Ein Video von blutverschmierten syrischen Schulkindern, die nach einer Explosion schreien, wurde im Internet fälschlicherweise als Gräueltat im Gazastreifen dargestellt und ist exemplarisch für einen Desinformationstrend, der nach Ansicht von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Opfer beider Kriege entmenschlicht.
Eine Flut echter Bilder aus Israel und dem Gazastreifen hat die Schrecken des Konflikts offenbart, der am 7. Oktober 2023 ausbrach, als Hamas-Kämpfer einen beispiellosen Angriff auf den Süden Israels starteten, gefolgt von einem israelischen Gegenangriff mit zehntausenden zivilen Todesopfern, so Zahlen der Hamas. Doch aktuelle Aufnahmen wetteifern auch mit alten Bildern aus dem syrischen Bürgerkrieg online um Aufmerksamkeit.
AFP hat bereits zahlreiche Beiträge in sozialen Medien als falsch enttarnt, in denen Videos und Fotos aus Syrien in einem falschen Kontext gestellt wurden. Die ältesten Aufnahmen stammen aus dem Jahr 2013. Sie sind Teil eines Krieges der verzerrten Darstellungen, der sich parallel zu den tatsächlichen Kämpfen zwischen Israel und den Hamas-Kämpfern abspielt.
Die Aufnahmen eines Lehrers von entsetzten Schulkindern waren, wie auch andere Aufnahmen, die im Internet verfügbar sind, ursprünglich dazu gedacht, den andauernden Bürgerkrieg im von Präsident Bashar al-Assad regierten Land zu dokumentieren, der 2011 ausbrach.
Darin zu sehen ist ein Artillerieangriff der Regierungstruppen vom 2. Dezember 2023 auf das Dorf Afes. Die Weißhelme-Organization, eine Rettungsgruppe die im syrischen Rebellengebiet arbeitet, sagte AFP gegenüber, der Angriff habe Schrapnell in die Klassenzimmer einer Schule katapultiert und dabei mehrere Schüler verletzt.
Eine Lehrerin verstarb später an den Wunden, die sie wegen der Bombardierung erlitten hatte.
Doch einige teils reichweitenstarke User behaupteten fälschlicherweise, dass die Aufnahmen hunderte Kilometer entfernt im Gazastreifen gemacht worden sein, wo Israel seine Militäroffensive gegen die Hamas fortsetzt.
Einige Beiträge auf X beinhalteten die Falschbehauptung, das Video zeige den Beschuss von Schulkindern durch israelische Scharfschützen.
Der Direktor der syrischen Schule, Kenan Masoud, sagte AFP gegenüber, es sei nach wie vor eine Herausforderung, die Schule zu öffnen und dass ihn die Schreie der Kinder bis heute verfolgen würden. Die Falschinformation nannte er „traurig und widerlich“. „Bilder von Kindern und Verletzten sind keine Ware zum Verkaufen“, sagte er.
Wahres Schrecken
Ismail al-Abdullah, ein freiwilliger Helfer der Weißen Helme, sagte, dass die Fehlinformation „die Schwere des wahren Schreckens für Zivilisten“ sowohl in Palästina als auch in Syrien untergrabe. „Unsere Geschichte ist keine Erzählung, die Menschen einfach verändern können, um sich eine neue Geschichte auszudenken“, sagte er gegenüber AFP.
Das mit Falschinformationen geteilte Video konkurriert online mit echten Aufnahmen aus dem Gazastreifen um Aufmerksamkeit. Kinder sind eine der am stärksten von dem Krieg betroffenen Gruppen und die Aufnahmen wurden oft von professionellen Journalistinnen und Journalisten unter großer Gefahr gemacht.
Die Bilder mit falschem Kontext, so Expertinnen und Experten, verschleiern die Not der Zivilbevölkerung in beiden Kriegsgebieten und trüben das Verständnis der Öffentlichkeit für die Konflikte.
Ein Video, das angeblich die Gräuel im Gazastreifen zeigte, zeigte in Wirklichkeit einen syrischen Jungen im Jahr 2014, der um seine getöteten Geschwister weinte. Ein anderes Foto aus dem Jahr 2013, das tote syrische Kinder zeigt, wurde im Internet ähnlich falsch dargestellt, auch von einer US-Kongressabgeordneten.
„Der Sinn von Desinformation ist nicht nur, Sie dazu zu bringen, eine Unwahrheit zu glauben, sondern auch, Sie gegen die ‚andere Seite‘ zu polarisieren“, sagte Lee McIntyre, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Boston, gegenüber AFP. „Desinformierer neigen dazu, Bilder mit hohem emotionalen Gehalt zu verwenden. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Bilder aus dem aktuellen oder einem vergangenen Konflikt handelt.“
Zu denjenigen, die alte Bilder recyceln, gehören auch prominente Influencer, die die Gräueltaten des syrischen Regimes einschließlich des gut dokumentierten Einsatzes von Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung leugnen, so die Investigativplattform Bellingcat.
Viele Urheber, die solche Desinformationen auf X verbreiten, nutzen ein Programm zur Aufteilung von Werbeeinnahmen, das Forscherinnen und Forschern zufolge Anreize für falsche, extreme Inhalte bietet, um das Engagement zu steigern.
Zu ihnen gehört der rechtsextreme, US-Amerikanische Influencer Jackson Hinkle, der im November 2023 ein Bild einer Frau mit einem Spielzeugauto in der Hand teilte, die die Treppe eines zerstörten Gebäudes hinabsteigt, mit der Bildunterschrift: „Ihr könnt den palästinensischen Geist NICHT brechen.“
Tatsächlich wurde das Bild 2016 in der syrischen Stadt Homs aufgenommen, wie AFP mithilfe einer umgekehrten Bildsuche herausfand.
Schatten des Zweifels
„Die Gefahr einer falschen Beschriftung besteht darin, dass sie in die Hände von Gegnern fällt und ihnen eine einfache Möglichkeit bietet, legitime Ansprüche abzutun“, sagte Roger Lu Phillips, juristischer Direktor des Syrian Justice and Accountability Centre.
Die Falschbeschreibung echter Aufnahmen wie des Clips von der Schule in Afes ist nicht neu. Alte Bilder wurden im Internet auch missbraucht, um andere Kriegsgebiete wie die Ukraine zu illustrieren. Die Falschdarstellung geschehe „oft zu propagandistischen Zwecken“ und manchmal auch „aus reiner Faulheit“, so Phillips.
Solche Desinformation „wirft Schatten des Zweifels in die Herzen der Menschen“, sagte Ranim Ahmed von der Menschenrechtsgruppe The Syria Campaign. Es könnte, so fügte sie hinzu, Außenstehende dazu zwingen, „lieber zu schweigen, als Solidarität zu zeigen oder sich für die Menschenrechte einzusetzen“.
Die Verwirrung darüber, was wirklich aus dem aktuellen Konflikt stammt, gefährde auch künftige Untersuchungen von Kriegsverbrechen, so Experten. „Es ist wichtig, Bilder mit einem gewissen Maß an Vorsicht zu betrachten“, sagte Sophia Jones, eine Forscherin von Human Rights Watch, gegenüber AFP. Solche Unwahrheiten „tragen zu einem gefährlichen Mangel an Vertrauen in alle Bilder und Ereignisse vor Ort bei“, selbst wenn es dokumentierte Fälle von Misshandlungen und Kriegsverbrechen gibt.