Nach 46 Sekunden war der Achtelfinal-Boxkampf zwischen der Italienerin Angela Carini und der Algerierin Imane Khelif am 1. August in Paris beendet. Die Italienerin gab nach wenigen Schlägen auf und klagte über starke Schmerzen. Ihr Trainer nannte den Kampf „unfair“. Es folgte eine emotionale Debatte um Zulassungskriterien für internationale Box-Wettbewerbe – und eine Welle an Frauen- und Transfeindlichkeit sowie Desinformation im Netz.
„Männer schlagen Frauen, das ist doch völlig verrückt! […] Die woke Olympiade der Skandale ist eine Schande!“, hieß es auf Facebook und auf Instagram „Männer raus aus dem Frauensport. Die Italienerin Angela Carini verlor gegen einen biologischen Mann“.
Blogs wie die Weltwoche, Nius, Apollo News oder Telepolis stiegen in die Debatte ein, ebenso rechtspopulistische Politikerinnen und Politiker wie die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, der ehemalige US-Präsident Donald Trump oder Prominente wie Elon Musk. Einer Auswertung der Internetanalyse-Firma Peak Metrics zufolge wurden zeitweise zehntausende Beiträge pro Stunde über die Boxerinnen auf X verbreitet, russische Netzwerke sollen die Debatte verstärkt haben, berichtet die Nachrichtenagentur AP.Inzwischen hat Khelif Medienberichtenzufolge eine Klage wegen „Cybermobbings“ beim Pariser Strafgerichtshof eingereicht.
Im Folgenden ordnen wir die Debatte ein und blicken auf einzelne Gerüchte und Falschmeldungen.
Box-Weltverband spricht von „unabhängigen“ Tests, deren Ergebnisse aber nicht öffentlich sind
Hintergrund der Diskussion ist eine Entscheidung vom Weltverband International Boxing Association (IBA). Die IBA hatte Khelif und die taiwanische Boxerin Lin Yu-ting im März 2023 von der Weltmeisterschaft disqualifiziert. Als Grund nannte der Verband die Ergebnisse von zwei „unabhängigen“ Tests von 2022 und 2023, die nachgewiesen hätten, dass Khelif und Yu-ting im Frauenbereich nicht die Teilnahmekriterien des Verbands erfüllten. Die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass zitierte aber den Verbandspräsidenten Umar Kremlew 2023 mit Aussagen, es habe sich um DNA-Tests gehandelt, die XY-Chromosomen nachgewiesen hätten.
Die Entscheidung, Khelif und Yu-ting zu disqualifizieren, sei „nach einer sorgfältigen Prüfung getroffen“ worden, erklärte die IBA in einem erneuten Statement Ende Juli 2024 im Zuge der Olympischen Spiele. Welche Tests genau durchgeführt wurden, wollte der Verband zunächst nicht bekanntgeben. Es seien keine Testosteron-Untersuchungen gewesen, teilte die IBA lediglich mit, sondern ein „separater und anerkannter Test, dessen Einzelheiten vertraulich bleiben“.
Auf einer Pressekonferenz am 5. August 2024 sprach Kremlew wieder mehrfach von Testosteron-Tests (z. B. ab 1:22:00), ein anderer IBA-Vertreter (ab Minute 59:50) davon, männliche Chromosomen seien bei Khelif und Yu-ting nachgewiesen worden. Die Details zu den Tests sind folglich nicht abschließend geklärt.
IOC suspendierte den Box-Weltverband 2019 und nennt Entscheidung über Khelif und Yu-ting „willkürlich“
Für Olympia ist die IBA jedoch nicht zuständig, das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat den Verband 2019 suspendiert. Die IBA rund um ihren Kreml-nahen russischen Verbands-Präsidenten Kremlew und das IOC stehen schon lange im Clinch. Die Suspendierung erfolgte aufgrund von Bedenken bezüglich „Governance, Ethik, Finanzmanagement, Kampfrichterwesen und Wertung“.
Für die Durchführung der Wettbewerbe in Paris war deshalb das IOC selbst zuständig, so war es auch schon 2021 in Tokio. Khelif und Yu-ting waren auch damals angetreten. Anders als bei diesen Olympischen Spiele, wo sowohl Khelif als auch Yu-ting in ihren Gewichtsklassen Gold gewannen, schaffte Khelif es damals nur ins Viertelfinale, Yu-ting wurde neunte.
Laut IOC erfüllten alle teilnehmenden Athletinnen und Athleten die Teilnahme- und Zulassungsbestimmungen des Wettbewerbs, ebenso wie alle geltenden medizinischen Vorschriften der Paris 2024 Boxing Unit. Geschlecht und Alter würden wie auch bei früheren Olympischen Spielen nach ihrem Reisepass gerichtet. Die IBA-Entscheidung bezüglich Khelif und Yu-ting bezeichnete das IOC als „willkürlich“ und nicht ordnungsgemäß.
Falschmeldungen und Gerüchte zu Imane Khelif
Diskussionen über Fairness im Sport und Inklusion gibt es seit Jahren. Die Frage um den Testosteronspiegel und wie der Spitzensport das Frausein definiert, wird immer dann besonders laut gestellt, wenn die betroffenen Sportlerinnen Erfolge erzielen, wie auch die Beispiele der trans Schwimmerin Lia Thomas oder der Mittelstreckenläuferin Caster Semenya zeigen.
Die Debatten werden sehr emotional geführt – so auch im aktuellen Fall von Khelif und Yu-ting. Darunter mischen sich aber auch Falschmeldungen und Gerüchte. Mal werden beide Frauen als Mann bezeichnet, mal als intergeschlechtlich oder transsexuell.
