Bei der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) im Februar 2025 kritisierte US-Vizepräsident JD Vance die EU-Politik. Der scheidende MSC-Vorsitzende Christoph Heusgen kommentierte Vances Rede in seinen Abschlussworten. Dem Diplomaten kamen bei seinen Schlussbemerkungen die Tränen. Ein bearbeiteter Clip von Heusgen wird seitdem mit der irreführenden Behauptung verbreitet, Vance habe „den Vorsitzenden zum Weinen gebracht“. Das vollständige Filmmaterial zeigt jedoch, dass mehrere Minuten zwischen den Vorkomnissen liegen. Heusgen selbst sagte gegenüber AFP, er sei emotional geworden, weil es seine Abschiedsrede war.
Am 16. Februar 2025 wurde die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) mit einem emotionalen Schlusswort des scheidenden Vorsitzenden Christoph Heusgen beendet. Ein kurzer Videoclip von Heusgens Rede kursiert seitdem in sozialen Medien: „Heusgen heult wie ein Schloßhund auf offener Bühne in München. Grund: die Rede von JD Vance“, schrieb etwa ein X-Nutzer am 17. Februar 2025 und teilte eine rund 50-sekündige Videosequenz.
Auch auf Facebook, Telegram und Instagram wurde die Sequenz vielfach geteilt. Derselbe Clip mit ähnlichen Behauptungen wurde zudem in mehreren Sprachen verbreitet, darunter Englisch, Französisch, Griechisch und Ungarisch.
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Die 61. Münchner Sicherheitskonferenz fand von 14. bis 16. Februar 2025 in München statt. Laut Website handelt es sich dabei um „das weltweit führende Forum für Debatten zu internationaler Sicherheitspolitik“. Über 450 politische Entscheidungsträger, Expertinnen und Experten aus aller Welt kamen dabei zusammen, um drängende geopolitische Herausforderungen zu diskutieren. Den Vorsitz über die Konferenz hatte der deutsche Diplomat Christoph Heusgen. Drei Jahre lang fungierte Heusgen in dieser Rolle, zuvor war er unter anderem deutscher UN-Botschafter und Berater der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Einer der Redner bei der Konferenz war US-Vizepräsident JD Vance. In seiner Beitrag übte Vance scharfe Kritik an der EU-Politik und prangerte angebliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit und Demokratie in der EU an. Damit wiederholte er Aussagen von US-Präsident Donald Trump, den er als Washingtons „neuen Sheriff in der Stadt“ bezeichnete. Die Rede wurde von führenden europäischen Politikern kritisch aufgefasst. Äußerungen von Vance zugunsten der in Teilen rechtsextremen AfD wies Bundeskanzler Olaf Scholz scharf zurück: Deutschland werde es nicht akzeptieren, dass sich „Außenstehende zugunsten dieser Partei in unsere Demokratie, in unsere Wahlen, in die demokratische Meinungsbildung eingreifen“.
Auch der scheidende MSC-Vorsitzende Heusgen ging in seinen Abschlussworten auf die Rede von Vance ein. Doch wie AFP belegen konnte, hatten emotionale Momente zum Abschluss von Heusgens Rede keinen direkten Zusammenhang mit den Worten des US-Vize.
Videoclip wurde von irischem Sender veröffentlicht
Der online kursierende rund 50-sekündige Clip zeigt Heusgen an einem MSC-Rednerpult stehend: „Nach der Rede von Vizepräsident Vance am Freitag müssen wir befürchten, dass unsere gemeinsame Wertebasis nicht mehr so vereint ist. Ich bin allen europäischen Politikerinnen und Politikern sehr dankbar, die sich zu Wort gemeldet und die Werte und Grundsätze, für die sie eintreten, bekräftigt haben. Niemand hat dies besser getan als Präsident Selenskyj“, sagt Heusgen darin auf Englisch. In Minute 0:27 wechselt der Kamerawinkel, Heusgen fährt fort: „Lassen Sie mich zum Schluss kommen, und das wird schwierig …“, woraufhin seine Stimme bricht und er sich scheinbar ergriffen an die Stirn greift. Daraufhin verlässt Heusgen unter lautem Beifall des Publikums die Bühne und umarmt eine Frau in der Menge. Das Video ist mit dem Logo „RTÉ News“ gekennzeichnet.
Mit einer erweiterten Websuche konnte AFP den Clip auf der Instagram-Seite von Raidió Teilifís Éireann (RTÉ) ausfindig machen, dem irischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk. In dem Instagram-Post von RTÉ heißt es, Heusgen habe beim Abschluss der MSC ein paar Tränen vergossen, „kurz nachdem“ er den europäischen Staats- und Regierungschefs dafür gedankt hatte, dass sie sich gegen Vances Rede ausgesprochen hatten.
Auf der RTÉ-Website wurde das identische Filmmaterial ebenfalls veröffentlicht. Im dazugehörigen Artikel steht, dass „ein emotionaler Christoph Heusgen“ die Konferenz beendete. Heusgens Emotionen werden darin nicht direkt mit dem Vance-Teil der Rede in Verbindung gebracht. Das Video ist jedoch so geschnitten, dass es einen irreführenden Eindruck von der Abfolge der Ereignisse vermittelt: Es beginnt mit einer Szene vom Ende der Rede Heusgens, in der er sich in einem Moment der Rührung an die Augen greift, und wechselt dann zu seinen Ausführungen über JD Vance, gefolgt von einem weiteren Sprung zum Ende der Rede, als Heusgens Stimme bricht und er unter Tränen von der Bühne geht.
