Im Vorfeld zu Polens Parlamentswahlen am 15. Oktober 2023 ist Migration zu einem der Haupthemen geworden. Der regierenden nationalkonservativen PiS – die seit 2015 an der Macht ist und jetzt zum dritten Mal in Folge gewählt werden will – wird vorgeworfen, Desinformation zu verbreiten, um Stimmung gegen die EU und für ein Migrationsreferendum, das am selben Tag abgehalten wird, zu machen.
Premierminister Mateusz Morawiecki hat Werbespots für seine euroskeptischen Partei Prawo i Sprawiedliwość oder PiS („Recht und Gerechtigkeit“) in sozialen Medien platziert, in denen er die „tragische und verantwortungslose Migrationspolitik“ der EU verurteilt. Viele der Bilder sind aber aus dem Kontext gerissen und haben nichts mit dem Thema zu tun.
Die PiS – die schon die vorigen Wahlen in 2015 und 2019 gewonnen hat – hat ein Migrationsreferendum für den selben Tag wie die Parlamentswahlen angesetzt, wo Wählerinnen und Wähler unter anderem über den EU-Asylkompromiss und die verpflichtende Aufnahme von Flüchtlingen abstimmen werden.
PiS‘ größter Herausforderer bei den Parlamentswahlen ist Platforma Obywatelska („Bürgerplattform“), eine zentristische Koalition angeführt vom ehemaligen EU-Ratspräsidenten (2014-2019) und auch ehemaligen polnischen Premier (2007-2014) Donald Tusk.
Im Vorfeld zur Volksabstimmung wurde Haushalten im ganzen Land eine Hochglanz-Broschüre zugestellt, die eine Gruppe Migranten dicht gepfercht auf einem Gummiboot zeigt.
„Invasion! Sie kommen! Sagt ‚Nein‘ zum Zustrom illegaler Migranten nach Polen,“ so der Text der Broschüre, die nicht von der PiS, sondern von der Fundacja Niezależne Media („Unabhängige Medienstiftung“) verlegt wurde.
„Der Wahlkampf versinkt in Desinformation,“ sagte Katarzyna Bakowicz, eine Professorin an der SPWS University in Warschau.
„Es sind nicht einfache Falschinformationen, ‚Fake News‘. Es sind Halbwahrheiten, tendenziöse Informationen, Manipulation – welche schwieriger genau zu ermitteln sind.“
Dasselbe Foto der Migranten, welches 2015 aufgenommen wurde, wird von PiS auch in Wahlkampf-Werbevideos verwendet, dort vermischt mit Aufnahmen von Unruhen in Städten und Gewalt gegen Frauen.
„Das Ziel ist es, starke Emotionen zu wecken,“ so Anna Mierzynska, eine Social-Media-Analystin.
Umstrittener Wahlkampf-Spot
In Morawieckis Wahlkampf-Spot werden Aufnahmen von auf der italienischen Insel Lampedusa ankommenden Migranten zusammen mit Bildern eines Angriffs auf eine Frau ohne weiteren Kontext gezeigt.
Recherchen von AFP fanden den Ursprung des Videos, welches 2016 in der Berliner U-Bahn aufgenommen wurde. Der Täter wurde seitdem verurteilt und ist ein bulgarischer Staatsbürger.
Andere Bilder im Wahlkampf zeigen einen Terrorangriff auf den Flughafen Zaventem in Belgien aus dem Jahr 2016 oder die Abschiebung von Migranten aus Libyen nach Ägypten, ebenfalls ohne Kontext.
Diese Wahlkampf-Videos, welche in sozialen Netzwerken bereits mehr als zehn Millionen Mal angesehen wurden, werden in Nachrichtensendungen auf regierungsnahen öffentlichen Fernsehsendern wieder und wieder gezeigt.
Karina Stasiuk-Krajewska, eine Expertin für Medien und Kommunikation, erklärte, der wichtigste staatliche Sender, TVP, nutze Techniken, die „für russische Propaganda typisch sind und offensichtliche Fakten als Fakes dastehen lassen“.
Als Beispiel nannte sie, dass der Sender die Teilnehmerzahlen an einem Warschauer Protestmarsch gegen die Regierung am 1. Oktober 2023, an dem Hunderttausende von Menschen teilnahmen, herunterspielte.
„Manipulation der Emotionen“
Die Wahl ist ein Kopf-an-Kopf Rennen und „der Zweck scheint die Mittel zu heiligen. Die Politiker verlieren ihre Bremsen,“ sagte Mierzynska.
„In dieser riesigen Desinformationskampagne sind alle Kommunikationskanäle betroffen,“ sagte sie.
„In den Wahlkampfvideos gibt es keine Fakten oder Daten… nur Manipulation der Emotionen.“
Stasiuk-Krajewska sagte, dass in „einer Gesellschaft, die so polarisiert ist, Desinformation unweigerlich ein exzellentes Mittel wird, um Emotionen zu verstärken.“
Und während Experten vor allem eine Fülle an Fehlinformationen vonseiten der Regierungspartei erkennen, merken sie an, dass auch die Herausforderer darauf zurückgreifen.
Die Opposition nutzt ebenfalls negative Emotionen für ihre Zwecke, etwa warnt sie vor einem unmittelbar bevorstehenden Austreten aus der Europäischen Union, obwohl die Regierung wiederholt betonte, dass sie Polen weiterhin in der Gemeinschaft behalten will.
Analysten sagen auch, dass es in der Kampagne offenbar nur wenige Desinformation von außen gibt, wie sie Russland in der Vergangenheit vorgeworfen wurden.
Mierzynska sagte, Polen habe „in den letzten Jahren eine große Zunahme an unterschiedlichen Diskursen erlebt: gegen Impfstoffe, gegen Einwanderung, anti-Deutsch oder anti-europäische Diskurse, welche Teil der öffentlichen Diskussionen geworden sind.“
„Aus Russlands Sicht ist das eine ideale Situation. Da müssen sie nichts eigenes dazu beitragen, das sickert schon von selbst durch,“ sagte sie.
Dieser Artikel ist eine Übersetzung und Adaptierung eines englischsprachigen Artikels von Maja Czarnecka, AFP-Faktencheckerin in Warschau.