Der menschengemachte Klimawandel und seine Auswirkungen sind eines der absoluten Lieblingsthemen in einschlägigen Social-Media-Kreisen. Angezweifelt wird alles, was das Handeln des Menschen in Verbindung mit dem Klima bringt. Neueste Berechnungen zu Hitzetoten in Europa sind eines der jüngsten Beispiele dafür (1).
Diese seien viel zu hoch angesetzt, wettert etwa auch ein rechtsalternativer TV-Sender (2). Dort wird auf eine Handvoll tatsächlich deklarierte Hitzetote verwiesen, die allerdings bisher in keiner Statistik aufscheinen. Weiters wird erklärt, die niedrige Zahl sei „kein Grund sich vor dem schönen Wetter zu fürchten“.
Einschätzung: Um Todesfälle mit Hitzebezug zu errechnen, müssen viele Faktoren wie etwa Vorerkrankungen beachtet werden. Daher können lediglich Schätzwerte ermittelt werden. Diese liegen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit im Bereich der jüngst veröffentlichten europäischen Zahlen – und damit deutlich höher, als etwa im vorliegenden Posting behauptet wird. Zudem trägt der Klimawandel zu einem Anstieg an hitzebedingten Todesopfern bei.
Überprüfung: Anders als beim Kältetod (3) lässt sich Hitze nicht immer als unmittelbare Todesursache belegen. Das deutsche Robert Koch Institut (RKI) kennt vielfältige Gründe für hitzebedingte Todesfälle (4), vom klassischen Hitzschlag (5) über Vorbelastungen durch Herz-Kreislauf- oder Lungenerkrankungen. Diese Vorerkrankungen werden daher meist als direkte Todesursache angegeben (6), auch wenn Hitze letztlich für das Ableben (mit)verantwortlich war.
Dazu erklärt die Statistik Austria gegenüber APA-Faktencheck: „In der Todesursachenstatistik (ab Seite 65, Anm.) werden klinische Krankheitsdiagnosen (wie z.B. Schlaganfall oder Herzinfarkt) kodiert (7). Eine ‚lang andauernde Hitzeperiode‘ ist keine Krankheitsdiagnose. Es gibt nur die medizinische Diagnose ‚Hitzeschlag‘ (akuter Tod durch Hitzeeinwirkung ICD-Code T67). Die meisten ‚Hitzetoten‘ sterben aber nicht akut, sondern während einer längeren Phase mit sehr hohen Umgebungstemperaturen. Meist an einer Krankheit, die durch die lang andauernde Hitze forciert wurde (wie z.B. Herz-Kreislauferkrankungen bei älteren Personen).“
Deshalb müsse die Anzahl „der mit Hitze im Zusammenhang stehenden Todesfälle“ geschätzt werden: Anhand dieser „Hitze-assoziierten Übersterblichkeit“ werde abgeschätzt, wie viele Personen in einer Hitzewelle mehr sterben als erwartbar wäre. „Dies setzt eine komplexe Modellrechnung voraus (welche laufend weiterentwickelt wird)“, heißt es dazu.
Verschiedene Modelle zur Berechnung
Die Wissenschaft greift aufgrund der Datenlage auf verschiedene Modelle zurück, aus denen sich auch unterschiedlich hohe Todeszahlen ergeben. Die Berechnungen, auf die sich das im Posting verlinkte Video (8) bezieht, wurden kürzlich in einem Artikel bei Nature Medicine veröffentlicht (9) und verwenden Eurostat-Daten aus 35 europäischen Ländern aus dem Jahr 2022. Darin findet sich die Schätzung von 61.672 Todesfällen mit Hitzebezug zwischen 30. Mai und 4. September 2022.
