Im Sommer 2025 wurde berichtet, in Hamburg hätten muslimische Schülerinnen und Schüler ihre Klassenkameradinnen und -kameraden diskriminiert. Ein Nachrichtenbeitrag über diese Vorfälle wurde im Oktober 2025 aus dem Kontext gerissen. Es wurde fälschlicherweise behauptet, Musikunterricht sei an öffentlichen Schulen der Hansestadt nicht mehr gestattet, da Musik im Islam verboten sei. Ein solches Verbot wird im Bericht jedoch nicht erwähnt. Die zuständige Behörde dementierte die Behauptung. Fachleute erklärten zudem, dass Musliminnen und Muslime sehr wohl Musik machen dürfen.
„In Hamburg sind Musikstunden (Gesang, Klavier, Gitarre) an öffentlichen Schulen nicht mehr erlaubt, da Musik im Islam als ‚haram‘ gilt und das Aufzwingen von Musik an muslimische Schüler als Islamophobie betrachtet wird“, heißt es in einem Telegram-Beitrag vom 1. Oktober 2025. Darin wurde ein Video verbreitet, in dem ein Nachrichtensprecher über Diskriminierung durch muslimische Schülerinnen und Schüler in Hamburg spricht und berichtet, dass einige nicht am Musikunterricht teilnehmen würden, weil dieser „haram“, also dem islamischen Glauben zufolge verboten, ist.
Das Video wurde auch von dem staatlich unterstützten russischen Medium „Pravda“ sowie auf Facebook und X verbreitet. In einigen Beiträgen ist das Video mit französischen Untertiteln und einem Logo eines Segelschiffes und dem Schriftzug „Nouvelle France“ versehen. Dieses Logo wird von dem französischen Telegram-Kanal „La Nouvelle France“ (zu Deutsch: „Das neue Frankreich“) verwendet. Die Behauptung wurde demnach auch auf Französisch, aber auch auf Sprachen wie Niederländisch,Portugiesisch, Russisch und Slowakisch geteilt.

In dem Video geht es jedoch nicht darum, dass Musikunterricht an Hamburger Schulen aus religiösen Gründen abgeschafft worden sei.
33 Sekunden umfasst das Video in den Beiträgen. Darin geht es um Einzelfälle von Diskriminierung und Übergriffen an Hamburger Schulen. „So würden vereinzelt deutsche Mädchen attackiert, sie gehören hier nicht her, andere würden nicht am Musikunterricht teilnehmen, weil dieser ‚haram‘ sei“, berichtet ein Nachrichtensprecher. Darauf reagiere nun die Hamburger Schulsenatorin „zusammen mit christlichen, jüdischen und muslimischen Religionsverbänden“.
Nachrichtenbeitrag beinhaltet kein Verbot
Eine umgekehrte Bild- sowie eine Stichwortsuche führten zu einem Video des Nachrichtensenders Welt TV vom 25. Juni 2025 mit der Überschrift „Musikunterricht kann nicht stattfinden, weil man im Islam nicht singt“. Einige der online geteilten Beiträge zitieren nur diese Überschrift, ohne zu behaupten, der Musikunterricht sei abgeschafft worden.
Das Video aus den Beiträgen ist identisch mit den ersten 33 Sekunden des Nachrichtenbeitrags von Welt TV. Zwar sind in dem verbreiteten Video die Lippenbewegungen des Moderators und der Ton nicht synchron, jedoch stimmen sowohl die Bilder als auch das Gesagte mit dem Original überein.
Der gesamte Nachrichtenbeitrag ist 3:35 Minuten lang. Nachdem der Nachrichtensprecher darin das Thema erläutert, berichtet eine Reporterin aus Hamburg über die aktuellen Entwicklungen und eine gemeinsame Erklärung der Hamburger Schulsenatorin Ksenija Bekeris und Vertreterinnen und Vertretern der christlichen, jüdischen, alevitischen und muslimischen Gemeinden. Darin sprachen sich die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner am 18. Juni 2025 für ein respektvolles Zusammenleben aus und erklärten, an Hamburger Bildungseinrichtungen sei „kein Platz für Übergriffe und Diskriminierung jeglicher Art“.
Im Nachrichtenbeitrag folgt schließlich ein Interview mit dem Bürgerschaftsabgeordneten Sandro Kappe (CDU), der von konkreten Vorfällen an Schulen in Hamburg berichtet, darunter die Weigerung einzelner Schülerinnen und Schüler, am Musikunterricht teilzunehmen. Auch andere Medien berichteten über solche Vorfälle im Sommer 2025.
„Absolute ‚Fake News'“
Die Behörde für Schule, Familie und Berufsbildung, der die Schulsenatorin Ksenija Bekeris (SPD) vorsteht, widersprach auf AFP-Anfrage der Behauptung, der Musikunterricht an öffentlichen Schulen in Hamburg sei abgeschafft worden. „Das sind absolute ‚Fake News‘, da ist rein gar nichts dran“, erklärte Pressesprecher Peter Albrecht am 13. Oktober 2025.
