Einen Tag nach der Landtagswahl in Brandenburg 2024 verbreitet ein Telegram-Kanal den angeblichen Brief eines Wahlhelfers. Der Mann berichtet demnach, ohne den Namen des konkreten Wahllokals zu nennen, er habe im Landkreis Prignitz angeblich „schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten bei der Stimmauszählung“ beobachtet. In dem Text heißt es unter anderem: „Während der Auszählung der abgegebenen Stimmen für die Landtagswahl im Bezirk [Bezirk oder genauer Standort], fiel mir auf, dass eine beträchtliche Anzahl von Stimmen für die Partei Alternative für Deutschland (AfD) gezielt aussortiert und beiseitegelegt wurde.“
Der Mann bittet angeblich darum, den Brief schnellstmöglich zu verbreiten, offenbar mit Erfolg: Allein der Telegram-Beitrag erhielt knapp 150.000 Ansichten. Der Kettenbrief verbreitete sich außerdem per Whatsapp, in Facebook-Gruppen, auf X und im russischen Sozialen Netzwerk VK. Allerdings fragen einige, warum der Mann nicht sofort die Polizei gerufen hat. Andere merken an, dass die Auszählung von Stimmen öffentlich ist und andere so einen Betrug nicht zugelassen hätten. Wir erklären, warum die Behauptungen im Kettenbrief nicht schlüssig sind.
Landeswahlleitung: Keine Auffälligkeiten bei Wahlbeteiligung und Ergebnis
CORRECTIV.Faktencheck hat bei der Landeswahlleitung und dem Landkreis Prignitz zu dem angeblichen Vorfall nachgefragt. Beide schrieben uns Mitte Oktober 2024, dass es weder bei den Ergebnissen noch bei der Wahlbeteiligung im Landkreis Auffälligkeiten gegeben habe. Der Wahlausschuss habe das Wahlergebnis ohne Beanstandungen anerkannt. Gegen die Behauptungen im Netz hat die Landeswahlleitung inzwischen Strafanzeige gestellt – man hält sie nicht für plausibel. Grund dafür sind die im Kettenbrief genannten Zahlen, doch dazu später mehr.
Aus dem Kettenbrief geht nicht hervor, ob der angebliche Wahlhelfer den Vorfall angezeigt hat. Auf Nachfrage bei der Polizei Brandenburg, ob eine Anzeige dazu eingegangen ist, verwies diese an die Staatsanwaltschaft Neuruppin.
Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft schrieb uns am 18. Oktober per E-Mail, dass zu den Behauptungen über Prignitz zwei Verfahren gegen bislang unbekannte Täter bearbeitet werden. Man ermittle einerseits wegen vorgeblicher Wahlfälschung und andererseits wegen Falschbehauptungen über etwaige Wahlmanipulationen. Die Ermittlungen stünden am Anfang – zu Details wollte sich die Staatsanwaltschaft nicht äußern.
Am Sonntag nehmen die Entsorgungsbetriebe keine Müllsäcke entgegen
In dem Kettenbrief unterstellt der Wahlhelfer, dass, „mindestens 45 bis 50 Prozent“ der gültigen Stimmen für die AfD aussortiert und in Müllsäcke geworfen worden seien. Diese Säcke seien dann gegen 18 Uhr in einen Kleintransporter verladen und noch am selben Abend „der Müllverbrennung zugeführt“ worden.
Dass mehrere Säcke abtransportiert wurden, ist laut Kreiswahlleitung in der Praxis jedoch unrealistisch. Ein Sprecher rechnet vor: „In einem Wahllokal mit ca. 1.500 Wahlberechtigten verbleiben bei einer Gesamtwahlbeteiligung von ca. 72 Prozent und einer Briefwahlbeteiligung von ca. 30 Prozent noch rund 760 Urnenwählerinnen und Urnenwähler. Für diese Stimmzettel ist eine Wahlurne ausreichend. Was vorher in nur einer Wahlurne Platz fand, kann also schwerlich säckeweise entfernt worden sein.“
Zudem schließen die Wahllokale erst um 18 Uhr und die Urnen werden danach erstmals für die Auszählung geöffnet. Es ist unschlüssig, dass Stimmen für eine Partei schon kurze Zeit später identifiziert, aussortiert und in ein Fahrzeug verladen wurden.