Andere Modelle setzen diese Zahlen niedriger an. So berechnete die WHO für die Region Europa im Jahr 2022 rund 15.000 Hitzetote (10). Die WHO-Definition fasst den Begriff „Europa“ weiter und zählt dazu mehr als 50 Länder, darunter auch die Ukraine, Russland und die Türkei (11). Dafür wird der Begriff „Hitzetote“ enger definiert. Den Daten zufolge sei die Hauptursache für wetterbedingte Todesfälle Hitzestress, wenn der Körper also nicht mehr selbst für seine Kühlung sorgen kann.
Für Deutschland greift die WHO auf Zahlen des RKI zurück (12). In dessen epidemiologischem Bulletin wird auch die Methodik der Berechnungen genau beschrieben. So ergibt sich über die Kalenderwochen 15 bis 36 eine hitzebedingte Übersterblichkeit von rund 4.500 Sterbefällen. Der Schwellenwert für Wochenmitteltemperaturen – also auch nachts (13) – bewegt sich demnach im Allgemeinen in der Nähe von etwa 20 Grad Celsius.
Die deutlich höheren Werte aus dem kürzlich veröffentlichten Paper (für Deutschland werden dort etwa 8.173 Opfer ausgewiesen) erklären sich laut Matthias an der Heiden vom RKI mit unterschiedlichen Definitionen von „Hitze“ (14). Sein Institut setze die Wohlfühltemperatur schlicht um ein bis drei Grad Celsius höher an als die Forscher um Joan Ballester vom Barcelona Institute for Global Health.
Herkunft der behaupteten Zahlen unklar
Woher die Zahlen aus dem Posting kommen, lässt sich nicht klar zurückverfolgen: Die angeblich berichteten 22.000 Hitzetoten lassen sich ebenso wenig belegen wie die 16 behaupteten tatsächlichen Hitzetode in Deutschland im Jahr 2022.
Im verlinkten Video ist von 16 „tatsächlich gezählten Hitzetoten“ in Deutschland die Rede, die so auch im Ballester-Paper vorkämen. Die einzige Verbindung zwischen den Begriffen „Germany“ und „16“ im gesamten Paper findet sich bei den Datenquellen und betrifft die Anzahl der Regionen, aus denen die Daten stammen. Tatsächlich ist der deutsche Wert verglichen mit seiner Größe relativ niedrig. Selbst aus Österreich wurden aus 35 Regionen Daten übermittelt.
Das deutsche Statistische Bundesamt erklärte auf APA-Anfrage, dass für das Jahr 2022 noch keine konkreten Zahlen vorliegen – die Todesursachenstatistik 2022 werde voraussichtlich erst Ende 2023 veröffentlicht. Von 1998 bis 2021 sind demnach Daten zu Sterbefällen nach „Schäden durch Hitze und Sonnenlicht“ abrufbar (15). Hier ist vor allem trotz des niedrigen Samples das hohe Durchschnittsalter der Toten auffällig (16).
Sommer ist nicht gleich Sommer
Nicht nur die Opferzahlen weichen je nach Berechnungsmethode voneinander ab. Auch die Definitionen von Sommer sind unterschiedlich, selbst von Land zu Land. Während das RKI die Kalenderwochen 15 bis 36 heranzieht, arbeitet das österreichische Forscherteam von AGES und GeoSphere Austria mit Daten aus den Kalenderwochen 21 bis 39 (17). Demnach sind „heiße Wochen“ alle mit einem Tagesminimum „der heißesten Nacht dieser Woche als Referenzwert, sobald diese über 18 °C liegt“.
Im Ballester-Paper wurden einheitlich die Werte aus den Kalenderwochen 22 bis 35 verwendet. Dieses weist für den genannten Zeitraum eine 95-prozentige Wahrscheinlichkeit aus, dass zwischen 37.643 und 86.807 Menschen aufgrund von Hitze starben. Der gemittelte Wert daraus sind die ausgewiesenen knapp 62.000 Toten.
