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Dieses Auslieferungsschreiben an ukrainische Wehrpflichtige in Irland ist gefälscht

Die ukrainische Armee führt seit Anfang Juni eine Gegenoffensive durch, um die russischen Streitkräfte im Osten und Süden zurückzudrängen. Die Ukraine stößt dabei auf starke Verteidigungslinien – mehr als 18 Monate nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022. In diesem Zusammenhang wird in sozialen Medien behauptet, das irische Justizministerium habe auf Ersuchen der Ukraine ein Schreiben an in Irland lebende ukrainische Staatsangehörige geschickt. Ukrainer werden darin über ihre Auslieferung informiert, um sie dazu zu zwingen, sich den Streitkräften der Ukraine anzuschließen. Den Postings ist ein Foto des Schreibens beigefügt. Dieses ist jedoch gefälscht und stammt nicht von den irischen Behörden. Der Inhalt des Schreibens weist zudem mehrere rechtliche Ungereimtheiten auf, erklärten Fachleute gegenüber AFP.

„Ein ukrainischer Wehrpflichtiger, der sich in Irland in Sicherheit wog, erhielt einen Bescheid über seine anstehende Abschiebung. Im Falle seiner Flucht drohen ihm mindestens ein Jahr Gefängnis, sowohl in der Heimat als auch in Irland“, heißt es in einem Facebook-Posting vom 11. September 2023.

Dem geteilten Beitrag ist das Foto eines Schreibens beigefügt. In dem Dokument vom 7. September 2023, das an einen gewissen „Mr Ihor Doroshenko“ gerichtet ist und den Briefkopf des irischen Justizministeriums trägt, heißt es auf Englisch: „Wir schreiben Ihnen, um Ihnen mitzuteilen, dass das Justizministerium ein Ersuchen der ukrainischen Regierung um Ihre Auslieferung erhalten hat.“

Auf Telegram wurde der Beitrag über 25.000 Mal angesehen. In deutschsprachigen Blogs wurde die Behauptung ebenfalls geteilt (etwa hier). Auch in anderen Sprachen wie Französisch, Englisch, Polnisch oder Tschechisch kursiert die Behauptung.

Facebook-Screenshot der Behauptung: 20. September 2023

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine werden online zahlreiche Falschbehauptungen verbreitet. Faktenchecks zum Krieg in der Ukraine sammelt AFP hier.

Seit Anfang Juni 2023 führt die ukrainische Armee eine langsame Gegenoffensive durch, um die russischen Streitkräfte in den Osten und Süden zurückzudrängen. Das geht aus Medienberichten, etwa auch von AFP, hervor. Die Ukraine steht jedoch starken Verteidigungslinien aus Gräben, Minenfeldern und Panzerfallen gegenüber.

Während die ukrainische Armee zu Beginn des russischen Angriffskriegs noch vom Zustrom kampfwilliger Freiwilliger profitierte, musste im 18. Monat des Kriegs laut ukrainischen Medien – aufgrund der Verluste – vermehrt auf Wehrpflichtige zurückgegriffen werden, wie zahlreiche internationale Medien berichteten (etwa hier und hier). In diesem Zusammenhang gehen ukrainischen Behörden seit dem Sommer verstärkt gegen Männer vor, die sich der Einberufung entziehen wollen. Bereits Anfang August 2023 hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj alle Leiter der für die Rekrutierung zuständigen Regionalbüros entlassen. Er prangerte dabei ein System an, das Wehrpflichtigen die Schleusung außer Landes ermöglicht habe, wie AFP berichtete.

Das aktuell verbreitete Dokument, das angeblich ein Auslieferungsschreiben an ukrainische Staatsangehörige in Irland sein soll, ist jedoch eine Fälschung. Das irische Justizministerium bestritt gegenüber AFP, dieses Schreiben verschickt zu haben, und prangerte eine „betrügerische“ Handlung an. Außerdem stehe das geteilte Dokument weder mit irischem Recht noch mit europäischem Auslieferungsrecht im Einklang, erklärten zwei Expertinnen für Europarecht gegenüber AFP.

Dokument der irischen Behörden ist gefälscht

AFP konnte nicht überprüfen, ob das gefälschte Dokument, dessen Foto in sozialen Medien kursiert, tatsächlich an ukrainische Staatsangehörige in Irland weitergeleitet wurde. Jedenfalls stammt es nicht vom irischen Justizministerium. Dessen Pressestelle bestätigte am 13. September 2023 gegenüber AFP, dass „der Brief nicht vom Justizministerium verschickt wurde“. 

