Winkel-Theorie für Entstehung der Ziffern ist erfunden - Featured image

Winkel-Theorie für Entstehung der Ziffern ist erfunden

Woher kommt eigentlich die heute bekannte Schreibweise der Ziffern Null bis Neun? Manch einer stellt etwa auf Tiktok die These in den Raum, das liege an der Anzahl der Winkel innerhalb der geschriebenen Zeichen. Demnach habe die Null keinen Winkel, die Eins einen Winkel, die Zwei (wenn sie wie der Buchstabe Z geschrieben wird) zwei Winkel und so weiter. Doch beim ersten Blick auf die entsprechende Grafik sollten bereits Zweifel aufkommen.

Bewertung

Die Hypothese der Zifferngestalt anhand der Winkelanzahl widerspricht allen Erkenntnissen der Zahlengeschichte. Die Schreibweise der Ziffern hat sich über Jahrtausende langsam entwickelt.

Fakten

Zunächst fällt in der Grafik auf, dass alle Ziffern eckig geschrieben sind – bis auf die Null. Doch der Gestaltungslogik zufolge müsste auch diese wie etwa auf dem Display eines Digitalweckers vier Ecken (und damit vier Winkel) haben.

Ähnliche Ungereimtheiten gibt es bei anderen Ziffern: Warum werden der Neun (im Vergleich zur Sechs) drei zusätzliche Striche beigefügt? Warum hat die Sieben neben dem Mittelstrich auch noch eine Serife am Fuß, was nicht der traditionellen Schreibweise entspricht? Warum ist die Acht nicht genauso rund wie die Null?

Zudem hat etwa die Eins nicht nur einen, sondern genau genommen zwei Winkel: einen spitzen innen und einen überstumpfen außen. Ebenso verhält es sich bei allen anderen Ziffern (außer der Null). Hier werden also völlig willkürliche Schreibweisen verwendet, um die aufgestellte Hypothese irgendwie wahr erscheinen zu lassen.

Was ein Mathematikforscher schon vor 40 Jahren dazu sagt

Der französische Mathematikhistoriker Georges Ifrah etwa beschreibt die vermeintliche Ziffern-Herleitung, wie sie aktuell auf Tiktok zu finden ist, bereits in seinem Buch «Universalgeschichte der Zahlen» von 1981 (in der englischen Ausgabe auf S. 356/357): Nach einer verbreiteten Hypothese seien die Ziffern die Erfindung eines Glasmachers und Landvermessers aus dem Maghreb. Dieser soll angeblich auf die Idee gekommen sein, jeder Ziffer eine Form zu geben, wobei die Anzahl der Winkel jeder Ziffer der Zahl entspreche, die sie darstellte.

Ifrah nennt noch weitere, ähnliche Theorien, wonach einzelne Menschen die Ziffern erfunden und gestaltet hätten. Doch keine von ihnen bietet ihm zufolge eine Erklärung dafür, dass die Ziffern im Laufe der Jahrhunderte und in verschiedenen Teilen der Welt in einer immensen Vielfalt an Formen aufgetreten sind. Die Ziffern, wie wir sie heute kennen, stünden vielmehr «am Ende einer sehr langen Geschichte» und hätten sich «über mehrere Jahrtausende hinweg langsam entwickelt», schreibt Ifrah.

Nachträgliche, falsche Hypothesen wie die Geschichte vom Glasmacher sind dem Historiker zufolge das Ergebnis «pseudowissenschaftlicher Fantasien» von Menschen, die sich von Äußerlichkeiten täuschen ließen und voreilige Schlüsse zögen, «die sowohl den historischen Fakten als auch den Ergebnissen epigraphischer und paläographischer Forschungen völlig widersprechen».

Woher die heutigen Ziffern tatsächlich kommen

Unsere heute bekannten Ziffern stammen ursprünglich von indischen Mathematikern. Zu finden sind sie im Bakhshali-Manuskript, der wohl ältesten erhaltenen mathematischen Handschrift Indiens. Dort sind die Ziffern Eins bis Neun dargestellt sowie die Null erstmals (als Punkt geschrieben) nachgewiesen.

Die Araber übernehmen später das Zahlensystem aus diesen zehn Zeichen. Ab dem 10. Jahrhundert werden dann nach und nach in Europa die sogenannten «arabischen Ziffern» (oder auch «indo-arabischen Ziffern») eingeführt. In Deutschland wird mit den Rechenbüchern des sächsischen Mathematikers Adam Ries Anfang des 16. Jahrhunderts die römische Zahlschrift abgelöst.

(Stand: 6.8.2025)

Fact Checker Logo

Wissenschaft

Autor(en): dpa

Ursprünglich hier veröffentlicht.

Nach oben scrollen