Ein weiterer bearbeiteter und etwas längerer Ausschnitt der Rede wurde auf der Youtube-Seite der pakistanischen Medienagentur The Express Tribune veröffentlicht. Dieser Clip beginnt nicht mit der Szene, in der Heusgen sich das Auge reibt, ist aber ansonsten auf die gleiche irreführende Weise geschnitten. Die deutschsprachige Website der russischen staatlichen Medienagentur Pravda verwies in einem Artikel über Heusgens Rede ebenfalls auf den Clip der Express Tribune. Pravda fiel bereits mehrfach durch Falschinformationen auf, die AFP überprüft hat.
Rede wurde irreführend zusammengeschnitten
In vielen der online kursierenden Beiträgen wird behauptet, Heusgens Tränen seien eine direkte Reaktion auf die Rede von JD Vance gewesen.
Heusgens vollständige, knapp sechsminütige Rede ist in einem Video auf der MSC-Website sowie in einem Livestream des deutschen Senders Deutsche Welle abrufbar. Diese Aufnahmen zeigen, dass Heusgen in dem Teil der Rede, in dem Vance erwähnt wird, keine starken Emotionen zeigte. Zwischen der Erwähnung von Vance und dem tränenreichen Ende der Rede wurden mehrere Minuten herausgeschnitten. Dies erweckt in sozialen Medien den falschen Eindruck, dass die beiden Szenen unmittelbar aufeinander folgten.
Im vollständigen Video auf der MSC-Website erwähnt Heusgen JD Vance bei Minute 1:04. Die in sozialen Medien verbreitete Version verwendet denselben Teil der Rede bis Minute 1:25, als Heusgen den ukrainischen Präsidenten Selenskyj erwähnt. An dieser Stelle schneidet der irreführende Clip auf Minute 5:43 des Originalvideos, wo Heusgen emotional wird und die Rede beendet. Die Anfangsszene des online kursierenden Clips, in der sich Heusgen die Augen reibt, findet tatsächlich erst bei Minute 5:52 statt.
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In den herausgeschnittenen viereinhalb Minuten spricht Heusgen über die Reaktionen der EU-Staats- und Regierungschefs auf neue Entwicklungen in der Ukraine sowie die US-Außenpolitik. Er weist auch darauf hin, dass es bei der Konferenz nicht nur um die transatlantischen Beziehungen gehe und dass auch Redner und Rednerinnen aus Afrika, Asien und Südamerika anwesend waren. Heusgen betonte, dass „eine breite Palette“ globaler Herausforderungen und Konflikte diskutiert wurde, darunter die Situation im Sudan, in der Demokratischen Republik Kongo und in Haiti. Abschließend unterstreicht er wie wichtig es sei, die UN-Charta und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu respektieren.
Erst danach kommt die abschließende emotionale Szene, die in den online kursierenden Clips gezeigt wird.
Abschlusskonferenz als MSC-Vorsitzender
Das Organisationsteam der MSC und Heusgen selbst reagierten auf die irreführenden Social-Media-Beiträge und wiesen den Vorwurf zurück, Vances Äußerungen hätten den Vorsitzenden zum Weinen gebracht.
Das MSC-Presseteam teilte AFP am 17. Februar 2025 per E-Mail mit, dass „Herr Heusgen am Sonntag nach drei Jahren von seinem Amt als Vorsitzender der MSC zurückgetreten ist“ und dass bei dieser Gelegenheit „das gesamte Team, viele langjährige Teilnehmer und Freunde der Konferenz ihm Lebewohl gesagt haben. Aus diesem Grund vergoss er am Ende seiner Rede ein paar Tränen“. Das MSC-Presseteam fügte hinzu, dass „das Video, auf das im Internet oft Bezug genommen wird, bearbeitet wurde und irreführend ist“.
Eine ähnliche Antwort wurde auf dem offiziellen X-Profil der MSC veröffentlicht: Darin steht, Heusgen habe „keine Tränen der ‚Frustration‘ vergossen“. Dazu wurde ein Link zur vollständigen Rede geteilt.
In der E-Mail an AFP fügte die MSC-Pressestelle eine Erklärung von Heusgen selbst an, in der es heißt: „Ich war wirklich gerührt von dem herzlichen Abschied, den das gesamte MSC-Team und so viele Freunde mir nach meiner letzten MSC als Vorsitzender bereitet haben. Es war ein sehr emotionaler Moment auf der Bühne am Ende meiner Amtszeit. Im Internet kursiert ein Video, das diese Szene meines Abschieds aus dem Zusammenhang reißt. Leider zeigt dies einmal mehr, wie die Mechanismen der Desinformation funktionieren.“ Heusgen veröffentlichte dieselbe Antwort auf seinem X-Profil (hier archiviert).
Mit Abschluss der 61. MSC übergab Heusgen das Amt des MSC-Vorsitzenden an seinen Nachfolger Jens Stoltenberg, ehemaliger Nato-Generalsekretär und derzeitiger Finanzminister Norwegens.
Fazit: Entgegen online kursierender Behauptungen löste eine Rede von US-Vizepräsident JD Vance keine Tränen beim ehemaligen MSC-Vorsitzenden Christoph Heusgen aus. Ein Videoclip von Heusgens Rede wurde irreführend bearbeitet, wodurch eine emotionale Abschiedsszene aus ihrem eigentlichen Kontext gerissen wurden. Das zeigen vollständige Aufzeichnungen der Rede, sowie ein Statement von Heusgen selbst.