Frauen haben in der Regel zwei X-Chromosomen, Männer ein X- und ein Y-Chromosom. Intergeschlechtliche Personen haben biologische Merkmale von weiblichen und männlichen Körpern, die zum Beispiel durch primäre Geschlechtsmerkmale, aber auch durch Muskelmasse oder Gestalt zum Ausdruck kommen können, wie die Antidiskriminierungsstelle des Bundes erklärt. Das ist zum Beispiel bei der südafrikanischen Läuferin Semenya der Fall. Wie die Vereinten Nationen erklären, werden bis zu 1,7 Prozent der Bevölkerung mit intergeschlechtlichen Merkmalen geboren. Trans Personen, wie etwa die US-Schwimmerin Thomas, identifizieren sich nicht mit dem bei ihrer Geburt zugewiesenen Geschlecht. Thomas unterzog sich einer Hormontherapie zur Geschlechtsangleichung.
Imane Khelif hingegen hat sich nie als trans oder intersexuell bezeichnet, sie hat international immer als Frau gekämpft. Das algerische Olympische Komitee bezeichnete die Angriffe auf Khelif als verleumdend und böswillig; sie beruhten auf Lügen. Und auch IOC-Sprecher Mark Adams sagte Anfang August mehrfach, Khelif und Yu-ting seien als Frauen geboren, als Frauen registriert, lebten als Frau, boxten als Frauen und hätten weibliche Pässe. „Das ist kein Transgender-Fall“.
Mit Aufnahmen älterer Wettkämpfe wird Khelif im Netz diffamiert
In die Diskussionen mischten sich auch alte Bilder von Khelif, die ihr Geschlecht in Frage stellen sollen. Etwa ein Foto von ihr in einem Boxkampf aus 2022. Es wird seit Februar 2024 verbreitet, nimmt jedoch seit dem Boxkampf gegen die Italienerin wieder Fahrt auf und kursiert auf Deutsch, Englisch, Französisch, Japanisch und Arabisch. Das Foto soll zeigen, dass sie einen Penis habe – doch belegen tut das die Aufnahme nicht.
Die Aufnahme entstand im Februar 2022 bei einem Boxturnier in der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Teile des Turnier-Namens „Strandja“ und der weiß-grün-roten Landesflagge von Bulgarien sind im Hintergrund zu erkennen. In der Fotogalerie auf der Homepage vom dritten Tag des Events findet sich das Originalbild. Es zeigt den Moment, in dem die Kampfrichterin das Ergebnis bekannt gibt.
Das ganze Video vom Kampf (ab Minute 15:45) ist öffentlich auf Youtube einsehbar. Darin wird deutlich, dass Khelifs Hose Falten schlug.
Das war auch an anderer Stelle bei ihrer Kontrahentin der Fall.
Möglich ist auch, dass Khelif bei dem Kampf einen sogenannten Tiefschutz trug. Ein anderes älteres Bild von Khelif mit einem solchen Tiefschutz verbreitet sich in diesem Zusammenhang online irreführend als vermeintlicher Beleg dafür, dass Khelif keine Frau sei. In deutschen Beiträgen in Sozialen Netzwerken wird der Tiefschutz als „Hodenschutz“ bezeichnet.
Doch nicht nur Boxer, auch Boxerinnen können einen Tiefschutz beim Boxen tragen, um Verletzungen vorzubeugen. Das ist zum einen auf Seiten für Sportbedarf ersichtlich, zudem sind laut dem Deutschen Boxverband das Tragen von Tiefschutz von Frauen nicht verpflichtend, aber auf freiwilliger Basis möglich.
Zahlreiche Gerüchte über die Boxerin verbreiten sich international
Weitere Falschbehauptungen über Imane Khelif verbreiteten sich international. Es stimmt nicht, dass die italienische Boxerin Angela Carini erneut in Paris boxen durfte, weil ihr Kampf gegen Khelif unfair gewesen sei, wie die Faktencheck-Redaktion Snopes klarstellt. Dass das IOC Khelif nach dem Kampf gegen Carini disqualifizierte, wie im Netz laut USA Today behauptet wird, ist ebenfalls falsch. Es gibt keinerlei Belege, dass sich Tyson je so geäußert hat; sein Management dementiert die Behauptung, wie wir hier berichten.
Khelif und Yu-ting sind nicht die einzigen Olympionikinnen, die Opfer von Hetzkampagnen sind. Die mexikanische Judoka Prisca Awiti Alcaraz wurde im Netz als Mann beschimpft. Julia Monro, Mitglied des Bundesvorstands es Lesben- und Schwulenverbands Deutschland beurteilte die Debatte gegenüber der Tagesschau als „typische Strategie von rechts“, die polarisieren und verunsichern soll. Die Taz urteilt, Olympia zeige, wie tief verwurzelt Vorurteile und Misstrauen gegenüber Frauen im Sport seien. Olympia lasse die Populisten heißdrehen, schreibt der Stern in einem Meinungsstück.
Khelifs Gegnerin im Achtelfinale, die Italienerin Carini, sagte inzwischen, sie bereue es, Khelif direkt nach dem Kampf den Handschlag verweigert zu haben. „Diese ganze Kontroverse macht mich traurig“, sagte Carini. Es tue ihr auch für Khelif leid. „Wenn das IOC gesagt hat, dass sie kämpfen darf, respektiere ich diese Entscheidung.“
Redigatur: Viktor Marinov
Alle Faktenchecks zu Falschbehauptungen und Gerüchten um Olympia 2024 finden Sie hier.
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