Rentiere erleiden keine Fehlbildungen durch Windräder - Featured image

Rentiere erleiden keine Fehlbildungen durch Windräder

Rentiere meiden Windkraftanlagen. Für Geburtsfehler oder Deformationen bei Kälbern, die ein online weit verbreiteter Leserbrief anführt, gibt es hingegen keine wissenschaftliche Grundlage. Mehrere Expertinnen und Experten bestätigten gegenüber AFP, dass ihnen kein solcher Effekt bekannt sei. Ein Gerichtsbeschluss in Norwegen erfolgte nicht aufgrund solcher Schäden, sondern weil der Bau der Anlagen 151 Windrädern die Rechte indigener Einwohner verletzt hatte.

In einer bayerischen Lokalzeitung berichtet ein Leserbrief von vermeintlich durch Windparks ausgelösten Schäden bei norwegischen Rentieren: „Man hat festgestellt, dass durch die ständigen Vibrationen der Erde die Kälber der Rentiere als Missgeburt beziehungsweise verunstaltet geboren werden.“ In Norwegen würden deswegen 151 Windräder wieder abgebaut werden, heißt es in dem Leserbrief. Darauf aufbauend spricht sich der Autor gegen Windräder im bayerischen Markt Essenbach aus.

Tausende Nutzerinnen und Nutzer verbreiteten die Behauptung der angeblich durch Windräder geschädigten Rentiere in Norwegen auf Facebook (hier, hier, hier) oder X, ehemals Twitter. Auch auf Niederländisch verbreitete sich der Leserbrief.

Erschienen ist der Beitrag auf Seite 47 der „Landshuter Zeitung“ vom 9. Oktober 2023, wie AFP durch eine Rückfrage in der Marktgemeinde Essenbach herausfand.

Screenshot der Behauptung auf Facebook: 11. Dezember 2023

Windenergie ist immer wieder Thema von Falschinformationen. Nutzerinnen und Nutzer haben in der Vergangenheit etwa fälschlich Windkraftanlagen für Trockenheit oder Herzprobleme verantwortlich gemacht. Faktenchecks zum Thema Klima sammelt AFP hier. Auch die aktuell verbreite Behauptung der verunstaltet geborenen Rentierkälber ist falsch.

Streit um Windparks

Das Volk der Samen umfasst rund 100.000 Menschen, die in Schweden, Finnland, Norwegen und Russland leben. Ein Teil von ihnen lebt von der Rentierzucht. Im Oktober 2021 stellte Norwegens oberstes Gericht fest, dass manche Windparks die von der UNO garantierten Rechte der indigenen Bevölkerung zur Ausübung ihrer Kultur der Rentierzucht verletzen. 151 Windräder seien unrechtmäßig gebaut worden. Zahlreiche Medien berichteten darüber (hier, hier, hier), darunter auch AFP.

Im Urteil (hier archiviert) des Gerichts ist zwar von Nachteilen für die Rentiere die Rede, allerdings nicht von Missgeburten. Die Rentiere würden Gebiete der Windparks meiden, heißt es im Urteil.

Auch abgerissen sind die 151 Windkraftanlagen nach wie vor nicht. Am 23. Oktober 2023, zwei Wochen nach dem Erscheinen des Leserbriefs, protestierten samische Aktivisten und internationale Umweltschützerinnen, darunter Greta Thunberg, gegen die Windräder. Sie blockierten die Eingänge mehrere Ministerien in Oslo und forderten den Abriss der Windparks, wie AFP berichtete.

Windturbinen des Windparks Storheia in der norwegischen Gemeinde Afjord im Dezember 2021 – JONATHAN NACKSTRAND / AFP

Keine Rentier-Fehlgeburten

AFP hat bei mehreren Rentierexpertinnen und Experten nachgefragt. Ihnen war kein wie im Leserbrief beschriebener Effekt von „Missgeburten“ und Verformungen bekannt. Rentiere meiden aber Windkraftanlagen.

Jonathan Colman ist außerordentlicher Professor an der Norwegischen Universität für Umwelt- und Biowissenschaften. Auf die Frage, ob Rentierkälber durch konstante Vibration behindert oder verformt zur Welt kommen würden, schrieb er am 5. Dezember 2023: „Das ist sehr unwahrscheinlich. (…) Ich habe noch nie von Vibrationen in der Nähe von Windkraftanlagen in Norwegen gehört. Ich habe auch noch nie von Rentieren gehört, die durch Vibrationen jeglicher Art negativ beeinflusst wurden, auch nicht in Bezug auf die Entwicklung von Föten oder Ähnlichem.“

Dasselbe schrieb auch Eva Schöll vom Institut für Wildbiologie und Jagdwirtschaft an der Universität für Bodenkultur in Wien am 4. Dezember 2023: „Ich kann mir nicht erklären, auf welchen Grundlagen die von Ihnen erwähnte Behauptung in dem mitgeschickten Zeitungsartikel beruht. Mir ist keine wissenschaftliche Literatur bekannt, in der ein solcher Effekt gezeigt wird.“

Patrick Scherhaufer beschäftigt sich am Institut für Wald-, Umwelt- und Ressourcenpolitik an der Wiener Universität für Bodenkultur mit Windkraftprojekten. Er fasste am 1. Dezember 2023 gegenüber AFP zusammen: „Es gibt zur Beeinträchtigung gute Forschung, aber Tötung und Fehlgeburten können darin definitiv nicht nachgewiesen / belegt werden.“

