Nein, dieser beschmierte Panzer steht nicht aktuell in Berlin, das Foto stammt aus der DDR - Featured image

Nein, dieser beschmierte Panzer steht nicht aktuell in Berlin, das Foto stammt aus der DDR

Ein Foto aus der DDR aus dem Jahr 1988, kursiert auf Facebook: Es zeigt einen sowjetischen Panzer in Schwerin, der mit systemkritischen Parolen beschmiert wurde. In dem sozialen Netzwerk wird das Foto mit der falschen Behauptung verbreitet, jemand habe in Berlin vor kurzem auf einen russischen Panzer „Befreit uns nochmal“ geschrieben. Serbischsprachige Userinnen und User gehen fälschlicherweise davon aus, dass es sich bei der Botschaft um einen echten, aktuellen Aufruf an Russland handele. Aus den Schweriner Archiven und dem Buch, in dem das Foto 1999 veröffentlicht wurde, geht jedoch hervor, dass zwei Männer, die vor dem Mauerfall bei Demonstrationen gegen das DDR-Regime aktiv waren, die Parolen als Protestaktion auf den Panzer malten.

Ein serbischsprachiger Facebook-Post mit einem schwarz-weißen Foto wurde innerhalb einer Woche knapp 300 Mal geteilt. Das Foto zeigt einen sowjetischen Panzer mit der Aufschrift „Befreit uns nochmal“, darüber steht „Zossen am Russendenkmal“.

Die Behauptung: In dem Post, der am 1. November 2022 veröffentlicht wurde, steht auf Serbisch in der Beschreibung, dass es sich um einen „Panzer in Berlin“ handele. „Sie haben geschrieben: ‚Kommt und befreit uns nochmal'“, heißt es da. Weil eine weitere kontextuelle Einordnung fehlt, fassten Nutzerinnen und Nutzer in den Kommentaren die Botschaft als echten und aktuellen Aufruf der Deutschen an Russland auf. Einige Userinnen und User schienen sogar zu glauben, dass das Foto kürzlich entstanden sei. „Berlin fordert die Russen auf, sie wieder zu befreien“, heißt es in einem Beitrag, in dem das Bild geteilt wird.

Screenshot der Behauptung auf Facebook: 7. November 2022

Russland führt derzeit Krieg gegen die Ukraine, nachdem es das Land im Februar 2022 unter dem Vorwand der „Befreiung“ vom angeblich vorherrschenden Nationalsozialismus überfallen hatte. Faktenchecks im Kontexts des Kriegs in der Ukraine sammelt AFP hier.

Das Foto wurde hingegen über 200 Kilometer von Berlin entfernt 1988 in Schwerin aufgenommen. Die US-Armee befreite Schwerin 1945 Die Parolen hatten Aktivisten als Protest gegen das DDR-Regime gemalt, wie das Stadtarchiv und das Buch von 1999, in dem das Foto abgedruckt ist, belegen.

Eine Protestaktion in der DDR im Jahr 1988

Eine umgekehrte Bildersuche mit der Suchmaschine Tineye ergab, dass das Foto online seit mindestens 2014 auf russischen Foren und Websites kursiert. Eine weitere Suche über die russische Suchmaschine Yandex führte zu dem gleichen Bild in hoher Qualität und der Aussage, es sei in Schwerin und nicht in Berlin aufgenommen worden.

Weiterhin führte eine Stichwortsuche mit den Worten „Panzer“, „befreit uns nochmal“ und „Schwerin“ zu einem Post des Stadtarchivs Schwerin, veröffentlicht auf Facebook am 7. Mai 2015. Der Post zeigt Fotos eines Panzers, der demjenigen im irreführenden Facebook-Post ähnelt.

Screenshot des irreführenden Facebook-Posts (links) und Screenshot des Posts des Stadtarchivs Schwerin vom 7. Mai 2015 (rechts), erstellt am 7. November 2022.

Jens-Uwe Rost vom Stadtarchiv Schwerin bestätigte in einer E-Mail an AFP am 7. November 2022, dass der irreführende Facebook-Post und der Beitrag der Stadt auf Facebook „den selben Panzer“ zeigen. Laut Aufzeichnungen wurde das vom Stadtarchiv veröffentlichte Foto im Jahr 1975 aufgenommen.

