In klimawandelskeptischen Kreisen kursieren immer wieder Falschbehauptungen über Eiszuwachs in Arktis und Antarktis. Online wurde nun ein Artikel hunderttausendfach geteilt, der vermeintlich wissenschaftliche Beweise für eine Zunahme des grönländischen Eisschilds nennt. Zudem wird die Tatsache, dass ein Kreuzfahrtschiff im Juli 2024 zwei grönländische Häfen nicht anlaufen konnte, als Beleg für insgesamt wachsende Eismassen angeführt. Doch wie Fachleute gegenüber AFP bestätigten, schwindet Grönlands Eis seit Jahrzehnten aufgrund des menschengemachten Klimawandels. Im Verlauf eines Jahres kommt es zwar tatsächlich zu wetterbedingten Eiszuwächsen, doch die Jahresbilanz war 2024 zum 28. Mal in Folge negativ.
„Grönlands Eisschild wächst stark an, trotz rotlinksgrüner Klimapanik“, schrieb ein Facebook-Nutzer am 8. September 2024. „Das wachsende Eisschild hat jetzt im Juli zu Hafenausfällen wegen zu hoher Eislage bei Kreuzfahrten geführt“, heißt es in einem weiteren Post. Dazu wurde ein Artikel des Blogs „tkp“ geteilt, worin „Studien und Datensätze des dänischen Polarportals“ als angebliche Beweise für die Aussagen angeführt werden.
Andere Facebook-Beiträge mit identischer Aussage wurden über 3000 Mal geteilt und verlinkten einen weiteren Blogartikel mit gleicher Behauptung. Auch auf X, Telegram und Instagram wurde die Behauptung sowie die Artikellinks vielfach verbreitet.
Die online kursierende Behauptung geht auf einen Artikel zurück, der am 3. September 2024 auf „tkp“ veröffentlicht wurde. Der österreichische Blog fiel in der Vergangenheit bereits mehrfach mit Falschinformationen auf, die AFP widerlegt hat.
Ein beinahe identischer Artikel wurde zudem am 4. September 2024 auf der Website „Kettner Edelmetalle“ veröffentlicht und in sozialen Medien hunderttausendfach geteilt. Auch dieser Blog veröffentlichte in der Vergangenheit Falschinformationen.
AFP hat bereits zahlreiche Falschbehauptungen über Eismassen der Arktis und Antarktis widerlegt. Doch wie Expertinnen und Experten gegenüber AFP bestätigten, hat die Behauptung, Grönlands Eisschild würde wachsen, keinerlei wissenschaftliche Grundlage.
Korrekte Grafik, falsche Schlussfolgerung
„Grönland widersetzt sich dem Narrativ der Erderwärmung nun schon seit Jahrzehnten“, heißt es fälschlich in dem online verbreiteten „tkp“-Artikel. Und: „Seit einigen Jahren schon wächst die Eisbedeckung in Grönland, was sich als unpraktisch für die Klimawandler erweist.“ Als vermeintlicher Beweis für diese Falschbehauptung beinhaltet der Artikel die folgende Grafik mit Wasserzeichen der dänischen Forschungsplattform „Polarportal“:
Hinter „Polarportal“ stehen vier dänischen Forschungseinrichtungen, die aktuelle Erkenntnisse und Forschungsergebnisse über die Arktis und insbesondere über Grönland der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Die beteiligten Institutionen sind das Dänische Meteorologische Institut (DMI), der Nationale Geologische Dienst von Dänemark und Grönland (GEUS), das Institut für Luft- und Raumfahrttechnologie der Technischen Universität Dänemark (DTU) sowie das Institut für Bauingenieurwesen der DTU.
Martin Stendel, Koordinator des „Polarportals“ und leitender Forscher am Dänischen Meteorologischen Institut, bestätigte am 12. September 2024 gegenüber AFP, dass die im Artikel verlinkte Grafik korrekt und auf „Polarportal“ als Teil einer größeren Ansicht mit ausführlicher Legende und Interpretationshilfe abrufbar ist.
Die Grafik zeigt unter der Überschrift „Oberflächenbedingungen“ demnach die sogenannte Oberflächenmassenbilanz des grönländischen Eisschildes von September 2023 bis August 2024, also die Differenz zwischen Schneefall und Schmelzabfluss an der Oberfläche des Eises:
Ein Beleg dafür, dass die Eisbedeckung Grönlands insgesamt wachse, sei diese Grafik jedoch keinesfalls: „Die Oberflächenmassenbilanz ist unter den heutigen klimatischen Bedingungen immer positiv, da nicht der gesamte gefallene Schnee wieder vom Eisschild abfließt“, erklärte Stendel per E-Mail.
