Bewertung
Ein Blick in die Kriminalstatistik zeigt: Ein durch und durch friedliches Leben gibt es in Ungarn nicht für alle.
Fakten
Ungarn ist kein so beschauliches Land, wie es manche gern behaupten. Kriminalität ist wie in anderen europäischen Staaten genauso verbreitet.
Mord, Totschlag und sexuelle Gewalt
Im Jahr 2020 gab es nach Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat in Ungarn 0,79 Fälle einer vorsätzlichen Tötung pro 100 000 Einwohner. In fast derselben Größenordnung lag Deutschland mit 0,86 Fällen. Beide Länder befanden sich damit nebeneinander im Mittelfeld der EU-Staaten.
Reichlich 500 Vergewaltigungen sind in Ungarn im Jahr 2020 polizeilich registriert worden. Das sind tatsächlich im Verhältnis zur Einwohnerzahl weniger Fälle im Vergleich zu Deutschland. Während die Bundesrepublik 2020 mit 12,17 Vergewaltigungen pro 100 000 Einwohner im oberen Mittelfeld unter den EU-Staaten lag, befand sich Ungarn mit 5,16 Fällen im unteren Mittelfeld.
Gewalt gegen Frauen
Zu behaupten, sie trauten sich durchweg ohne Angst im Dunkeln auf die Straße, wirft ein völlig falsches Bild auf die Gewalt, der Frauen in Ungarn ausgesetzt sind.
Nach Eurostat-Angaben gab es in Ungarn zwischen 2011 und 2020 jährlich zwischen 31 (2019) und 102 (2015) weibliche Opfer einer vorsätzlichen Tötung. Damit lag das Land zwischenzeitlich bei einer deutlich höheren Pro-Kopf-Rate an Femiziden als Deutschland. Seit 2010 ist die rechtsnationale Orban-Regierung in Ungarn an der Macht.
Die ungarische Frauenrechtsorganisation Nane schreibt auf ihrer Website, dass jede fünfte Frau in einer Partnerschaft lebt, in der sie körperlich misshandelt wird.
Nach einer Eurobarometer-Umfrage vom März 2022 sind 47 Prozent der Frauen in Ungarn außerdem der Meinung, dass die Corona-Pandemie in ihrem Land zu einem Anstieg der körperlichen und seelischen Gewalt gegen Frauen geführt hat – darunter etwa Belästigungen auf der Straße, bei der Arbeit oder im Internet.
Das ungarische Parlament hat die Istanbul-Konvention bisher nicht ratifiziert. Das internationale Übereinkommen soll Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt verhüten und bekämpfen.
Politische Gewalt
Gewagt ist auch Papkes Aussage, in Ungarn gebe es keine politische Gewalt. Zwar ist offene Aggression auf der Straße tatsächlich wenig präsent. Doch ist die Gesellschaft von struktureller Gewalt durchdrungen, die von Orbans Regierung zur Machtstabilisierung eingesetzt wird.
So wird zum Beispiel die LGBTQI-Gemeinde mächtig unter Druck gesetzt. LGBTQI ist die englische Abkürzung für lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, queer und intersexuell. Gay-Pride-Märsche in Ungarn mussten von der Polizei immer wieder gegen Rechtsradikale abgesichert werden. Zugleich scheint die homophobe Politik und Gesetzgebung Orbans die Hater zu legitimieren.
Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen, die Hasskriminalität in Ungarn untersuchen, listen in einem Bericht vom März 2021 unter anderem mehrere Fälle aus den Vorjahren auf, bei denen LGBTQI-Veranstaltungen angegriffen wurden. Dem Bericht zufolge schreitet die Polizei bei Hasskriminalität häufig nicht ein – selbst wenn ausreichend Beweise für Rechtsverstöße vorliegen.
Im Sommer 2021 etwa verließ der Literaturwissenschaftler Boldizsar Nagy wegen anhaltender Drohungen gegen sich das Land. Homophobe Rechte hatten ihn wegen des von ihm herausgegebenen Kinderbuchs «Märchenland für alle» angefeindet. Darin werden bekannte Märchen neu erzählt, indem die Heldenfiguren Minderheiten angehören – etwa in Armut lebende Kinder, Kinder mit Behinderung oder Homosexuelle.
Außerdem wurden in Hochzeiten der Corona-Pandemie Übergriffe gegen Menschen aus Asien registriert. Der Rektor der Universität im südungarischen Pecs musste in einem offenen Brief die Bürger der Stadt sogar auffordern, Studierende aus Fernost nicht zu diskriminieren.
Rechtsextremismus
So lange Orban regiert, finden Neonazis und Rechtsradikale wenig Anlass, gewaltsame Proteste auf die Straße zu tragen. Die Politik der Regierung ist strikt migrationsfeindlich. «Patriotismus» und «christlich-nationale Werte» werden im öffentlichen Raum und in den regierungstreuen Medien bis zum Abwinken zelebriert.
Im Februar 2020 etwa marschierten rund 500 schwarz gekleidete Neonazis in Budapest auf, um an eine Schlacht deutscher SS-Einheiten gemeinsam mit ihren ungarischen Verbündeten gegen die sowjetischen Belagerer im Zweiten Weltkrieg zu erinnern. Rechtsextreme organisieren im Umfeld des Jahrestags jährlich Aufmärsche unter dem Motto «Tag der Ehre», das auch als Anspielung auf den SS-Wahlspruch «Meine Ehre heißt Treue» verstanden werden kann.
Im Oktober 2019 griffen 50 Neonazis ein liberales Kulturzentrum in Budapest an. Nach Angaben des Leiters der Einrichtung rissen sie die Regenbogenfahne am Eingang herunter, verbrannten sie und schmierten Nazi-Slogans an Tor und Hauswand. Die Polizei leitete damals Ermittlungen gegen unbekannt wegen Randalierens ein.
Hooligans und Fußball-Ultras
Auch die radikale Fußballszene in Ungarn sorgt für Randale. Nicht nur in den Stadien (daheim und im Ausland) kommt es zu Beleidigungen, Übergriffen und Randalen. Auch außerhalb werden Zusammenstöße und Straßenschlachten rivalisierender Gruppen registriert – etwa zwischen Anhängern von Ferencvaros und Ujpest.
Fußball-Ultras randalierten im September 2015 vor, während und nach einem EM-Qualifikations-Spiel gegen Rumänien in Budapest. Es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei mit mehreren Verletzten und in Brand gestecketen Autos, darunter ein Polizeifahrzeug.
Die Recherche-Plattform Bellingcat hat in einem Artikel vom Spätsommer 2021 enge Verbindungen zwischen ungarischen Ultras-Gruppen und rechtsextremen sowie neonazistischen Gruppen aufgezeigt.
Dort schlummert ein beträchtliches Gewaltpotenzial. Orbans Regierungspartei Fidesz ist mit diesen Milieus verbunden, kontrolliert sie zum Teil und instrumentalisiert sie für ihre Zwecke.
(Stand: 10.1.2023)