Porno-Gucken im Lehrplan? Nein, keine Empfehlung der WHO - Featured image

Porno-Gucken im Lehrplan? Nein, keine Empfehlung der WHO

Dildos oder Handschellen im Unterricht für die Sexualaufklärung? In einem jahrealten Video, das sich im August 2024 erneut verbreitet, wird behauptet: Nach dem Willen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sollen angeblich alle Kinder in Europa schon im frühen Alter den Umgang mit Sexspielzeug und Pornos lernen. WHO-Standards zufolge sei Lehrkräften der Einsatz solcher Materialien im Unterricht empfohlen.

Bewertung

Das ist falsch. Bei den WHO-Standards handelt es sich um Empfehlungen, nicht um gesetzliche Vorgaben. Zudem wird Lehrkräften und Pädagogen an keiner Stelle empfohlen, Sexspielzeug oder Pornografie im Unterricht einzusetzen.

Fakten

Das WHO-Regionalbüro für Europa und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) haben im Jahr 2011 gemeinsam ein Dokument veröffentlicht mit dem Titel «Standards für die Sexualaufklärung in Europa». Dabei handelt es sich um ein «Rahmenkonzept für politische Entscheidungsträger, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsbehörden, Expertinnen und Experten».

Die Organisationen geben Empfehlungen darüber ab, wie Kinder und Jugendliche im erzieherischen und schulischen Kontext über Sexualität aufgeklärt werden können. Dieses Papier ist keine Gesetzesvorlage oder obligatorische Vorgabe für die Bildungsministerien der einzelnen EU-Staaten. Die Umsetzung ist nicht verpflichtend.

Sexualität umfasst mehr als nur Geschlechtsverkehr

Das in sozialen Medien verbreitete Video behauptet, die WHO würde mit diesen Standards Pläne zur «Frühsexualisierung» verfolgen. Das Wort wird heute vor allem als politischer Kampfbegriff genutzt und wahrgenommen. Anhänger dieses Narrativs bringen teils die Aufklärung über ein soziales Geschlecht (englisch: «Gegnder») mit Aufklärung über das biologische Geschlecht (englisch: «sex») in Verbindung.

Eine vielfältige Sexualaufklärung, die auch die Lebenswirklichkeit von Menschen außerhalb der heterosexuellen Mann-Frau-Beziehung mit einbezieht, wird dann als eine «Frühsexualisierung» von Kindern gesehen, die es zu verhindern gelte.

Dabei erklären die Autorinnen und Autoren der Standards, dass mit Sexualität nicht per se der sexuelle Akt gemeint ist. Vielmehr basieren die Standards auf einem breiten Verständnis des Begriffs. Dazu gehören auch Themen wie Emotionen, Aufbau von Beziehungen, Schutz der Privatsphäre, Respektierung von Grenzen und Äußerung von Wünschen. Diese Bestandteile der Sexualität werden lange vor dem Erwachsenenalter relevant. Diese Standards sollen Kinder und Jugendliche also nicht frühzeitig zu sexuellen Interaktionen motivieren.

Die Sexualaufklärung «fördert vielmehr die Entwicklung der kindlichen Sinnes- und Körperwahrnehmung und des Körperbildes. Sie stärkt das Selbstvertrauen und trägt dazu bei, dass das Kind selbstbestimmt handeln kann – das Kind wird befähigt, sich verantwortlich gegenüber sich selbst und anderen zu verhalten», heißt es in den Standards (S. 41).

Kein Nachweis für Sexspielzeug in den Standards

Dem verbreiteten Clip zufolge fordern die Organisationen angeblich, Kindern im Unterricht den Umgang mit «Dildos, Liebeskugeln, Lederpeitsche oder Handschellen» beizubringen. Ebenso solle Minderjährigen erklärt werden, wie man ein Bordell errichte. Aussagen wie diese sind in den Standards überhaupt nicht zu finden.