Das ist auch explizit mit roten, gefetteten Buchstaben in der Grafiklegende auf „Polarportal“ zu lesen (oben grün umrandet): „Die Oberflächenmassenbilanz ist NICHT identisch mit der GESAMTEN Massenbilanz (das heißt dem Gesamtgewinn oder -verlust der Eiskappe). Die Gesamtmassenbilanz bezieht auch die Masse mit ein, die verloren geht, wenn Gletscher Eisberge abtrennen, wenn Gletscherzungen schmelzen, wenn sie mit warmem Meerwasser in Kontakt kommen, und wenn Reibungs- und andere Effekte an der Unterseite des Eisschildes auftreten.“
Bezüglich der online kursierenden Falschbehauptung schrieb Stendel: „Leider scheinen einige Menschen die Erklärung absichtlich zu ignorieren und interpretieren die Abbildung falsch.“ Als „erstaunlich“ bezeichnete Stendel, dass der „tkp“-Artikel die Grafik sogar korrekt benennen würde, aber dennoch eine völlig falsche Schlussfolgerung daraus zöge: „Ich vermute, dass die Zielgruppe dieses Artikels entweder die Diskrepanz zu den Behauptungen des Autors nicht sieht, oder sie einfach ignoriert.“
Grönländische Eismassen schwinden seit 28 Jahren
Im Gegenteil zur kursierenden Falschbehauptung nimmt der grönländische Eisschild tatsächlich seit nunmehr 28 Jahren in Folge ab. Eine aktuelle grafische Darstellung, die alle Komponenten der Veränderungen miteinbezieht und in farblich unterschiedlichen Graphen aufschlüsselt, stellte Stendel AFP ebenfalls zur Verfügung:
Blau eingezeichnet ist hierbei die Oberflächenmassenbilanz (SMB), die wie bereits erklärt, den Schneefall mit dem Abfluss verrechnet und aufgrund aktueller klimatischer Bedingungen immer positiv ausfällt (nur ein Teil des insgesamt gefallenen Schnees fließt ab). Grün eingezeichnet ist die Meeresmassenbilanz (MMB), die herausbrechende Eisberge und im Kontakt mit dem wärmeren Meerwasser schmelzende Gletscherzungen berechnet und daher immer negativ ist. In Gelb zu sehen ist die Basal-Massenbilanz (BMB), die Eisverluste an der Unterseite des Eisschildes durch Reibung und Bodenwärme betrachtet. Diese Bilanz ist verhältnismäßig gering, aber ebenfalls negativ.
Und Rot eingezeichnet ist die tatsächliche Gesamtmassenbilanz (TMB), die SMB, MMB und BMB miteinander verrechnet und somit anzeigt, ob das grönländische Eisschild wächst oder abnimmt. Das ist die entscheidende Größe, um die Frage „Wie verändert sich der grönländische Eisschild insgesamt?“ zu beantworten. Wie in der Grafik zu sehen ist, war dieser rote Graph in den vergangenen Jahren immer im negativen Bereich. Der grönländische Eisschild nimmt also ab.
Martin Stendel erklärte dazu, für einen gleich groß bleibenden Eisschild müsse „TMB null sein, zumindest über mehrere Jahre gemittelt“. Doch wie anhand des roten Graphs deutlich ist, ist das nicht der Fall: „Tatsächlich war 2023/24 das 28. hydrologische Jahr in Folge mit Eisverlust. Der Schneefall muss groß genug sein, um alle Verluste durch Abfluss, Abbrechen von Eisbergen, Schmelzen und Bodeneffekte auszugleichen – aber das ist nicht mehr der Fall“, führte Stendel aus.
In konkreten Zahlen ergibt sich daraus für die vergangenen Jahrzehnte ein beträchtlicher Verlust: „Das grönländische Eisschild hat seit 2003 etwa 4800 Gigatonnen an Masse verloren, was etwa 1,3 Zentimeter zum globalen Anstieg des Meeresspiegels beigetragen hat“, erklärte Stendel.
Hafenausfälle sagen nichts über längerfristige Eisveränderungen aus
Als weiterer angeblicher Beleg für die Falschbehauptung, die grönländischen Eismassen würden wachsen, heißt es online, dass ein Kreuzfahrtschiff namens MSC Poesia im Juli 2024 aufgrund der „außergewöhnlich starken Eislage“ nicht wie geplant drei grönländische Häfen anfahren konnte.