„Falls jemand Zweifel an der Echtheit eines Schreibens hat, das angeblich vom Justizministerium stammt, kann er das Ministerium unter 1800221227 kontaktieren“, fügten die zuständigen Behörden in einer Erklärung (hier archiviert) hinzu.

„Betrügereien dieser Art sind weit verbreitet. Sie können jederzeit auftreten. Am häufigsten werden gefälschte E-Mails, Anrufe oder Textnachrichten verwendet, die vorgeben, von realen Unternehmen und Organisationen zu stammen. Wir fordern alle Personen auf, äußerst vorsichtig zu sein und keine persönlichen Informationen weiterzugeben“, heißt es in dem offiziellen Dokument weiter.

Militärische Straftaten sind vom Auslieferungsübereinkommen ausgenommen

Darüber hinaus lassen mehrere inhaltliche Ungereimtheiten Zweifel an der rechtlichen Glaubwürdigkeit des in sozialen Medien geteilten Briefes aufkommen, wie zwei Expertinnen für Europarecht gegenüber AFP erklärten.

Dem Schreiben zufolge können ukrainische Staatsangehörige in Irland Gegenstand eines Auslieferungsantrags sein, weil sie „in der Ukraine wehrpflichtig sind und der gesetzlichen Verpflichtung zum Dienst in den Streitkräften nicht nachgekommen sind“. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 kündigte der ukrainische Präsident per Dekret die allgemeine Mobilmachung (hier archiviert) von Männern zwischen 27 und 60 Jahren an wobei unter 27-Jährige ab 18 Jahren nur dann mobilisiert werden können, wenn sie ihren Wehrdienst abgeleistet haben.  

Um dieses Argument zu untermauern, verweist das Schreiben auf zwei Rechtstexte: das irische Auslieferungsgesetz von 1965 (hier archiviert) und das Europäische Auslieferungsübereinkommen von 1957 (hier archiviert). 

Diese beiden Rechtsdokumente existieren tatsächlich und sind Bezugsrahmen für Auslieferungsfragen. Das erste betrifft irisches Recht, das zweite gilt für die Mitgliedsstaaten des Europarats (hier archiviert), einer Organisation, der 46 Staaten angehören, darunter die 27 Mitglieder der Europäischen Union. Der Europarat ist eine von der EU getrennte Institution. Seine Aufgabe ist die „Förderung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in Europa und darüber hinaus“.

Diese Texte „sehen jedoch keine Auslieferungsanträge aus Gründen wie ‚Desertion‘ oder ‚Verweigerung des obligatorischen Militärdienstes‘ vor“, erklärte Araceli Turmo (hier archiviert), eine auf Europarecht spezialisierte Dozentin an der französischen Universität Nantes, am 13. September 2023 gegenüber AFP. „Das Europäische Auslieferungsübereinkommen von 1957 erlaubt es nicht, Personen für rein militärische Straftaten auszuliefern. Sie können auf dieser Grundlage nicht die Auslieferung von jemandem beantragen, wenn sein einziger Verstoß gegen eine Regel war, die mit einer militärischen Verpflichtung zusammenhängt“, erläuterte die Expertin.

„Wenn ein Soldat einen Mord begangen hat und seine Auslieferung beantragt wird, schützt ihn die Tatsache, dass er Soldat ist, nicht. Wenn er hingegen eine Straftat begangen hat, die nur im Militärrecht existiert, kann dieses Übereinkommen nicht zur Stellung eines Auslieferungsersuchens herangezogen werden“, fügte sie hinzu.

„Das Europäische Auslieferungsübereinkommen legt in Artikel 4 fest, dass Auslieferungen wegen militärischer Straftaten von seinem Anwendungsbereich ausgeschlossen sind“, sagte Carolyn Moser (hier archiviert), Gastprofessorin für Europarecht an der Universität Sciences Po in Paris, die am 14. September 2023 von AFP kontaktiert wurde:

Artikel 4 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens von 1957, in dem es heißt: „Auf die Auslieferung wegen militärischer strafbarer Handlungen, die keine nach gemeinem Recht strafbaren Handlungen darstellen, ist dieses Übereinkommen nicht anwendbar.“ Screenshot: 22. September 2023

„Wenn die Ukraine tatsächlich wollte, dass ein Land des Europarats ihre Staatsangehörigen zurückschickt, müsste sie ihren Antrag auf eine Straftat stützen“, ergänzte die Expertin.