Weiterhin erklärt die Stimme im Video, dass «das gegenseitige Berühren und Doktorspiele» sowie «frühkindliche Masturbation» den Kindern Kenntnisse über Genitalien verschaffen sollen. Tatsächlich werden diese Themen in den Standards zwar angesprochen. Doktorspiele und die Körpernerforschung wird allerdings als Entwicklungsprozess in den ersten zehn Jahren eines Kindes beschrieben, nicht als etwas, zu dem Pädagogen und Lehrkräfte motivieren sollen.

Diese Spiele sind also etwas, was Kinder ab einem gewissen Alter selbständig machen – ebenso Masturbation. Wenn Kinder allerdings sich dazu informieren wollen und Fragen stellen, wird Pädagogen und Lehrkräfte empfohlen, Auskunft zu den Themen geben.

Keine Empfehlung für Pornos im Unterricht

In dem Video in sozialen Medien wird zudem der WHO unterstellt, sie wolle, dass Kinder und Jugendliche im Unterricht Pornos schauen sollen. Diese Forderung lässt sich nicht in den Standards finden.

Stattdessen erwähnt wird für Kinder ab einem Alter von 9 Jahren und schwerpunktmäßig für ältere Jugendliche das Thema Pornografie im Rahmen von Medienkompetenz und den Einfluss von Internet und Handy hinsichtlich verzerrter, unrealistischer und irreführender Informationen zu behandeln. Auch die Herabsetzung von Frauen in Pornografie soll dabei thematisiert werden.

Die Sexualaufklärung soll den WHO-Standards zufolge (S. 25) gerade Informationen und Bilder korrigieren, denen Kinder und Jugendliche bei ihrem eigenen Entdeckungen im Netz ausgesetzt sind.

Keine Autoren der Gesellschaft für Sexualpädagogik

Der Film erklärt dann, dass einige Urheber der Standards auch das Buch «Sexualpädagogik der Vielfalt» verfasst hätten. Diese Autorinnen und Autoren sollen auch der Gesellschaft für Sexualpädagogik angehören. Allerdings lassen sich weder das Buch noch die Verfasser im Quellenverzeichnis der WHO-Standards wiederfinden. Wie die Pressestelle der BZgA auf dpa-Anfrage erklärt, haben die Autorinnen und Autoren dieses Buches nicht an den Standards der WHO und BZgA mitgearbeitet.

In diesem Buch sind tatsächlich Lehrmethoden und Praxisübungen für den Unterricht zu finden, die Gegenstände wie Dildos oder Handschellen beinhalten. Jugendliche ab einem Alter von 14 oder 15 Jahren sollen aber nicht den Umgang damit lernen oder gar praktizieren, sondern Vorurteile abbauen und Wissen austauschen. Es soll keine Pornografie im Unterricht gezeigt werden. Diese Übungen sind nur Empfehlungen, keine verpflichtenden Vorgaben für einen Lehrplan – und schon gar nicht Teil der WHO-Standards.

Narrativ gegen Geschlechtervielfalt und Gleichberechtigung

Mitbegründer der Gesellschaft für Sexualpädagogik ist Uwe Sielert. Der inzwischen pensionierte Professor für Pädagogik in Kiel war in der Vergangenheit nach eigenen Angaben (hier und hier) auch Mitarbeiter der BZgA.

Der Stimme im Video zufolge soll Sielert die Kernfamilie, die Heterosexualität und die Generativität (das Wissen um die individuelle und kollektive Verantwortung der Generationen) «entnaturalisieren» wollen. Diese Worte hat Sielert tatsächlich in einer Veröffentlichung (S. 18) geäußert. Damit meint er aber, dass auch andere Lebensformen an Akzeptanz gewinnen sollten. Er erklärt nicht, dass eines dieser genannten Konzepte abgeschafft gehöre.

(Stand: 22.08.2024)

Fact Checker Logo

Gesellschaft

Autor(en): dpa

Ursprünglich hier veröffentlicht.

Nach oben scrollen