„Das Panzerfoto mit der Aufschrift ‚Befreit uns nochmal‘ findet man im Buch ‚Erinnerungen für die Zukunft. Geschichten und Geschichte aus dem Norden der DDR‘ von Ernst-Jürgen Walberg und Thomas Balzer“, sagte Rost gegenüber AFP. Das Buch wurde 1999 vom Norddeutschen Rundfunk herausgegeben. Von Rost übermittelte Scans bestätigen, dass der irreführende Beitrag auf Facebook dasselbe Foto zeigt wie das 1999 in dem Buch über das Leben in der DDR veröffentlichte:

Screenshot des irreführenden Facebook-Posts (links) und Scan der Seite 213 des Buches „Erinnerungen für die Zukunft. Geschichten und Geschichte aus dem Norden der DDR“ von Ernst-Jürgen Walberg und Thomas Balzer (rechts).

Das Foto wird im Buch den Archiven der Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen (BStU), den Stasi-Archiven, zugeschrieben. Die Staatssicherheit, kurz Stasi, war Nachrichtendienst und Geheimpolizei der DDR in einem.

Die gescannten Seiten, die Rost geschickt hatte, erzählen ein Interview mit einem Mann namens Frank Richter und seiner Frau Ilona nach. Thema war seine Teilnahme an Demonstrationen und Protestaktionen gegen das DDR-Regime in den Jahren vor dem Mauerfall 1989.

„Irgendwann genügen sie den Ausreisewilligen nicht mehr, diese ‚Routine‘-Demonstrationen auf dem Schweriner Marktplatz. Frank weiß es noch genau: ‚Wenn du mit deiner Demonstration fertig bist, dann gehst du nach Hause, setzt dich hin und wartest wieder. Und dann ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem du nicht mehr warten willst oder warten kannst'“, heißt es im Buch.

Richter erzählt dann die Geschichte, wie er und sein Freund Hansi um Mitternacht loszogen, um in der Nacht vom 8. August 1988 die Botschaft auf den Panzer zu malen. „So sind wir dann losgestiefelt, raus nach Schelfwerder zu diesem Panzer-Ehrenmal oder wie sie das genannt haben. Das stand an der nordöstlichen Ausfahrt aus Schwerin, Richtung Güstrow. Unser Auto haben wir stehenlassen, denn wir wussten: Wenn du solche Sachen mit deinem eigenen Pkw machst und sie kriegen das raus und sie fassen dich, dann bist du deinen Wagen für immer los“, wird er in dem Buch zitiert.

Die beiden Freunde mussten sich verstecken und darauf warten, dass ein Polizeiauto wegfuhr, bis sie sich dem Panzer nähern konnten.“Wir haben uns gleich den Farbtopf gegriffen und den Pinsel und haben ihnen da auf den Panzer eine, nein zwei Parolen gemalt: ‚Perestroika‘ und ‚Befreit uns nochmal!‘. ‚Perestroika‘ – das kam von Michail Gorbatschow. ‚Befreit uns nochmal‘ – das haben wir eigentlich auf den falschen Panzer geschrieben, weil ursprünglich die Amerikaner Schwerin vom Faschismus befreit hatten“, sagte Richter.

Die US-amerikanischen Truppen übernahmen Schwerin, die Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern, am 2. Mai 1945. „Einen Monat später übergaben sie die Stadt an die britische Besatzungsmacht, bevor die Rote Armee am 1. Juli 1945 in Schwerin einzog“, erklärt das Dokumentationszentrum des Landes Mecklenburg-Vorpommern für die Opfer der Diktaturen, das in Schwerin sitzt.

Nach einem Bericht von Hans-Peter Albrecht, den Jens-Uwe Rost für AFP im Stadtarchiv suchte, war der Panzer 1975 aufgestellt und „nach 1990 entfernt“ worden.

Demzufolge malten Frank Richter und sein Freund Hansi ihre Botschaft auf einen sowjetischen Panzer, der von den kommunistischen Behörden aufgestellt worden war, die die Kontrolle über das Gebiet übernommen hatten. Beide wussten jedoch, dass es die US-amerikanische Armee gewesen war, die am Ende des Zweiten Weltkriegs die Nationalsozialisten besiegt hatte und die Stadt „befreit“ hatte, wie es in Richters Interview heißt. Anschließend warfen die beiden Freunde den Farbeimer in den Fluss und vernichteten die Beweise ihrer Tat. Die Behörden verdeckten den Panzer kurz darauf und entfernten die Farbe.