Dasselbe gilt in Bezug auf irisches Recht. Denn auch in Artikel 4 des Auslieferungsgesetzes von 1965 (hier archiviert) heißt es: „Eine Auslieferung wird nicht für Verstöße gegen das Militärrecht gewährt, die keine Verstöße gegen das gewöhnliche Strafrecht darstellen.“

Artikel 4 des irischen Auslieferungsgesetzes von 1965, in dem es heißt: „Eine Auslieferung wird nicht für Verstöße gegen das Militärrecht gewährt, die keine Verstöße gegen das gewöhnliche Strafrecht darstellen.“ Screenshot: 14. September 2023

Könnte ein bilaterales Abkommen außerhalb dieses rechtlichen Rahmens die Auslieferung ukrainischer Staatsangehöriger an die Ukraine vorsehen? Nicht wirklich, antwortete Carolyn Moser und spitzte zu: „Wenn es ein Rahmenabkommen gibt, können Sie kein bilaterales Abkommen abschließen, das etwas anderes vorsieht. Sonst haben Sie zwei Abkommen, die sich gegenseitig widersprechen.“

Auslieferung aufgrund des Strafrechts

Davyd Arakhamia, Fraktionsvorsitzender der Partei des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, erklärte (hier archiviert) vor einigen Wochen, dass wehrpflichtige Ukrainer, die die Ukraine mit gefälschten Tauglichkeitszeugnissen verlassen haben, an ihr Heimatland ausgeliefert werden könnten. 

„Die Ukraine denkt offenbar darüber nach, andere Länder um die Auslieferung von Männern zu bitten, die noch in dem Alter sind, um den Streitkräften beizutreten“, stellte Carolyn Moser fest, „aber auf der Grundlage von Straftaten“, präzisierte sie, und nicht, wie es in dem gefälschten Brief heißt, weil der Betreffende die Wehrpflicht erfüllen muss.

„Unmittelbar nach der russischen Aggression im Februar 2022 hat die Ukraine Männern zwischen 18 und 60 Jahren verboten, das Land zu verlassen. Es gibt eine große Anzahl von Männern dieser Altersgruppe, die trotz dieses Verbots im Kriegsrecht ausgereist sind. Um die Grenze zu überqueren, mussten sie jedoch nachweisen, dass sie von diesem Verbot oder sogar vom Militärdienst selbst ausgenommen waren. Einige Personen konnten gefälschte Dokumente oder Bescheinigungen vorweisen. Sollte die Ukraine jemals einen Auslieferungsantrag stellen wollen, würde sie sich darauf stützen, das heißt auf ein Vergehen der Bestechung oder Dokumentenfälschung, das die (illegale) Ausreise aus dem ukrainischen Hoheitsgebiet erleichtert“, ergänzte sie. 

Aber selbst wenn sich die Ukraine darauf einlassen würde, „müsste sie eine ausreichende Anzahl von Beweisen sammeln, um zu zeigen, dass die gesuchte Person eine Ordnungswidrigkeit oder sogar ein Verbrechen begangen hat. Beispielsweise müsste dargelegt werden, dass die Person einem Zollbeamten Bestechungsgeld gezahlt hat oder einen Arzt bestochen hat, um ein gefälschtes Attest auszustellen. Diese Tat müsste auch in Irland strafbar sein: Gegenseitigkeit ist in der Regel eine Voraussetzung für eine Auslieferung“, erklärte Carolyn Moser. „Die Ukraine müsste dann für jede Person ein offizielles Ansuchen stellen, das durch eine Beweismappe unterstützt wird. Dann könnten die irischen Behörden beginnen zu handeln“, fügte sie hinzu. 

„In keinem Fall werden im Europäischen Auslieferungsübereinkommen Kollektivauslieferungen erlaubt. Es muss sich um eine Person handeln, die wegen einer von ihr begangenen Tat ins Visier genommen wird. Man kann nicht die Auslieferung einer ganzen Gruppe verlangen“, schränkte auch Araceli Turmo ein. 