Für beide Berechnungsmethoden gilt: Sterben in heißeren Wochen mehr Menschen als in vergleichbaren Wochen in anderen Jahren, dann wird diese Übersterblichkeit als hitzebezogen angenommen – auch dann, wenn bereits Vorerkrankungen vorlagen. Die Anzahl der Todesfälle wird mit Temperaturanomalien in Beziehung gesetzt. Als Basistemperaturen zählen bei Ballester etwa Mittelwerte aus dem Referenzzeitraum 1991 bis 2020.
Deutlich mehr ältere und arme Menschen betroffen
Aus Daten des europaweiten Mortalitäts-Monitoring (EuroMOMO) lässt sich ablesen, dass zwar wesentlich mehr Menschen in den Wintermonaten sterben, kleinere Spitzen aber auch um die Jahresmitte auftreten (18). Diese waren im Jahr 2022 signifikant höher als in den Jahren davor. Augenscheinlich ist demnach auch, dass eine erhöhe Mortalität im Sommer vor allem in der Bevölkerungsgruppe über 45 Jahren eine Rolle spielt (19).
Daher nennt die Zeitschrift „Spektrum“ die Opfer auch „unsichtbare Tote“ (20). Demnach sind „alte, allein lebende und oft arme Menschen, deren Ableben gemeinhin buchstäblich hinter verschlossenen Türen geschieht“ am stärksten vom Hitzetod gefährdet. Zudem sind Frauen viel öfter betroffen, weil sie älter als Männer werden und auch deshalb deutlich öfter alleine leben.
Sommer werden immer wärmer
Dass sich die hitzebedingten Sterbefälle zuletzt häuften, liegt vor allem daran, dass die Sommer immer wärmer werden. Nicht nur im Rekordsommer 2022 (21), sondern auch in den Jahren davor wurden zahlreiche Temperaturrekorde aufgestellt. Die Liste der wärmsten 25 Jahre der österreichischen Messgeschichte besteht fast ausschließlich aus Jahren seit 1990 (22).
Hitzebedingte Übersterblichkeit gab es in Österreich bereits 2013, 2015, 2017 und 2018 (23). Laut Zahlen des RKI deckt sich dieser Trend mit den signifikant erhöhten Werten aus Deutschland, wo er sich auch in den Jahren 2019, 2020 und 2022 fortsetzte. All diese Jahre finden sich laut GeoSphere Austria in den oben genannten Top 25.
Vor allem der Klimawandel und die dadurch immer häufiger auftretenden Hitzewellen verschärfen die Situation zunehmend (24). Laut dem Ballester-Papier war die Durchschnittstemperatur im Sommer 2022 in jeder einzelnen Woche höher als in den Jahren zuvor. Demnach war allein die paneuropäische Hitzewelle zwischen dem 18. und dem 24. Juli für mehr als 11.500 Tote verantwortlich (25).
Klimawandel als Grundstein für häufige Hitzewellen
Dass weltweit mehrere Hitzewellen parallel auftreten, wäre früher „im Grunde unmöglich“ gewesen, sagte die Klimaforscherin Friederike Otto vom Imperial College London jüngst zur neuen Schnellanalyse (26) des Forschungsnetzwerks World Weather Attribution (WWA). Die Rolle des Klimawandels bezeichnete sie als „absolut überwältigend“ und warnte zugleich: „Solange wir fossile Brennstoffe verbrennen, werden wir mehr und mehr dieser Extreme sehen.“
Vor den Auswirkungen dieser düsteren Aussichten wurde bereits im Rahmen der Alpbacher Gesundheitsgespräche im Jahr 2019 gewarnt (27). Demnach hätte ein Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um zwei Grad Celsius neben allen anderen negativen Effekten (28) rund 50 Prozent mehr Hitzetote zur Folge. Noch einmal ein bis zwei Grad mehr würden eine Vervierfachung der aktuellen Werte bedeuten.
