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Behauptungen über niedrigere Covid-Sterberate bei Amischen sind irreführend

Die Auswirkungen der Corona-Schutzmaßnahmen, die in den meisten Ländern während der Pandemie ergriffen wurden, sind schwer zu messen. Zahlreiche Studien zeigen jedoch, dass insbesondere das Tragen von Masken sowie die Covid-Impfung bei der Eindämmung der krankheitsbedingten Todesfälle wirksam waren. Dennoch wird in sozialen Medien seit Ende Mai 2023 behauptet, dass die Covid-Sterberate unter Amischen in den USA besonders niedrig sei, da die Glaubensgemeinschaft die Mehrheit der Corona-Schutzmaßnahmen nicht befolgt habe. Diese Schlussfolgerung ist jedoch irreführend: Studien zeigen, dass auch Amische von der Pandemie betroffen waren und diese zu erhöhter Sterblichkeit führte.

„Die Beweise für den größten Betrug der Menschheitsgeschichte sind so dermaßen erdrückend“, schreibt ein User Ende Juni 2023 auf Facebook. „Eine groß angelegte Studie über die Auswirkungen der Pandemie auf die Amish-Gemeinden hat ergeben, dass die Covid-Todesraten unter den traditionalistischen Bevölkerungsgruppen 90 Mal niedriger sind als im übrigen Amerika“, lautet die Begründung in einem ähnlichen Posting.

Verschiedene Seiten wie etwa die bereits von AFP überprüften Plattformen People’s Voice und AUF1 verbreiteten die Behauptung. Verwiesen wird dabei häufig auf einen Artikel der amerikanischen Seite Slay News sowie auf den US-amerikanischen Unternehmer Steve Kirsch, dessen Behauptungen zu Corona AFP bereits hier und hier widerlegt hat. Ein Video, in dem er Aussagen zu Covid-Sterberaten bei Amischen tätigt, wurde auf Twitter über 200 Mal geteilt und rund 21.000 Mal angesehen.

AFP wurde auch via WhatsApp auf die Behauptungen aufmerksam gemacht. Sie verbreiteten sich auch in anderen Sprachen, etwa auf Englisch oder Französisch.

Twitter- und Facebook-Screenshots der Behauptung: 7. Juli 2023

Fachleute erklärten gegenüber AFP jedoch, dass die Aussagen irreführend seien. Im Gegenteil: Studien hätten gezeigt, dass die Zahl der zusätzlichen Todesfälle in der Amisch-Gemeinschaft erhöht blieb, während sie in der allgemeinen Bevölkerung nach Einführung der Impfstoffe im Jahr 2021 zurückging.

Auch wenn die Auswirkungen von Beschränkungen während der Pandemie nicht einfach zu messen sind, haben Untersuchungen ergeben, dass viele Schutzmaßnahmen wirksam waren. Gesundheitsbehörden empfehlen die Impfung gegen Covid auch nach einer Infektion.

Die Glaubensgemeinschaft der Amischen

Die Amischen sind eine täuferisch-protestantische Glaubensgemeinschaft mit Wurzeln in der Reformation im Europa des 16. Jahrhunderts. Im 18. und 19. Jahrhundert wanderten sie in Nordamerika ein. 2022 lebten 373.850 Amische in den US-Bundesstaaten Pennsylvania, Ohio und Indiana, wo sich die größten Siedlungen befinden. Amisch-Gemeinschaften befolgen eine Reihe von Vorschriften, die eine Abschottung von der Außenwelt beinhalten; diese variieren von Gemeinde zu Gemeinde und schließen das Verbot moderner Annehmlichkeiten wie Fernseher, Radios, Computer oder Autos oder den Besuch einer High School oder eines Colleges ein.

Im Jahr 2021 widerlegte AFP auf Englisch die Behauptung, dass Amische nicht von Covid-19 betroffen seien.