Eigil Reimers ist emeritierter Professor an der Fakultät für Biowissenschaften der Universität Oslo. Am 7. Dezember 2023 schrieb er an AFP: „Wir haben keine Daten, die belegen, dass Rentiere aufgrund von Windkraftanlagen Fehlgeburten oder Entstellungen erlitten haben.“ Er führte weiter aus: „Als Biologe für Wild- und Hausrentiere, der seit mehr als 40 Jahren mit Rentieren arbeitet, bezweifle ich Folgeschäden von Windrädern in Form von Sterblichkeit oder Flucht.“ Sei mit den Windrädern nicht mehr Verkehr oder andere menschliche Störungen verbunden, würden sich die Rentiere in den Jahren nach der Bauzeit wahrscheinlich an die Anlagen anpassen, so Reimers.

Rentierherde bildet ein dichtes Rudel, um am 15. September 2023 durch einen Fjord in Nordnorwegen zu schwimmen – OLIVIER MORIN / AFP

Störung durch Windräder

In der Tat gibt es Diskussionen über die Effekte von Windrädern auf Rentiere, wie auch Sindre Eftestøl von der Fakultät für Biowissenschaften der Universität Oslo schrieb: „In der wissenschaftlichen Gemeinschaft herrscht Uneinigkeit darüber, welche Auswirkungen ein Windkraftpark auf Rentiere haben kann. Soweit ich weiß, geht es dabei um die Frage, wie und in welchem Ausmaß die Bewegungsmuster und die Flächennutzung beeinträchtigt werden und ob die Bewegung der Turbinen selbst diese Auswirkungen verursacht (oder ob sie durch verstärkte menschliche Aktivitäten oder physische Hindernisse durch Straßeneinschnitte und so weiter verursacht wird), und nicht darum, ob Vibrationen zu Fehlgeburten oder Entstellungen führen können.“ Für solche Behauptungen gebe es seines Wissens nach keine veröffentlichten Belege.

Auch Eva Schöll schrieb: „Es gibt einige Studien, die zeigen, dass die Bewegungsmuster von Rentieren im Umkreis (circa ein bis fünf Kilometer) um die Windenergieanlagen beeinflusst waren, das heißt es gab eine Veränderung in der Wahl und Nutzung des ursprünglichen Lebensraumes. Vor allem während der Aufzuchtzeit der Jungtiere im Frühjahr wurden Flächen in Windkraftnähe gemieden.“

Anna Skarin von der Schwedischen Universität für Agrarwissenschaften verwies am 6. Dezember 2023 ebenfalls auf Nachteile von Windrädern: „Wir haben in unseren Studien festgestellt, dass Rentiere Gebiete meiden, in denen sie die Windturbinen sehen (und wahrscheinlich auch hören) können, und Gebiete bevorzugen, in denen die Turbinen nicht zu sehen sind.“ Wenn Rentiere sehr gestresst seien, etwa wenn ein Raubtier sie jage, könnten auch Fehlgeburten passieren. Sie fügte an, dass Windparks auch insofern schädlich sein könnten, als sie in Schweden auf Hügeln und Bergen stehen und diese Standorte für Rentiere besonders wichtig seien.

Sie hielt aber auch fest, dass der Beitrag die Effekte übertreibe und falsch zusammengestellt habe. Windparks seien „schlecht für die Rentierzucht, aber die Informationen, die im Umlauf sind, scheinen wirklich Fake News zu sein.“

Auch mehrere Studien (hier, hier, hier, hier, hier, hier) befassen sich mit den Effekten von Windrädern auf Wildtiere und stellen fest, dass Rentiere die Windräder meiden. Die Auswirkungen sind je nach Jahreszeit unterschiedlich. Von Fehlgeburten durch Vibration ist allerdings keine Rede.

Im Leserbrief ist außerdem von Überprüfungen von Meereswindparks auf Fische die Rede. Mit ähnlichen Behauptungen zu Walstrandungen aufgrund von Offshore-Windparks hat sich AFP bereits hier beschäftigt. Während Lärmverschmutzung auch durch Windparks schädlich für die Tiere ist, konnte kein Zusammenhang zu gestrandeten Walen an der US-Atlantikküste gefunden werden.

Fazit: Das oberste Gericht Norwegens hat im Oktober 2021 entschieden, dass 151 Windräder unrechtmäßig erbaut worden waren. Sie würden die indigene Bevölkerung bei der Ausübung ihrer Kultur behindern. Anders als in einem Leserbrief behauptet, wurde dabei allerdings nicht festgestellt, dass Vibrationen von Windkraftanlagen bei Rentieren zu behinderten Kälbern führen würden. Mehrere Expertinnen und Experten widersprachen den Behauptungen im Leserbrief. Der Bau von Windkraftanlagen kann für Wildtiere aber auch den Verlust von Lebensraum bedeuten.

Fact Checker Logo

Technologie, Gesundheit, Umwelt

Autor(en): Eva WACKENREUTHER / AFP Österreich

Ursprünglich hier veröffentlicht.

Nach oben scrollen