Ein anderes Foto im Buch zeigt den Panzer von hinten, weiß angemalt mit dem Wort „Perestroika“ (dt. Umgestaltung). Die Perestroika war ein neues Programm, das UdSSR-Präsident Michail Gorbatschow eingeleitet hatte, um die Wirtschaft zu dezentralisieren und die Kontrolle der kommunistischen Partei zu lockern. Im kommunistisch beherrschten Ostdeutschland jedoch „schlossen das ostdeutsche Politbüro und Staatsoberhaupt Erich Honecker Reformen in der DDR kategorisch aus“, heißt es in diesem Artikel der Deutschen Welle über den damaligen Massenprotest der Bürgerinnen und Bürger.

Ein Jahr später kam es ohne polizeiliches Einschreiten zu Massenprotesten, die ein Ende der kommunistischen Diktatur forderten. Die Berliner Mauer fiel, was das Ende des kommunistischen Blocks in Europa und den Anfang vom Ende der Sowjetunion markierte.

Mehr als 100.000 Menschen demonstrieren am 20. November 1989 in Leipzig für freie Wahlen und die Abschaffung des politischen Monopols der Kommunistischen Partei

Richters Geschichte wurde auch ins Schweriner Stadtarchiv aufgenommen. „Die Schweriner Chronik von Udo Brinker berichtet: (…) Am 9. August 1989 wurde die Parole ‚Befreit uns nochmal‘ auf den Panzer gemalt. Die Täter, zwei Männer, wurden ermittelt und zu 18 Monaten Haft verurteilt. Am 25. April 1991 wurde der Panzer von der Sowjetarmee entfernt, ohne die Stadt vorher zu informieren“, schrieb Rost an AFP.

Sowohl Hans-Peter Albrecht als auch Udo Brinker bestätigten, dass der Panzer 2008 zur Verschrottung an das Unternehmen Borowski & Hopp in Bad Oldesloe verkauft wurde. Die Geschichte der Parole wird auch in diesem Artikel erwähnt, der das Schicksal des zur Verschrottung verkauften Panzers erzählt und einen anderen Mitarbeiter des Stadtarchivs zitiert.Auf Google Maps wurde 2014 ein Foto eines ähnlich aussehenden Panzers von der Firma Borowski & Hopp veröffentlicht.

Frank, Hansi und ein weiterer Mann wurden wenige Tage nach der Aktion verhaftet, am 12. August 1988. Sie waren gerade auf dem Weg nach Berlin, um gegen die Mauer zu protestieren, die die Stadt in zwei teilte und die Leute daran hinderte, von Osten nach Westen zu wechseln. „Natürlich haben sie die Kerzen gefunden, die sich Frank Richter für Berlin ins Gepäck gesteckt hatte. ‚Die hatte ich in der Nähe der Mauer aufstellen und anzünden wollen, um gegen die Mauer zu demonstrieren'“, heißt es im Buch von 1999. Anlass war der Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 1988.

Historischen Aufzeichnungen zufolge wurden zwischen 1961 und 1989 „mindestens 140 Menschen an der Berliner Mauer getötet oder kamen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime ums Leben. Darüber hinaus verstarben mindestens 251 Reisende aus Ost und West vor, während oder nach Kontrollen an Berliner Grenzübergängen“.

Fazit: Das auf Facebook geteilte Foto zeigt keinen russischen Panzer in Berlin, auf den kürzlich „Befreit uns nochmal“ als Befreiungsaufruf an Russland gemalt wurde. Das Foto stammt aus dem Jahr 1988, aus der DDR, und wurde in Schwerin aufgenommen. Den Panzer hatten damals zwei Männer beschmiert, die vor dem Mauerfall 1989 aktiv an Protesten gegen das DDR-Regime teilgenommen hatten. Das belegen das Schweriner Stadtarchiv und ein Buch aus dem Jahr 1999 zum Leben in der DDR. Der Befreiungsaufruf richtete sich damals eigentlich an die Amerikaner, die Schwerin 1945 vom Faschismus befreit hatten, und nicht an Russland.

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Autor(en): Marion DAUTRY, AFP Belgrad, AFP Deutschland

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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