Die Frage, ob ukrainische Männer im wehrpflichtigen Alter ausgeliefert werden sollen, „hat auch eine wichtige politische Dimension“, stellte Carolyn Moser fest. „Gerichte müssen sich damit befassen, aber die endgültige Entscheidung, ob ausgeliefert wird oder nicht, wird vom Justizministerium getroffen, das aus politischen Gründen möglicherweise nicht zustimmt. Andererseits wird dies diplomatische Auswirkungen haben.“

Ukrainische Soldaten erweisen dem mit einer Nationalflagge bedeckten Sarg eines verstorbenen ukrainischen Soldaten während seiner Beerdigung in Lwiw (Lemberg) am 1. Juni 2023 die letzte Ehre. – YURIY DYACHYSHYN / AFP

Österreich und Deutschland verwiesen auf Rechtsrahmen

Medienberichten (zum Beispiel hier) zufolge bekundeten Staaten wie Österreich etwa bereits, wehrpflichtige Männer nicht gegen ihren Willen in ihr Heimatland zurückzuführen.

AFP fragte die Behörden in Österreich und Deutschland zu ihrer Position bezüglich der Auslieferung an die Ukraine sei es wegen einer Wehrdienstverweigerung oder aufgrund damit zusammenhängender Straftaten wie der Beschaffung gefälschter Zeugnisse, wie von Arakhamia erwähnt. AFP wollte zudem wissen, ob seit Beginn des russischen Angriffskriegs derartige Ersuchen aus der Ukraine eingegangen seien.

Unter Bezugnahme auf hypothetische Auslieferungsanträge aufgrund der Verletzung der Wehrpflicht verwies eine Sprecherin des österreichischen Justizministeriums auf Artikel 4 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens. Sie schrieb AFP am 21. September 2023: „Auf dieser Grundlage würden die österreichischen Gerichte von diesem Ablehnungsgrund Gebrauch machen. In Österreich sind die Strafgerichte die zuständigen Behörden für die Entscheidung über Auslieferungsersuchen“.

Eine Sprecherin des deutschen Bundesministeriums der Justiz schrieb AFP am 21. September 2023, dass keine Auskunft in Bezug auf bereits erhaltene Auslieferungsersuchen aus der Ukraine erteilt werde: Ich bitte um Verständnis, dass sich das Bundesministerium der Justiz wie in solchen Fällen üblich nicht zu Fragen konkreter Ermittlungs- und Auslieferungsverfahren äußert, um eine mögliche Strafverfolgung und internationale Zusammenarbeit nicht zu gefährden.“

Allgemein führte die Sprecherin jedoch ebenfalls die genannte Bestimmung im Europäischen Auslieferungsübereinkommen an, wonach dieses für militärische Straftaten nicht anwendbar ist. Sie konkretisierte: „‚Militärisch‘ ist eine Straftat, wenn sie ausschließlich in der Verletzung militärischer Pflichten besteht. Darunter könnten Straftaten nach dem Wehrstrafgesetz wie die Fahnenflucht fallen. Ob das im Einzelfall so ist, entscheidet das zuständige Oberlandesgericht.“

Des Weiteren hieß es aus dem Pressereferat des deutschen Ministeriums: „Auch wenn es sich nicht um eine militärische Straftat handelte, wird sich das Oberlandesgericht mit einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes (hier archiviert) auseinandersetzen.“ Nach dieser Entscheidung würde das Grundrecht auf Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe die Unzulässigkeit einer Auslieferung begründen, wenn sie dazu führen würde, dass die verfolgte Person unmittelbar nach Verbüßung der Strafe wegen eines auslieferungsfähigen Deliktes – ohne zuvor das Land verlassen zu können – zum Wehrdienst mit der Waffe herangezogen würde und, falls sie aus Gewissensgründen diesen Dienst verweigert, Bestrafungen zu gewärtigen hat.

Fazit: In sozialen Medien wird fälschlich behauptet, irische Behörden hätten auf Ersuchen der Ukraine ein Schreiben an in Irland lebende ukrainische Staatsangehörige geschickt. Ukrainer werden darin über ihre Auslieferung informiert, um sie dazu zu zwingen, sich den Streitkräften der Ukraine anzuschließen. Das beigefügte Schreiben ist jedoch gefälscht und stammt nicht von den irischen Behörden. Zudem weist es mehrere rechtliche Ungereimtheiten auf.

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Politik, Ukraine

Autor(en): Emilie Beraud / Katharina ZWINS / AFP Österreich / AFP Frankreich

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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