Desinformation vor der Europawahl: Bedrohung für unsere Demokratie?

Vom 6. bis 9. Juni 2024 wählen die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union (EU) zum zehnten Mal das Europäische Parlament. Wahlen sind das Kernstück der Demokratie und als solches besonders schützenswert. Im Vorfeld der Europawahl warnen Expertinnen und Experten aus Politik und Gesellschaft vor Desinformation und Manipulationsversuchen, die das Vertrauen in demokratische Prozesse und politische Institutionen untergraben sollen. Wie berechtigt ist diese Sorge? Welche Taktiken hinter diesen Falschinformationen stecken und wie die EU sowie internationale Kooperationen dagegen vorgehen, erläutert Kian Badrnejad, Redakteur im dpa-Faktencheck-Team und Mitglied von GADMO.

Vor der Europawahl wird gerade häufig vor Desinformation und Manipulationsversuchen gewarnt. Zu Recht? Und welche Gefahren müssen Bürgerinnen und Bürger besonders ernst nehmen?  

Kian Badrnejad: Es ist immer sinnvoll und wichtig, aufmerksam zu sein und Informationen im Netz nicht leichtfertig für bare Münze zu nehmen – vor allem, wenn eine vermeintliche Behauptung starke Gefühle wie Wut oder Angst auslöst. Tatsächlich beobachten wir einen Anstieg von Falschbehauptungen, die sich um die Wahl selbst oder um Menschen und Themen drehen, die für die Wahl wichtig sind. Als gigantische Desinfo-Schwemme nehmen wir das nicht wahr, allerdings ist das auch nicht messbar, daher sind solche Einschätzungen schwierig.  

Was genau verstehen wir unter Desinformation? Wo treffen die Menschen darauf?  

Kian Badrnejad: Der Begriff Desinformation beschreibt Falschinformationen, die gezielt verbreitet werden, um zu manipulieren, also Menschen und Debatten oder eben auch Wahlen zu beeinflussen. Ist Desinformation mal in der Welt, wird sie natürlich auch von Menschen weiterverbreitet, die sie nicht als solche erkennen – dahinter steckt dann eher Unwissen als böse Absicht. Desinformation verbreitet sich meistens in sozialen Netzwerken besonders stark, weil der Inhalt auf Emotionen abzielt. Sehr oft lässt sich nicht herausfinden, wer genau eine Behauptung, ein manipuliertes Bild oder Video zum ersten Mal veröffentlicht hat. Desinfo wird dann natürlich nicht nur über Facebook, X, TikTok und andere Netzwerke verbreitet, sondern auch über Gespräche und Chatnachrichten.  

Welche konkreten Taktiken werden dabei eingesetzt? 

Kian Badrnejad: Oft docken Falschnachrichten an echte Ereignisse und Debatten an. Zum Beispiel wird eine Aussage, die jemand wirklich gemacht hat, aus dem Kontext gerissen oder verkürzt. Was wir auch häufig sehen, sind Audio-Deepfakes: Da wird über ein echtes Video eine künstlich erzeugte Tonspur gelegt, mit KI ist das gar nicht mehr kompliziert. Es werden aber auch komplette vermeintliche Nachrichtenseiten nachgebaut, die auf den ersten Blick seriös wirken, aber tatsächlich der Verbreitung von Falschbehauptungen und Propaganda dienen.  

Kannst du Beispiele nennen? Welche konkreten Desinformationskampagnen wurden aufgedeckt? 

Kian Badrnejad: Es gibt zum Beispiel die sogenannte Doppelgänger-Kampagne. Da werden Medienseiten nachgebaut, etwa die des “Spiegel”, und darauf dann Falschnachrichten verbreitet. Auf den ersten Blick sieht das echt aus. Dass es ein Fake ist, erkennt man aber an der URL, also der Webadresse, und bei genauerem Hinsehen auch am Inhalt. Inzwischen gehören zur Doppelgänger-Kampagne auch Promi-Fakes. Da werden Fotos etwa von Til Schweiger oder Till Lindemann mit falschen Zitaten zur Ukraine verbreitet. Bei vermeintlichen Zitaten sollte man vorsichtig sein, wenn keine nachprüfbare Quelle angegeben ist. Kurz vor der Wahl sehen wir aber auch Falschbehauptungen, die fast schon Klassiker sind: Etwa, dass man seinen Stimmzettel unterschreiben müsse, oder dass das Loch zur Orientierung für Sehbehinderte Stimmzettel ungültig mache. Stimmt beides nicht.  

