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Dieses britische Gesetz aus 1666 dreht sich um verschollene Personen – und hat nichts mit dem Vatikan zu tun

Eigentum kann nur an Sachen, nicht jedoch an Menschen begründet werden. In sozialen Medien heißt es allerdings fälschlich, jeder Mensch sei aufgrund eines Gesetzes aus dem Jahr 1666 Eigentum des Vatikans. Bei diesem Rechtsakt handelt es sich jedoch um ein britisches Gesetz, das die Möglichkeit der Toterklärung von verschollenen Personen regelt – und mit dem Vatikan nichts zu tun hat. Zahlreiche unabhängige Expertinnen und Experten bestätigten zudem gegenüber AFP, dass es sich um eine Falschbehauptung aus der Reichsbürgerszene handelt.

„Du warst nie frei du Narr“, heißt es in einem Facebook-Video vom Oktober 2023. In einem rund dreiminütigen Clip werden zahlreiche Behauptungen zum Vatikan aufgestellt. Durch ein Gesetz mit dem Namen „Cestui que Act anno 1666“ sei etwa jeder Mensch dessen Eigentum. Zudem fänden sich in den Archiven des Vatikans, dem Zentrum der römisch-katholischen Kirche in Rom, „alle Akten jedes einzelnen lebenden sowie verstorbenen Menschen über mehrere tausend Jahre zurück“, heißt es in dem Video weiter.

Das Video wurde über 40.000 Mal angesehen und tausendfach geteilt. Seit Ende 2023 kursieren die darin enthaltenen Falschaussagen vermehrt auf Facebook. Auch auf Youtube wurde der Clip mit den Behauptungen verbreitet. Ähnliche Postings werden zudem auf Englisch geteilt und es finden sich derartige Aussagen auch in unterschiedlichen Blogeinträgen.

Zahlreiche andere Behauptungen über das im Video angeführte Gesetz sowie über die vatikanischen Archive finden sich auch auf Telegram.

Facebook-Screenshot der Behauptung: 5. Januar 2024

Die Aussagen in dem geteilten Video sind jedoch falsch und stammen aus dem Milieu um deutsche Reichsbürgerinnen und -bürger. Personen dieser Szene eint, dass sie „die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen, den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation absprechen oder sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren“, heißt es im Verfassungsschutzbericht 2022, der vom deutschen Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) veröffentlicht wird.

AFP hat bereits in der Vergangenheit Behauptungen aus der Reichsbürgerszene überprüft (etwa hier, hier und hier).

Kein vatikanisches Gesetz mit diesem Namen

Der Vatikan ist ein in der italienischen Hauptstadt Rom gelegener Stadtstaat und Sitz des Papstes sowie Zentrum der römisch-katholischen Kirche. Im Video wird die Behauptung, jeder Mensch sei Eigentum des Vatikans, auf ein Gesetz mit dem Namen „Cestui que Act anno 1666“ gestützt. Marietta Auer, Rechtswissenschaftlerin und Direktorin des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, kann dieser Behauptung nichts abgewinnen.

Auer schrieb AFP am 2. Januar 2024: „Es gibt kein vatikanisches Gesetz dieses Namens, wohl aber ein englisches mit dem richtig geschriebenen Namen ‚Cestui Que Vie Act 1666‘.“ Das Wort „Vie“ wurde demnach verschluckt. Die Expertin erklärte: „Der Titel ist altfranzösisch und bedeutet wörtlich etwa ‚Gesetz über lebende Personen von 1666‘.“ Das Gesetz (hier archiviert) sei tatsächlich von 1666 und gelte, wie im englischen Recht oft, fast unverändert bis heute. „Das Gesetz regelt die Möglichkeit der Toterklärung von möglicherweise noch lebenden Personen, die mehr als sieben Jahre ohne Nachricht in Übersee verschollen sind. Dies ist wichtig, um Erbschaften antreten und Grundbesitz weiterveräußern zu können.“

In Deutschland ist derartiges etwa im Verschollenengesetz (hier archiviert) geregelt, das eine Frist von grundsätzlich zehn Jahren vorsieht.