Ebenso unschlüssig ist, dass die Wahlscheine noch am selben Abend in der „örtlichen Mülldeponie“ entsorgt und verbrannt wurden: Im Landkreis Prignitz gibt es keine große Müllverbrennungsanlage, sondern nur kleinere Annahmestellen. Die Kleinannahmestellen des Landkreises sind jedoch an Sonntagen geschlossen. Auch mit vorheriger Terminvereinbarung ist es nicht möglich, dort sonntags Müll zu entsorgen, schrieb uns ein Sprecher des Landkreises per E-Mail.
Laut Landeswahlleitung gab es kein Wahllokal im Landkreis Prignitz mit 700 ungültigen Stimmen
Der Wahlhelfer behauptet weiter, er habe darüber hinaus mindestens 700 Fälle „direkt verfolgen“ können, bei denen um Kreuze zugunsten der AfD ein Kreis gezogen wurde, wodurch diese ungültig gemacht worden seien.
Laut der Landeswahlleitung gab es aber „kein Wahllokal im Landkreis Prignitz, das eine solch erhöhte Anzahl an ungültigen Stimmen“ aufwies. Im gesamten Landkreis Prignitz habe es 629 ungültige Erststimmen und 445 ungültige Zweitstimmen gegeben. Die genauen Ergebnisse aller Wahlbezirke stehen auf der Webseite des Landes Brandenburg zum Download zur Verfügung.
Die Landeswahlleitung Brandenburg teilte uns zudem mit, dass die Stimmabgabe auch gültig sei, wenn das gesetzte Kreuz umrandet wird – das bestärke den Wählerwillen.
Da in dem Kettenbrief weder der vollständige Name noch das Wahllokal des angeblichen Wahlhelfers stehen, lässt sich der Urheber nicht ausfindig machen. Ob es ihn überhaupt gibt, ist fraglich. Impfkritische, prorussische und AfD-nahe Gruppen verbreiteten den Kettenbrief in verschiedenen Sozialen Netzwerken. Der älteste Beitrag, den CORRECTIV.Faktencheck finden konnte, stammt von dem Telegram-Kanal „Unabhängig-Neutrale Nachrichten“ (UNN).
Der Kanal UNN gehört einem Youtuber aus Österreich, der sich laut Beschreibung als „Investor, Aktionär, Youtuber und Auswanderer“ bezeichnet. Auf Anfragen von CORRECTIV.Faktencheck reagierte er nicht. Den Telegram-Kanal gibt es seit September 2021 – anfangs ging es vorwiegend um Impfkritik. Der Youtuber wirbt auch regelmäßig für zweifelhafte Gesundheitsprodukte, hinter denen eine Firma mit Verbindungen nach Russland steckt.
Warnungen vor Wahlbetrug kritisch hinterfragen
Vor Wahlen wird in Sozialen Netzwerken oft vor Wahlbetrug gewarnt. Wie im Fall des angeblichen Wahlhelfers sind solche Behauptungen jedoch häufig unbelegt oder falsch. Dahinter kann eine rechtspopulistische Masche stecken, wie wir in diesem Text erklären, oder auch pro-russische Desinformation.
Um selbst nicht auf Falschbehauptungen reinzufallen, helfen ein paar einfache Tipps. Der wichtigste: erst einmal innehalten, und eine aufwühlende, vielleicht sogar skandalöse Information, hinterfragen. Von wem stammt diese überhaupt? Zudem lohnt sich die Suche, nach weiteren Quellen, etwa Medienberichten oder Faktenchecks.
Sollte es tatsächlich zu Wahlbetrug kommen, können Zeuginnen und Zeugen konkrete Belege den Strafverfolgungsbehörden melden. Wahlhelfende kontrollieren einander und sind zur unparteiischen Wahrnehmung ihres Amtes verpflichtet – das ist gesetzlich festgelegt.
Redigatur: Paulina Thom, Max Bernhard
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