Welche Auswirkungen können solche Desinformationskampagnen konkret auf die Europawahl 2024 haben? 

Kian Badrnejad: Je nach Stoßrichtung kann Desinformation Menschen dazu bringen, gar nicht erst wählen zu gehen, oder eine andere Partei zu wählen. Sie kann aber auch allgemein das Vertrauen in Institutionen erschüttern oder Debatten vergiften, weil nicht mehr auf Grundlage von Fakten diskutiert wird. Das vertieft Gräben in der Gesellschaft und wirkt langfristiger. Es gibt immer wieder auch Hinweise darauf, dass Desinformation nicht so sehr in der Breite wirkt, sondern eher auf bestimmte Gruppen. Dass sie gelesen, verbreitet und geglaubt wird, können wir jedenfalls jeden Tag in den sozialen Netzwerken sehen.   

Was unternimmt die EU, um dieser Bedrohung entgegenzuwirken? 

Kian Badrnejad: Die EU unterstützt Projekte gegen Desinformation. Dazu gehört das Netzwerk European Digital Media Observatory, kurz EDMO, mit regionalen Hubs – wir als dpa-Faktencheck sind Mitglied im deutsch-österreichischen Ableger GADMO. Wichtig ist, dass wir trotz der Förderung unabhängig in unserer Arbeit sind. Es gibt eine EDMO-Taskforce für die Europawahl, dort erstellen wir zum Beispiel Analysen und Newsletter und bauen eine Experten-Liste auf. Ein anderes Beispiel: Im Projekt EUvsDisinfo arbeiten Fachleute, die zum diplomatischen Dienst der EU gehören. Mit dem Digital Services Act oder DSA verpflichtet die EU die großen digitalen Plattformen außerdem auf bestimmte Regeln, die auch den Kampf gegen Desinformation voranbringen. Dort ist festgelegt, dass Plattformen Verantwortung übernehmen müssen für die Inhalte, die man dort findet – und über die sie viel Geld verdienen.   

Was konkret bringt die europaweite Zusammenarbeit? Welche Erkenntnisse könnt ihr gewinnen?  

Kian Badrnejad: Desinformation kann sich auf regionale Themen beziehen, aber meistens kennt sie keine Grenzen. Falschbehauptungen zum Beispiel aus Polen erreichen oft auch Deutschland, Frankreich oder Spanien. Deswegen ist die internationale Zusammenarbeit sehr wertvoll und ermöglicht es, schneller zu reagieren. Wir können international viel voneinander lernen. Trotzdem bleibt es wichtig, dass Faktencheck-Organisationen unabhängig voneinander arbeiten und Behauptungen selbstständig prüfen.   

Was können Bürgerinnen und Bürger selbst tun, um sich vor Desinformation zu schützen? 

Kian: Misstrauen ist oft angesagt, wenn eine Behauptung richtig wütend macht oder Angst macht oder andere starke Gefühle weckt. Wer auf etwas stößt, das irgendwie seltsam wirkt, kommt meistens schon mit wenigen Fragen ziemlich weit: Wer behauptet oder verbreitet das? Wird eine nachprüfbare Quelle genannt? Und was sagen andere dazu – zum Beispiel Medien oder auch Faktencheck-Organisationen? Das lässt sich meistens sogar unterwegs am Smartphone schon checken. Wer Spaß am Recherchieren hat, kann auch mal selbst Techniken wie die Bilder-Rückwärtssuche ausprobieren, um rauszufinden, was ein Foto zeigt oder woher es kommt.  

Vielen Dank für das Gespräch! 

 

Das Interview wurde zuerst am 4. Juni 2024 im dpa-Innovationsblog veröffentlicht.

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