„Cestui Que Vie“ bedeutet auf Deutsch wörtlich „der, der lebt“ und ist laut Auer „ein allgemeiner englischer Rechtsbegriff“, der den lebenden Vorteilsempfänger aus einem Trust oder einer Lebensversicherung bezeichnet. „Daher wohl das Geschwurbel über die Abzinsung von Lebenswerten“, erklärte die Rechtswissenschaftlerin weiter. „Aus nichts von alledem, also insbesondere nicht aus dem ‚Cestui Que Vie Act 1666‘ ergibt sich indessen eine Pflicht zur Speicherung von Identitätsdaten, schon gar nicht im vatikanischen Archiv.“

Auch Rupert Klieber, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Wien, schrieb AFP am 4. Januar 2024: „Der ‚Cestui Que Vie‘ Act von 1666 ist Teil der historischen englischen (!) Gesetzgebung.“ Der Begriff „Cestui Que Vie“ bedeute in dem Kontext etwa so viel wie „Begünstigter“. Gemeint sei ein Nutznießer von Eigentum für jemand, der lange abwesend ist oder von dem unsicher ist, ob er oder sie noch lebt – zum Beispiel im Fall einer Überseefahrt oder langen Expedition aus Gründen eines Kreuzzugs oder Pilgerfahrt, so Klieber. „Konkreter Anlass waren für das Gesetz von 1666 die Pest von 1665 in England sowie der Großbrand Londons 1666, aufgrund derer tausende Menschen anderswohin geflohen waren und ihr Schicksal ungewiss war.“ Moderne Fälle betreffen etwa Begünstigte von Lebensversicherungen, fügte der Fachmann an.

Der Mensch ist „kein taugliches Eigentumsobjekt“

Aufgrund des Gesetzes aus dem Jahr 1666 sei jeder einzelne Mensch Eigentum der „vatikanischen Korporation“, heißt es in dem Video weiter fälschlich. Beim Tod eines Menschen erhalte der Vatikan zudem eine „Abfindung“ von der Person, die für den Tod verantwortlich war: „Weil du mit Erhalt der Geburtsurkunde Eigentum des Vatikan warst“, heißt es.

Laut Rechtswissenschaftlerin Auer ist der lebende Mensch jedoch keine Sache, sondern eine Person und damit „kein taugliches Eigentumsobjekt“. In Deutschland ist das etwa im Bürgerlichen Gesetzbuch (hier archiviert) geregelt. Expertin Auer erklärte weiter: „Der tote menschliche Körper oder menschliche Körperteile (Organe, abgeschnittene Gliedmaßen) sind zwar Sachen, aber weitgehend dem Rechtsverkehr entzogen. So haben die Erben kein Eigentum am Leichnam des Verstorbenen und können diesen etwa nicht übereignen.“ Das entspreche auch der „internationalen Rechtspraxis„.

Anita Ziegerhofer, Rechtshistorikerin und Professorin für Österreichische Rechtsgeschichte an der Universität Graz, schrieb AFP am 29. Dezember 2023: „Eigentum am Menschen hat niemand, wir sind durch die Menschenrechte eigenständige Individuen und abgesehen davon, Leibeigenschaft und Sklaverei, Grunduntertänigkeit sind schon lange passé.“ Dominik Steiger, Professor für Völkerrecht, Europarecht und Öffentliches Recht an der Technischen Universität Dresden, bestätigte in einer Nachricht an AFP am 3. Januar 2024: „Eigentum ist nur an Sachen möglich. Die Menschenwürde, die es verbietet, einen Menschen zum Objekt zu machen, verbietet das ebenso.“ Diese ist in Deutschland im Grundgesetz (hier archiviert) festgelegt.

Peter Oestmann, Professor für Bürgerliches Recht und Deutsche Rechtsgeschichte an der Universität Münster, schrieb AFP am 3. Januar 2024 ebenfalls: „Eigentum kann es auch nach katholisch-kirchlicher Lehre nur an Sachen geben. Menschen stehen in niemandes Eigentum, sondern haben aufgrund ihrer Gottesebenbildlichkeit eigene Würde.“ Etwas anderes galt nur für Sklaven. „Auf der anderen Seite besteht die Kirche aus der Gemeinschaft aller Getauften. Die hat mit Eigentum aber nichts zu tun.“

Menschenmengen stehen auf dem Petersplatz während Papst Franziskus am 1. Januar 2024 vom Fenster des Apostolischen Palastes im Vatikan der Menge zuwinkt – ANDREAS SOLARO / AFP

Keine derartigen Daten jedes Menschen in den Archiven des Vatikans

In dem geteilten Video wird außerdem behauptet: „In den Archiven des Vatikans befinden sich Akten jedes einzelnen lebenden sowie verstorbenen Menschen über mehrere tausend Jahre zurück. Alle festgehalten auf Geburts- und Todesurkunden. Jedes dieser Urkunden enthält den Namen, Fersenabdrücke, trockene Plazenta sowie dein Geburts- und Todesdatum.“

Kirchenhistoriker Klieber sieht diese Behauptung als „Produkt einer hochkarätig krankhaften verqueren Fantasie“. Er führte an: „Wer sollte denn die Fußabdrücke nehmen und wer sie in den ‚Vatikan‘ senden? Die Geburtsstationen Österreichs oder die anderer Länder? Welches Interesse sollten vatikanische Behörden daran haben? Abgesehen davon, dass niemand in der Welt dazu technisch in der Lage wäre, und vor dem 20. Jahrhundert Fuß- oder Fingerabdrücke noch gar nicht gemacht werden konnten.“

Rechtswissenschaftlerin Auer bezeichnete die Behauptung, die vatikanischen Archive enthielten Personendaten aller Menschen weltweit, gegenüber AFP als „groben Unfug“. Der Archivbestand beschränke sich auf Urkunden und Aktenstücke aus der päpstlichen Kanzlei, die inzwischen weitgehend erschlossen seien. „Mehrere tausend Jahre kann das Archiv schon deshalb nicht zurückreichen, weil die ersten archivalischen Dokumente aus dem Mittelalter stammen und die katholische Kirche bekanntlich nicht vor Christi Geburt gegründet wurde. Der Begriff ‚Geheimarchiv‚, der vom päpstlichen ‚Sekretariat‘ abgeleitet ist, wirkt dabei offenbar die Fantasie beflügelnd.“

Behauptungen stammen aus der Reichsbürgerszene

Zudem wird in dem geteilten Video behauptet, dass für jedes neugeborene Kind eine Seriennummer im Vatikan erstellt werde: „Die Seriennummer auf der Todesurkunde, welche wir bei Geburt Geburtsurkunde nennen, wurde zu Lebzeiten als Anleihe an der weltweiten Börse verwendet.“ Der Wert der Anleihe werde anhand des durchschnittlich erwarteten Alters und der Tätigkeit der Person geschätzt. 

Das deutsche Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) kann Behauptungen, wonach der Vatikan stets das Ziel verfolgen soll, die Menschheit zu beherrschen, nichts abgewinnen. In einer E-Mail an AFP vom 3. Januar 2024 heißt es: „Dieser Erzählung zufolge besteht jedoch die Möglichkeit, sich durch den Ankauf sogenannter ‚Vatikanaktien‘ von dieser angeblichen Herrschaft ‚freizukaufen‘. Bei dieser Verschwörungserzählung handelt es sich um ein verschwörungsideologisches Versatzstück, das teilweise auch von Szeneangehörigen aufgegriffen wird.“

Mitunter finde sich auch in sogenannten Lebenderklärungen von Reichsbürgerinnen und Selbstverwaltern eine Bezugnahme auf den „Cestui Que Vie Act“, so das BfV. In meist aufwändig gestalteten, handgeschriebenen oder formularartig gefasste Dokumenten wird versichert, ein lebendiger und freier Mensch zu sein und aus der Rechtsordnung der Bundesrepublik „auszutreten“. Die Rolle des Vatikans fasste das BfV gegenüber AFP schließlich so zusammen: „Insgesamt kommt dem Vatikan in der fragmentarischen Ideologie der ‚Reichsbürger‘ und ‚Selbstverwalter‘ niederschwellig eine Rolle als angebliche ‚dunkle Macht‘ oder böser Gegenspieler zu. Dies erklärt sich durch die Anschlussfähigkeit der Ideologie an verschiedenste Verschwörungserzählungen sowie verschwörungsaffine Milieus.“

Eine Anfrage an die Pressestelle des Vatikans zu den Behauptungen blieb bis zur Veröffentlichung dieses Faktenchecks unbeantwortet.

Fazit: Eigentum ist nur an Sachen, nicht jedoch an Menschen möglich. Online wird allerdings fälschlicherweise behauptet, jeder Mensch sei aufgrund eines Gesetzes aus dem Jahr 1666 Eigentum des Vatikans. Bei dem Gesetz handelt es sich jedoch um einen britischen Rechtsakt, der mit dem Vatikan nichts zu tun hat. Er regelt viel eher die Möglichkeit der Toterklärung von verschollenen Personen. Laut Fachleuten handelt es sich bei der Aussage um eine Falschbehauptung aus der Reichsbürgerszene.

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Geschichte, Politik

Autor(en): Katharina ZWINS / AFP Österreich

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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