Quellen:
(1) Facebook-Posting: https://go.apa.at/OBCykcDu (archiviert: https://archive.ph/EzkbH)
(2) Faktenfinder der ARD zu AUF1: https://go.apa.at/30XuWLz0 (archiviert: https://archive.ph/CLqEz)
(3) Informationen zum Kältetod: https://go.apa.at/5UNtTAOY (archiviert: https://archive.ph/aMxr6)
(4) Der Spiegel zur Schätzung des RKI: https://go.apa.at/iXvGRRy3 (archiviert: https://archive.ph/9LuWc)
(5) Informationen zum Hitzschlag: https://go.apa.at/It1HT1Nt (archiviert: https://archive.ph/Nm0RL)
(6) PULS24 zum Ballester-Paper: https://go.apa.at/woq5o7gI (archiviert: https://archive.ph/gZ1dD)
(7) Jahrbuch der Gesundheitsstatistik 2021: https://go.apa.at/MonYGnXx (archiviert: https://perma.cc/9NX4-BTWY)
(8) AUF1-Video aus dem Facebook-Posting: https://go.apa.at/2R0yMI8V (archiviert: https://go.apa.at/m0oGiGH0)
(9) Ballester-Paper in „Nature Medicine“: https://go.apa.at/1gOXOCBn (archiviert: https://perma.cc/92SX-CKUA)
(10) Aussendung der WHO: https://go.apa.at/9eupxBgh (archiviert: https://archive.ph/qaA2J)
(11) Tagesspiegel zur Berechnung der WHO: https://go.apa.at/BOPpsCf3 (archiviert: https://archive.ph/quGEp)
(12) RKI: Hitzebedingte Mortalität in Deutschland 2022: https://go.apa.at/ykjZTW44 (archiviert: https://perma.cc/EQ2S-DK8G)
(13) dpa-Faktencheck zur deutschen Messmethodik: https://go.apa.at/p6o8Jz2g (archiviert: https://archive.ph/0yhCQ)
(14) orf.at zu den Ballester-Zahlen: https://go.apa.at/cFlpZl5T (archiviert: https://archive.ph/3fpkN)
(15) Tabelle und Diagramm auf gbe-bund.de: https://perma.cc/43D2-MZUK (nur archiviert)
(16) Altersschnitt der Todesfälle „Schäden durch Hitze“: https://perma.cc/43XB-YNPH (nur archiviert)
(17) AGES-Informationen zu Hitze: https://go.apa.at/RYeVI02Z (archiviert: https://archive.ph/sj7rV)
(18) Aktuelle EuroMOMO-Zahlen: https://archive.ph/tOnig (nur archiviert)
(19) EuroMOMO-Daten nach Altersgruppe: https://perma.cc/US5A-E8TW (nur archiviert)
(20) Spektrum zu „unsichtbaren Toten“: https://go.apa.at/0ByIn2Ry (archiviert: https://archive.ph/Nk7R4)
(21) Copernicus-Presseaussendung: https://go.apa.at/9Fx3G6I3 (archiviert: https://perma.cc/DA6G-VEZK)
(22) Vorläufige ZAMG-Klimabilanz 2022: https://go.apa.at/Uz7bJtAl (archiviert: https://archive.ph/sQYg3)
(23) Der Standard 2019 zu Hitzetoten: https://go.apa.at/qDolpkdh (archiviert: https://archive.ph/kvGbv)
(24) ORF Science zu Hitzewellen und Klimawandel: https://go.apa.at/GSK0oGtq (archiviert: https://archive.ph/ELsgF)
(25) MDR zum „Rekordsommer 2022“: https://go.apa.at/SxQiGDtV (archiviert: https://archive.ph/LtHAc)
(26) WWA-Schnellanalyse: https://go.apa.at/kfzVrg64 (archiviert: https://archive.ph/leU18)
(27) Der Standard zu Hitze und Mortalität: https://go.apa.at/dnRB6gzf (archiviert: https://archive.ph/8gHEr)
(28) Moment.at zur Klimakrise: https://go.apa.at/SDtNgxtV (archiviert: https://perma.cc/QW4P-NALA)
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