 

Amisch-Mädchen fahren mit ihren Rollern, nachdem sie ihr Schulhaus in der Nähe der Stadt Leola, Pennsylvania, am 1. November 2011 verlassen. – MLADEN ANTONOV / AFP

 

Keine Studie, sondern ein Artikel aus dem Jahr 2021 und falsch zitierte Zahlen

Einige der Postings in sozialen Netzwerken sowie Medienberichte verweisen auf einen Artikel (Link hier archiviert) des Onlinemediums Penn live, der fälschlicherweise als „Studie“ bezeichnet wurde und vom 29. März 2021 stammt. Dieser greift eine Meldung der US-amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press (AP) auf, in der es hieß, dass sich damals 90 Prozent der Amischen in der Region Lancaster (wo die größte Amisch-Gemeinde lebt) mit Covid-19 angesteckt hätten.

Es wurde erwähnt, dass dies möglicherweise eine „Gruppenimmunität“ innerhalb dieser Gemeinschaft geschaffen habe, aber befragte Wissenschaftler warnten dennoch, dass diese Immunität nur vorübergehend sein könne und sie nicht davon abhalten würde, sich erneut mit Covid-19 anzustecken oder einen schweren Krankheitsverlauf zu erleiden.

Der Artikel zitierte auch lokale Beamte, die angaben, ohne genaue Zahlen nennen zu können, dass zum Zeitpunkt der Ansteckung in der Amisch-Gemeinde eine „große Anzahl von Todesfällen“ bekannt wurden, die wahrscheinlich mit Covid-19 in Verbindung stünden – anders als in sozialen Netzwerken berichtet wird.

Braxton Mitchell, Epidemiologe an der medizinischen Fakultät der Universität Maryland, der sich mit der amischen Bevölkerung und insbesondere der Bevölkerung von Lancaster befasst, erklärte gegenüber AFP, dass es keine Beweise dafür gebe, dass die Sterberate bei dieser Bevölkerungsgruppe niedriger sei. „Meines Wissens nach gibt es keine Daten, die auf eine niedrigere Covid-19-bedingte Sterberate bei Amischen hindeuten, die auf deren Erwerb einer kollektiven Immunität zurückzuführen wäre“, sagte er.

Keine Beweise für niedrigere Sterberate

In den überprüften Beiträgen in sozialen Medien werden Amische, die angeblich keine Pandemiemaßnahmen ergriffen haben, als „Erfolgsgeschichte“ bezeichnet. Dies wird jedoch nicht durch Beobachtungen von Forscherinnen und Forschern zu Sterberaten in amischen Gemeinden gestützt.

Es gebe „keine Beweise für die Behauptung, dass es in der Amisch-Gemeinschaft 90 Mal weniger Todesfälle durch Covid gab als in der übrigen US-Bevölkerung“, erklärte Steven Nolt, Professor für Geschichte und Täufer-Studien am Elizabethtown College, am 16. Juni 2023 in einer E-Mail an AFP. „Im Gegenteil, die Übersterblichkeit war in der amischen Bevölkerung höher als in den USA insgesamt“, sagte er.

Es gibt keine spezifischen Zahlen über Infektionen oder Todesfälle bei Amischen, erklärte Nolt, da medizinische Dienstleister die Religionszugehörigkeit nicht erfassen. Braxton Mitchell fügte hinzu, dass die Testraten für Covid-19 in dieser Gemeinschaft sehr niedrig seien und Infektionen oft nicht gemeldet werden.

In einer 2021 veröffentlichten Studie (Link hier archiviert) untersuchten Forscherinnen und Forscher der West Virginia University die überhöhte Sterblichkeit in amischen und mennonitischen Gruppen auf der Grundlage von Todesanzeigen in einer amischen und mennonitischen Zeitung im Jahr 2020, das heißt bevor Impfstoffe verfügbar wurden. Sie beobachteten ähnliche Sterberaten wie die nationalen Trends in den USA und stellten fest, dass die Rate im November 2020 um 125 Prozent angestiegen war.