Auf AFP-Anfrage vom 12. September 2024 bestätigte Dominik Gebhard, Sprecher der Reederei MSC Cruises, zu der MSC Poesia gehört, dass die Route des Kreuzfahrtschiffs im Juli 2024 wegen der Wetterverhältnisse geändert werden musste: „Aus Sicherheitsgründen – Sicherheit hat bei uns stets die oberste Priorität für Gäste und Crew – mussten wir leider drei geplante Anläufe in Grönland während einer Kreuzfahrt absagen, da die Eisverhältnisse in Grönland zu den schlimmsten seit 2011 gehören.“ Lediglich der Besuch im grönländischen Hafen Nuuk sei wie geplant möglich gewesen.
Doch die Eissituation zu einem konkreten Zeitpunkt gibt keine Aussage über generelle Trends und widerlegt auch nicht die Erderwärmung: Laut der Fachpublikation „Earth System Science Data 13“ von 2021 werden Veränderungen des grönländischen Eisschilds mit der sogenannten „Input-Output Methode“ gemessen – im Verlauf eines ganzen Jahres wird also gemessen, wie viel neues Eis dazu kommt und wie viel verschwindet. Im Lauf des Jahres verändert sich der Eisschild mit wechselnden Wetterbedingungen. Niederschläge erhöhen die Masse des Eisschildes, während steigende Temperaturen Eis zum Schmelzen bringen.
Will man jedoch Aussagen über die gesamte Eismenge des grönländischen Eisschilds treffen, dann ist die relevante Größe hierfür, wie oben erklärt, TMB. Hierfür werden SMP, MMB und BMB miteinander verrechnet. Und diese war, wie die Daten des dänischen „Polarportals“ belegen, in den vergangenen 28 Jahren jeweils negativ.
Genauso wenig, wie ein Foto eines regnerischen Tages wissenschaftlich relevante Aussagen über den in einem Jahr gefallenen Niederschlag vermitteln kann, so wenig sagt die Eissituation in einem Hafen zu einem bestimmten Zeitpunkt über die gesamte Eismasse Grönlands aus.
Wissenschaftlicher Konsens über Grönlands Eisschmelze als Folge menschlichen Handelns
Der Weltklimarat IPCC veröffentlicht regelmäßig Berichte, die in der Wissenschaftsgemeinschaft als zuverlässige und anerkannte Quelle für die globale Erwärmung angesehen werden. Im ersten Teil des am 9. August 2021 veröffentlichten sechsten Sachstandsberichts wurde festgehalten, dass die vergangenen vier Jahrzehnte jeweils wärmer waren als jedes vorangegangene Jahrzehnt seit 1850. Im Bericht heißt es: „Es ist eindeutig, dass der Einfluss des Menschen die Atmosphäre, Ozeane und die Landflächen erwärmt hat.“
Jean Jouzel, Klimatologe und ehemaliger Vizepräsident des IPCC, erklärte gegenüber AFP im Rahmen eines anderen Faktenchecks am 23. Mai 2023: „Was Grönland betrifft, ist die jüngste Erwärmung eindeutig und gut dokumentiert.“ Er verwies auf eine Studie, die im Januar 2023 in der Zeitschrift „Nature“ veröffentlicht wurde und die Rekonstruktionen der Temperaturen in Grönland vom Jahr 1000 bis 2011 analysiert hat. Auf der ersten Abbildung ist deutlich zu sehen, dass die gemessenen Temperaturen angestiegen sind.
„Die in unserer Studie berücksichtigte Erwärmung des vergangenen Jahrzehnts übersteigt die vorindustrielle Temperaturvariabilität des vergangenen Jahrtausends“, heißt es in der Studie. Die Forschenden kommen zu dem Schluss, dass der menschliche Einfluss auf die Erwärmung eindeutig an den Schmelzmengen Zentral- und Nordgrönlands nachweisbar ist.
Über den menschengemachten Klimawandel herrscht wissenschaftlicher Konsens, wie in diesem Faktencheck zu lesen ist. Dennoch wird er von klimawandelskeptischen Stimmen in sozialen Netzwerken regelmäßig in Frage gestellt. Auf der AFP-Website sind alle Faktenchecks zum Thema Klima gesammelt.
Fazit: Entgegen online kursierender Behauptungen nimmt der grönländische Eisschild seit 28 Jahren in Folge ab. Grund für die Eisschmelze sind erhöhte Temperaturen wegen des menschenverursachten Klimawandels. Darüber herrscht wissenschaftlicher Konsens.