwert erreichte.
- Die graue Kurve zeichnet den Mittelwert des Zeitraums 1981 bis 2010 nach.
- Der hellgraue Bereich zeigt die Spannbreite über 30 Jahre (im Zeitraum 1981 bis 2010).
Zu erkennen ist, dass die blaue Linie für das Jahr 2023/2024 in etwa mit dem Durchschnitt der Jahre 1981 bis 2010 übereinstimmt. Daraus schlussfolgert TKP, dass das grönländische Inlandeis sich in den letzten zwölf Monaten „völlig normal entwickelt hat, wobei die Massenbilanz an der Oberfläche mit der normalen Rate zunahm“. Beides stimmt nicht.
Für die gesamte Massenbilanz des Eisschildes müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden
Grundsätzlich ist die Oberflächenmassenbilanz unter heutigen klimatischen Bedingungen immer positiv – sprich es fällt mehr Schnee als wegschmilzt, wie Stendel erklärt. Allerdings entspreche der Durchschnitt des Zeitraums 1981 bis 2010 schon einer Phase, in der die Oberflächenmassenbilanz zu gering gewesen sei, schreibt uns Sasgen. Dementsprechend hat sie in der Saison 2023/24 nicht, wie von TKP behauptet, mit der „normalen Rate“ zugenommen. Auch Ted Scambos schreibt uns auf Anfrage, dass der Langzeittrend der Oberflächenmassebilanz „ziemlich stark“ abwärts gehe. Das zeigt auch folgende Grafik von Copernicus von 2019:
Doch etwas Anderes ist noch entscheidender: Neben der Grafik beim Polarportal steht der Hinweis, dass die Massenbilanz an der Oberfläche nicht identisch ist mit der Massenbilanz des gesamten Eisschildes. Letztere umfasst Masse, die verloren geht, wenn Gletscher abkalben, das Schmelzen von Gletscherzungen, wenn sie mit warmem Meerwasser in Berührung kommen, sowie Reibungs- und andere Effekte am Boden des Eisschildes. Stendel schreibt uns, diese Information werde oft ignoriert und die Abbildung damit absichtlich falsch interpretiert. TKP erwähnt diese Information zwar im Blogbeitrag, zieht aber dennoch die falschen Schlüsse aus der Grafik und lässt die Hintergründe zur gesamten Massenbilanz außer Acht.
2023/24 war das 28. Bilanzjahr in Folge mit Verlusten am grönländischen Eisschild
Wie steht es also um die ganze Massenbilanz des grönländischen Eisschildes? Allein ein Blick auf einen der von TKP ausgeblendeten Prozesse macht deutlich, dass der Eisschild kleiner wird: Kalben heißt das Abbrechen von Teilen von ins Meer ragenden Gletschern. Dabei verliere der arktische Eisschild etwa 530 Gigatonnen Masse pro Jahr, schreibt uns Sasgen. Insgesamt betrachtet verliere der grönländische Eisschild eindeutig an Masse.
Das belegt eine Grafik, die uns Stendel per Mail schickt. Für eine ausgeglichene Massenbilanz (rote Linie) müssten die Schneefälle (blaue Linie) groß genug sein, um alle Verluste durch Kalben, Schmelzen (grüne Linie) und Bodeneffekte (gelbe Linie) auszugleichen – das sei aber nicht mehr der Fall, so Stendel.
„In Wirklichkeit war 2023/24 das 28. Jahr in Folge mit Eisverlusten“, so Stendel. In den letzten 23 Jahren habe der Eisschild nach den Modellen des dänischen Polarportals fast 4.800 Milliarden Tonnen an Masse verloren. Das habe zu einem Anstieg des weltweiten Meeresspiegels um fast 1,3 Zentimeter beigetragen.
Eisschilde sowohl in der Antarktis auch als in der Arktis verlieren seit Jahrzehnten an Masse
Anders als TKP behauptet, ist die Grafik im Blogartikel laut allen drei Forschenden kein Beleg dafür, dass der grönländische Eisschild wachse. „Grönland verliert an Masse. Das geschieht schon seit Jahrzehnten. Es ist auf die Erwärmung des Klimas zurückzuführen“, schreibt uns Scambos. Dies sei durch eine Vielzahl von Beweisen und Studien belegt.
Dass die Eisschilde an beiden Polen schrumpfen, belegen auch Satellitendaten der Nasa: Seit 2002 verliert der Eisschild in der Antarktis im Durchschnitt etwa 150 Milliarden Tonnen und der grönländische Eisschild etwa 270 Milliarden Tonnen Eismasse pro Jahr. Eine Grafik der European Space Agency zeigt, wie der Massenverlust an den Polen zum Anstieg des globalen Meeresspiegels beiträgt.
Wir haben den Blog TKP mit den Ergebnissen des Faktenchecks konfrontiert, eine inhaltliche Rückmeldung auf unsere Fragen erhielten wir nicht. Es ist nicht das erste Mal, dass der Blog mit Desinformation auffällt: In der Vergangenheit haben wir bereits mehrere seiner Beiträge im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und des Klimawandels geprüft. Auch der Blog Kettner Edelmetalle verbreitet immer wieder Verschwörungserzählungen und Desinformation.
Fazit: Weder wird es in der Arktis kühler, noch wächst der grönländische Eisschild. 2012 war es in Grönland außergewöhnlich warm, weshalb die Temperaturen in den Folgejahren geringer waren. Im Schnitt ist es aber auch danach in der Region zu warm gewesen. In der Antarktis dagegen gibt es regionale Unterschiede und keinen eindeutigen Trend bei den Temperaturen. Die Grafik des dänischen Polarportals zeigt lediglich die Oberflächenmassenbilanz des Eisschildes in Grönland. Daten zur Gesamtmassenbilanz belegen: An beiden Polen haben die Eisschilde in den vergangenen Jahrzehnten an Masse verloren.
Redigatur: Uschi Jonas, Steffen Kutzner
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck: