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Anti-LGBTQ-Desinformation nimmt in Europa im Pride-Monat Juni zu

Jedes Jahr im Juni, im sogenannten Pride-Monat, kommt die LGBTQ-Gemeinschaft zu Feiern, Paraden und Veranstaltungen zusammen, um Vielfalt und Freiheit zu feiern und gegen die Diskriminierung von Minderheiten zu protestieren. LGBTQ steht für lesbisch, schwul, bisexuelle, transgender und queer. Zeitgleich zu den diesjährigen Veranstaltungen war jedoch in sozialen Netzwerken eine beunruhigende Entwicklung zu beobachten: Online verbreiteten sich Desinformation und Hassreden gegen die LGBTQ-Gemeinschaft und lösten extreme Online-Reaktionen aus, darunter auch Aufrufe zu Gewalt. Schon im Sommer 2022 kam es zu einer Welle an Gewalt auf Pride-Veranstaltungen in ganz Europa.

Als im Juni 2023 in Europa Pride-Veranstaltungen begannen, verbreiteten sich zeitgleich Desinformation und Hassreden gegen die LGBTQ-Gemeinschaft in sozialen Netzwerken und lösten extreme Online-Reaktionen aus, darunter auch Aufforderungen zu Gewalt.

Interessenverbände in ganz Europa erklärten, dass die Flut hasserfüllter Online-Inhalte Teil eines allgemeinen Trends sei, der weltweit zu einer zunehmenden Anti-LGBTQ-Stimmung führe. Aber besonders gerate die Gemeinschaft bei öffentlichen Veranstaltungen – auch im Zusammenhang mit dem Pride-Monat – unter Druck.

Ein polnischsprachiger Beitrag, in dem fälschlicherweise behauptet wurde, die Armee würde „LGBTQ-Einheiten“ schaffen, wurde auf Telegram, Twitter und Facebook in Serbien verbreitet. Daraufhin kommentierten Nutzerinnen und Nutzer, dass die neuen Soldatinnen und Soldaten „auf dem Scheiterhaufen verbrannt“ werden sollten, während andere die Verfolgung homosexueller Männer durch den Diktator Adolf Hitler lobten.

Die falsche Behauptung, der Triumphbogen in Paris sei in eine Regenbogen-Kunstinstallation umgewandelt worden, verbreitete sich in mehreren europäischen Sprachen. Facebook-Nutzerinnen und -Nutzer reagierten mit Beschimpfungen: Eine Person forderte die Verbrennung und Hinrichtung von LGBTQ-Personen.

In Ungarn, wo die Regierung und regierungsnahe Medienpersönlichkeiten häufig eine Anti-LGBTQ-Rhetorik gebrauchen, wurden die Pride-Feiern im Internet mit abwertenden, homophoben Begriffen bezeichnet.

In einigen Beiträgen in sozialen Netzwerken wurde die LGBTQ-Gemeinschaft mit dem Vorwurf des Kindesmissbrauchs verleumdet. Auch die Behauptung, die Community sei eine Gefahr für die Gesellschaft, wurde rege verbreitet.

In finnischsprachigen und kroatischsprachigen Beiträgen in sozialen Netzwerken wurde der satirische Charakter eines Buchs für Erwachsene vom kanadischen Komiker Brad Gosse entweder übersehen oder absichtlich ignoriert, indem fälschlicherweise behauptet wurde, dass es im Rahmen einer Kampagne für die Rechte von Transsexuellen „Sex mit Kindern propagiert“.“Wenn Sie glauben, dass es sich hier wirklich um Kinderbücher handelt, sollten Sie nicht wählen dürfen“, schrieb Gosse dazu auf Twitter.

Die Welle von falschen Behauptungen und Hassreden ist Teil eines zunehmend gewalttätigen öffentlichen Diskurses gegen LGBTQ-Personen, sagen Aktivistinnen und Aktivisten.

Einige europäische Länder wie Spanien, Slowenien und Moldawien haben neue Gesetze zum Schutz der Rechte von LGBTQ-Personen verabschiedet. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der in Brüssel ansässigen ILGA-Europe (International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association) stellt jedoch fest, dass „der öffentliche Diskurs zunehmend polarisiert und gewalttätig wird, insbesondere gegenüber transsexuellen Menschen“.

In einem Bericht der Europäischen Beobachtungsstelle für digitale Medien (EDMO) vom Mai 2023 heißt es, dass Anti-LGBTQ-Fehlinformationen und -Desinformationen besonders weit verbreitet seien und „oft Hass gegen Minderheiten, Gesetze und Institutionen schüren“.

Eine riesige Regenbogenfahne wird während der jährlichen Pride Parade in Paris am 24. Juni 2023 gehisst. – JULIEN DE ROSA / AFP

„Das gleiche Horn“

Während einige falsche Behauptungen gegen die LGBTQ-Gemeinschaft, die im Juni 2023 in sozialen Netzwerken in Europa verbreitet wurden, zuerst in den Vereinigten Staaten auftauchten, kommen andere aus Russland.

AFP fand heraus, dass ein Video, in dem behauptet wird, das polnische öffentlich-rechtliche Fernsehen würde angeblich darüber berichten, dass die Armee des Landes „LGBTQ-Einheiten“ einrichten werde, zuerst im Januar 2023 auf russischen Propagandakanälen verbreitet wurde.

„Russland und die Rechtsextremen in den USA stoßen ins gleiche Horn“, sagte Jakob Svensson, Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Malmö in Schweden gegenüber AFP im März 2023.

Svenssons Forschung zeigt ein Zusammenwirken globaler Akteure auf, die fortschrittliche Gesetze oder schlicht die Sichtbarkeit der LGBTQ-Gemeinschaft als Angriff auf „traditionelle Werte“ darstellten.

Solche Desinformationskampagnen fließen in europäische Erzählungen ein: Falsche Behauptungen über Trans-Athleten gelangten im Jahr 2023 über soziale Netzwerke von den USA nach Europa, wo ein rechtsextremer Politiker sie weiter verbreitete.

Der belgische Politiker Tom Vandendriessche hatte auf Facebook ein Foto geteilt, auf dem die Zweitplatzierte eines Schwimmwettbewerbs, die Transfrau Lia Thomas, zu sehen war. Vandendriessche teilte dazu die Behauptung, dass für Thomas als trans Frau eigens ein separates Podium geschaffen worden sei. „Männer zum Frauensport zuzulassen, ist unlauterer Wettbewerb und zerstört den Frauensport. Sollte verboten werden“, heißt es in dem Beitrag. Ein Video der Veranstaltung zeigt jedoch, dass es sich um eine Protestaktion handelt und die anderen Schwimmerinnen Lia Thomas auf dem Podium applaudieren. Die anderen Schwimmerinnen haben sich in sozialen Netzwerken für Thomas ausgesprochen, wie die belgische Faktencheck-Seite „Knack“ berichtete.

Forscherinnen und Forscher sowie Aktivistinnen und Aktivisten sagen, dass der Mangel an ausreichender Moderation in sozialen Netzwerken das Problem noch weiter verschärfe.

Aleksandra Gavrilovic, Programmkoordinatorin der serbischen Nichtregierungsorganisation für lesbische Menschenrechte „Labris„, sagte im Gespräch mit AFP im März 2023, dass vor allem junge Menschen „Inhalten ausgesetzt sind, die weder überprüft noch korrekt sind“.

Das Fehlen von Konsequenzen für diejenigen, die falsche Behauptungen und Hassreden verbreiten, „kann auch Anti-LGBTQ-Aktivistinnen und -Aktivisten und Fanatikerinnen und Fanatiker ermutigen, weil sie ungestraft auf andere losgehen können“, fügte Svensson hinzu.

Hasskampagnen und Troll-Farmen

Die Zunahme der Anti-LGBTQ-Rhetorik rund um das Thema Pride-Veranstaltungen in Europa ist Teil eines weltweiten Trends.

Einige US-amerikanische Pride-Feiern wurden in diesem Jahr reduziert, wie Organisatorinnen und Organisatoren gegenüber AFP erklärten. Das geschah insbesondere in Bundesstaaten, in denen Politikerinnen und Politiker LGBTQ-Rechte einschränken wollen. Das gehe darauf zurück, dass sich in sozialen Netzwerken falsche Behauptungen häufen, die die LGBTQ-Community mit Pädophilie und Satanismus in Verbindung bringen.

Die Zunahme von Desinformationen und Hassreden im Zusammenhang mit Pride-Veranstaltungen geschieht parallel zu einem generellen Anstieg von physischen Angriffen auf LGBTQ-Personen, wie Aktivistinnen und Aktivisten erklärten.

ILGA-Europe erklärte, dass Europa und Zentralasien im Jahr 2022 den „tödlichsten Anstieg“ von Anschlägen seit zehn Jahren erlebt hätten, als sie ihren Jahresbericht, eine Zusammenstellung von Berichten über Vorfälle aus 54 Ländern, bekannt gab.

Die jährliche Pride-Parade in Oslo, Norwegen, wurde im vergangenen Jahr nach einer tödlichen Schießerei vor einem LGBTQ-Treffpunkt abgesagt. Die Hauptstadt der Slowakei, Bratislava, wurde durch einen ähnlichen Anschlag vor einer LGBTQ-Bar erschüttert.

Miloš Kovačević, Koordinator für Rechtsfragen bei der in Serbien ansässigen Nichtregierungsorganisation „Da Se Zna!“ sagte gegenüber AFP im März 2023, dass es im September 2022 im Zusammenhang mit der Euro-Pride-Veranstaltung in Belgrad neben den Anti-LGBTQ-Behauptungen im Internet auch vermehrt zu körperlichen Angriffen gekommen sei.“Die Hälfte der Vorfälle, die wir 2022 dokumentiert haben, passierte im August und September“, sagte er.

Den möglichen Sprung von Beschimpfungen im Internet zur Gefahr im realen Leben haben Aktivistinnen und Aktivisten immer im Hinterkopf.

Remy Bonny, Geschäftsführer der EU-weiten LGBTQ-Interessenvertretung „Forbidden Colours“, erzählte AFP im Juni 2023, wie er Anfang 2023 online von „Hasskampagnen und Trollfarmen“ angegriffen wurde, weil er versucht hatte, EU-Mitglieder davon zu überzeugen, sich einer Klage gegen Anti-LGBTQ-Gesetze in Ungarn anzuschließen.

Der Analyst des von der ungarischen Regierung unterstützten Zentrums für Grundrechte schrieb in einem Twitter-Beitrag, dass Bonny „nicht in die Nähe ungarischer Kinder“ gelassen werden würde.

AFP fand Dutzende von Twitter-Beiträgen in englischer Sprache von Twitter-Konten mit ungarischen Benutzernamen, in denen Bonny und LGBTQ-Personen als Sexualstraftäter oder -täterinnen bezeichnet wurden. „Jeder weiß, wie gefährlich es sein kann, jemanden öffentlich als ‚Groomer‘ oder ‚Pädophilen‘ zu bezeichnen“, so Bonny gegenüber AFP. „Das gefährdet meine persönliche Sicherheit.“

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Politik

Autor(en): Marion DAUTRY / AFP Belgrad / AFP Deutschland / AFP Ungarn

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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