Eine andere Studie (Link hier archiviert), die im Juni 2023 von vielen derselben Forscherinnen und Forscher veröffentlicht wurde, untersuchte die überhöhte Sterblichkeit in diesen Gemeinden in den Jahren 2020 und 2021. Sie fanden heraus, dass die Übersterblichkeit in der Allgemeinbevölkerung der USA, von denen zwei Drittel gegen Covid geimpft waren, zurückgingen, sobald Impfstoffe verfügbar waren. In den amischen und mennonitischen Gemeinschaften, in denen nur wenige Personen geimpft wurden, blieb die Sterblichkeit jedoch erhöht.

Steven Nolt erklärte außerdem, dass das Ausmaß, in dem Amisch-Gemeinden Anti-Covid-Maßnahmen ergriffen haben, schwer zu verallgemeinern sei, da die Gemeinschaften von stark abgeschotteten bis hin zu stärker integrierten Gruppen reichen. Außerdem änderten sich die Vorgehensweisen im Laufe der Zeit.

„Viele Amisch-Gemeinden nahmen die Anweisung, zu Hause zu bleiben, sowie die Schließung von Schulen und die Aussetzung von Gottesdiensten mehrere Monate lang ernst, hörten dann aber damit auf, als ihre nicht-amischen Nachbarn auf dem Land ebenfalls damit aufhörten“, sagte er. „Im Großen und Ganzen können wir jedoch sagen, dass die meisten Amischen ab Mitte Juni 2020 mit einigen Ausnahmen den meisten Anordnungen nur wenig Beachtung schenkten, es sei denn, sie wurden dazu gezwungen“, erklärte er.

Als Beispiel für die Einhaltung verbindlicher Maßnahmen durch die Amisch-Gemeinschaft führt er einen amischen Bauernmarktstand an, bei dem die Marktleitung von den Standinhabern verlangte, Masken zu tragen, da sie sonst ihren Vertrag verlieren würden.

Studien zeigen ähnlich hohe Sterberate

Auch Braxton Mitchell, der mit AFP über seine Beobachtungen in Bezug auf die amische Gemeinschaft in Lancaster, Pennsylvania, dem Gebiet mit der größten amischen Siedlung, sprach, sah keine Beweise für eine niedrigere Todesrate bei Amischen. „Ich habe keine Daten gesehen, die darauf hindeuten, dass bei Amischen die Covid-bedingte Sterberate aufgrund der Herdenimmunität viel niedriger ist“, sagte er.

Er erklärte, dass Amische „im Allgemeinen nicht bereit sind, Masken zu tragen und soziale Distanzierung zu praktizieren“. „Wir waren neugierig auf die Auswirkungen von Covid in der Amisch-Gemeinschaft und haben im Sommer 2020 versucht, die Todesfälle  zu ermitteln. Ich kann Ihnen sagen, dass die Zahl der Todesfälle in der Gemeinschaft in jenem Sommer um das Drei- bis Vierfache höher war als die Zahl der Todesfälle in den einzelnen Monaten des vorangegangenen Jahres“, fügte er hinzu.

„Auf der Grundlage dieser und anderer anekdotischer Informationen sehe ich keine Grundlage für die Behauptung, dass es bei Amischen weniger Todesfälle gab als bei Nicht-Amischen“, schloss er.

Ein amischer Pferdewagen in Lancaster County, Pennsylvania, in der Nähe der Stadt Bird-in-Hand am 7. November 2022. – BRANDEN EASTWOOD / AFP

Viele Maßnahmen gegen die Pandemie haben sich als wirksam erwiesen

Die überprüften Beiträge in sozialen Medien behaupten, der Fall der Amischen sei der Beweis dafür, dass alle Covid-Maßnahmen „völlig nutzlos“ gewesen seien. Die Forschung zeigt jedoch, dass bestimmte Maßnahmen bei der Eindämmung der Ausbreitung des Virus wirksam waren.

In einem Artikel (Link hier archiviert), der 2022 auf der Plattform The Conversation veröffentlicht wurde, wird beispielsweise erklärt, dass es zwar schwierig sei, die Auswirkungen von Lockdowns zu messen, dass aber „die meisten veröffentlichten Studien Beweise dafür gefunden haben, dass Bewegungseinschränkungen wirksam sind“.