„Der Musikunterricht wurde und wird genauso durchgeführt, wie es die Bildungspläne vorsehen.“ Änderungen daran seien nicht geplant. Auch seien der Schulbehörde keine „Vorfälle aus dem Musikunterricht bekannt“, erklärte Albrecht. AFP schaute sich die Bildungspläne näher an und fand kein derartiges Verbot darin. Die Bildungsbehörde führt Musik in den Bildungsplänen eindeutig als zu unterrichtendes Fach an Schulen auf. Eine Stichwortsuche zu einem Verbot von Musikunterricht an Hamburger Schulen führte ebenfalls zu keinem Ergebnis.
Koran warnt vor Ablenkung, nicht vor Musik
Yasemin Gökpınar vom Institut für Arabistik und Islamwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum ist Expertin für Musik im Islam. Ihr zufolge ist die Bewertung von Musik im Islam aus theologischer Sicht nicht ganz eindeutig. „Im Hadith, den überlieferten Berichten zu den Aussagen und dem Verhalten Muḥammads“ gebe es „sowohl positive als auch negative Urteile zur Musik“, erklärte sie auf AFP-Anfrage am 15. Oktober 2025.
„Der Koran als maßgebliche Quelle für religiöse Fragen in allen islamischen Konfessionen“ sei da eindeutiger. Denn: „Es gibt nämlich keine Erwähnung von ‚Musik'“ im Koran, erläuterte Gökpınar. „Als Grundlage für theologische Diskussionen dienen Bedeutungsgruppen um das Wort lahw, ‚Ablenkung, Zeitvertreib‘.“ Die Koranstellen mit diesem Wort würden zeigen, „dass Musik in solchen Kontexten missbilligt wurde, in denen weitere geächtete oder verbotene Handlungen vollzogen wurden, wie Spiel (um Geld), Prostitution, Alkoholgelage, und daher eine ‚Ablenkung‘ von Gottesdienst, Gebet und dem Glauben an Gott insgesamt stattfand“.
Gökpınar führte einen Koranvers an, in dem Kinder und Geld in Verbindung mit Ablenkung genannt werden. „Da es bis heute sowohl Wirtschaft als auch Nachwuchs in der islamischen Welt gibt, kann es hier nicht um ein Verbot gehen, sondern nur um eine Warnung, dass man sich nicht durch etwas von den religiösen Pflichten im Islam ablenken lassen möge“, schloss sie daraus. „Aus islamwissenschaftlicher Sicht lässt sich die Rede vom sogenannten Musikverbot im Islam nicht halten.“
Musik wird in muslimischen Ländern gelehrt
Ali Ghandour sieht allgemeine Aussagen zu Musik im Islam zudem als „eine verkürzende und irreführende Darstellung, die eher ideologische Narrative bedient als der theologischen und kulturellen Realität gerecht zu werden“. Denn es gebe „vielfältige theologische Diskurse und gesellschaftliche Praktiken“ innerhalb der Religion, erklärte der Professor für Islamische Theologie an der Universität Hamburg auf AFP-Anfrage am 15. Oktober 2025.
Die Debatten um die Stellung von Musik seien „immer Randdiskurse innerhalb der Rechtsliteratur“ gewesen, „während die gesellschaftliche Praxis eine ganz andere Sprache sprach: In nahezu allen muslimisch geprägten Regionen entwickelte sich eine reiche und vielfältige Musikkultur.“ Sowohl beim Ausüben ihrer Religion als auch im Alltag vieler Musliminnen und Muslime sei Musik ein wichtiger Bestandteil. „In dieser Hinsicht gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen.“
Musik würde „auch in allen mehrheitlich muslimischen Ländern gelehrt“, erklärte Ghandour weiter. „Abgesehen von extremen Erscheinungen, wie etwa den Taliban in Afghanistan, ist mir kein muslimisches Land bekannt, in dem man keine Möglichkeit hätte, Musik zu lernen, sei es in Schulen oder außerhalb.“ Wer von einem grundsätzlichen Musikverbot für Musliminnen und Muslime spreche, „ignoriert die Vielfalt der theologischen Diskurse und Positionen ebenso wie die reiche und bunte muslimische Praxis, sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart“.
Fazit: Ein online geteilter Bericht des Nachrichtensenders Welt TV thematisiert Mobbing durch muslimische Schülerinnen und Schüler an Hamburger Schulen, jedoch keine Abschaffung des Musikunterrichts wegen des Islam. Zudem dementierte die Behörde für Schule, Familie und Berufsbildung die Behauptung und Fachleute erläuterten, ein generelles Musikverbot existiere für Musliminnen und Muslime nicht.