Es heißt weiter, dass verschiedene Maßnahmen in verschiedenen Ländern unterschiedliche Ergebnisse erzielten. „Die Einschränkung von Versammlungen, die Schließung von Betrieben mit hoher Ansteckungsrate sowie von Schulen und Universitäten haben die Ausbreitung wirksam reduziert und die Zahl der Todesfälle begrenzt. Diese Orte werden mit erhöhten Übertragungsraten und ‚Superspreader Events‘ in Verbindung gebracht“, heißt es in dem Bericht. Es wird jedoch hinzugefügt, dass die Anweisung, zu Hause zu bleiben, offenbar nur eine bescheidene Wirkung auf die Verlangsamung der Übertragung hatte. Dies könnte jedoch daran liegen, dass Menschen ihre Aktivitäten bereits freiwillig einschränkten, bevor sie dazu aufgefordert werden.

Eine 2020 im Fachmagazin Nature veröffentlichte Studie (Link hier archiviert), welche die wichtigsten Maßnahmen in elf europäischen Ländern zu Beginn der Pandemie untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass „wichtige nicht-pharmazeutische Maßnahmen – insbesondere Lockdowns – eine große Wirkung auf die Reduzierung der Übertragung hatten“.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärte bereits 2020 auf ihrer Website (Link hier archiviert), dass groß angelegte physische Distanzierungsmaßnahmen und Bewegungseinschränkungen „die Übertragung von Covid-19 verlangsamen können, indem sie den Kontakt zwischen Menschen einschränken“. Allerdings „können diese Maßnahmen tiefgreifende negative Auswirkungen auf Einzelpersonen, Gemeinschaften und Gesellschaften haben, indem sie das soziale und wirtschaftliche Leben nahezu zum Erliegen bringen“, so die WHO, die darauf hinweist, dass benachteiligte Gruppen unverhältnismäßig stark betroffen sind. Auch 2023 warnte die WHO (Link hier archiviert) vor Ansteckung in überfüllten Innenräumen, etwa in Gotteshäusern.

Impfung auch nach Infektion empfohlen

In Beiträgen in sozialen Medien wird auch behauptet, dass die Impfung „völlig nutzlos“ sei, wenn man sich bereits infiziert habe. Dies steht im Widerspruch zu den Empfehlungen von Gesundheitsbehörden und Forschungseinrichtungen vieler Länder.

Das deutsche Robert-Koch-Institut (RKI) schreibt auf seiner Website (Link hier archiviert), dass „auch Personen mit einer oder mehreren zurückliegenden SARS-CoV-2-Infektionen geimpft werden“ sollten. In den USA empfiehlt die Gesundheitsbehörde CDC (Link hier archiviert) sowie der führende Krankenhaus- und Forschungsverband Mayo Klinik (Link hier archiviert) die Impfung von bereits Infizierten. „Sich gegen Covid-19 impfen zu lassen, nachdem man sich von einer Infektion erholt hat, bietet einen zusätzlichen Schutz gegen Covid-19. Sie können die Impfung ab drei Monaten nach Beginn der Symptome oder, wenn Sie keine Symptome hatten, ab dem Zeitpunkt, an dem Sie einen positiven Test erhalten haben, in Betracht ziehen. Personen, die sich bereits mit Covid-19 angesteckt haben und sich nach ihrer Genesung nicht impfen lassen, haben ein höheres Risiko, sich erneut mit Covid-19 zu infizieren, als Personen, die sich nach ihrer Genesung impfen lassen“, heißt es auf der Website der CDC.

Fazit: Die Schlussfolgerung, dass die Covid-Sterberate unter Amischen in den USA besonders niedrig sei, da die Glaubensgemeinschaft die Mehrheit der Corona-Schutzmaßnahmen nicht befolgt habe, ist irreführend. Studien zeigen, dass auch Amische von der Pandemie betroffen waren und diese sogar zu erhöhter Sterblichkeit führte.

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Politik, Corona, Gesundheit

Autor(en): Katharina ZWINS / Anna HOLLINGSWORTH / AFP Finnland

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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