Westliche Botschaften in der Türkei haben Behauptungen zurückgewiesen, sie hätten ihre Botschafter kurz vor dem verheerenden Erdbeben vom 6. Februar aus dem Land abgezogen. Dieser unbelegte Vorwurf wurde in sozialen Medien geteilt, wo Verschwörungstheorien verbreitet wurden, wonach die Katastrophe geplant und künstlich erzeugt war. Medienberichten und Aktivitäten in sozialen Medien zufolge hielten sich die Botschafter zum Zeitpunkt des Bebens im Land auf. Erdbeben entstehen auf natürliche Weise.
User haben die Liste der angeblich abgezogenen Botschafter auf Twitter und Facebook geteilt. Auf Telegram sahen Zehntausende die Behauptung.
Die Behauptung: „Liste der Länder, die ihre Botschafter 24 Stunden vor dem Erdbeben aus der Türkei abgezogen haben“, heißt es in den Postings. Dazu listen die Nutzerinnen und Nutzer folgende Länder auf, deren Botschafter angeblich das Land verlassen haben sollen: Kanada, USA, Großbritannien, Deutschland, Belgien, Italien, die Niederlande und Frankreich. Manche Beiträge geben einen Artikel der Nachrichtenagentur Associated Press als vermeintliche Quelle an.
In den Kommentaren bringen User die Behauptung mit einer von AFP bereits überprüften Verschwörungserzählung in Verbindung. Sie vermuten, dass die Katastrophe absichtlich von einer US-Technologie namens HAARP verursacht worden sei: „Die werden doch nicht etwa was gewusst haben. H.A.A.R.P.“
Ähnliche von AFP überprüfte Falschbehauptungen hatten bereits diplomatische Verwerfungen aufgrund des Erdbebens thematisiert. So wurde fälschlich behauptet, dass sich der türkische Innenminister Süleyman Soylu aufgrund eines angeblichen Zusammenhangs des Erdbebens mit der Nato-Politik der Türkei wütend an den US-Botschafter in der Türkei gerichtet hatte.
Am 6. Februar 2023 wurden die Türkei und Syrien von einem Erdbeben der Stärke 7,8 erschüttert. Die Türkei liegt auf einer der aktivsten Erdbebenzonen der Welt. Laut Expertinnen und Experten habe eine Kombination verschiedener Faktoren das Beben im Februar besonders tödlich gemacht, darunter der Zeitpunkt, der Ort und die schwache Konstruktion der eingestürzten Gebäude.
Der Artikel, der in einigen Beiträge als Quelle angeführt wird, wurde bereits vor dem Erdbeben veröffentlicht. Er handelt von der Reaktion westlicher Botschaften auf Sicherheitsbedenken in der Türkei und hat nichts mit dem Erdbeben zu tun. Mehrere Botschaften der in der Behauptung genannten Länder bestätigten gegenüber AFP, dass sie zum Zeitpunkt der Naturkatastrophe in Anwesenheit des Botschafters betriebsbereit waren.
AP Bericht handelt von diplomatischen Spannungen
Die Beiträge nennen teilweise einen Artikel der US-Nachrichtenagentur Associated Press als Quelle. Im Titel ist vom Erdbeben allerdings keine Rede, es heißt: „Die Türkei sagt, der Westen habe keine Einzelheiten über die Sicherheitsbedrohung mitgeteilt“. Der Artikel wurde am 3. Februar 2023, also drei Tage vor dem Erdbeben, veröffentlicht. Der Text behandelt in Wirklichkeit Spannungen zwischen der Türkei und einigen westlichen Ländern. Zuvor hatten einige Länder ihre Konsulate in Istanbul aufgrund von Sicherheitsbedenken geschlossen, wie AFP berichtete.
Diese Sicherheitswarnungen kamen zu einem Zeitpunkt diplomatischer Spannungen aufgrund der Weigerung der Türkei, Schwedens und Finnlands Beitrittsgesuch zum Verteidigungsbündnis Nato zuzustimmen. Verstärkt wurde das durch Proteste, bei denen ein antimuslimischer Rechtsextremist Kopien des Korans vor den Botschaften Ankaras in Stockholm und Kopenhagen verbrannte.
Die Türkei äußerte ihre wachsende Frustration über die Sicherheitswarnungen des Westens und bestellte die Botschafter und hochrangige Abgesandten von neun westlichen Staaten ein.
Wie AFP berichtete, nahmen Botschafter und hochrangige Vertreter aus Belgien, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Schweden, der Schweiz und den Vereinigten Staaten am 2. Februar in Ankara an einer Sitzung des Außenministeriums teil.
Botschaften dementieren
Vertreter der Botschaften von Frankreich, Kanada, Deutschland, Belgien, Italien und den Niederlanden bestätigten gegenüber AFP, dass ihre Botschafterinnen und Botschafter zum Zeitpunkt des Erdbebens im Land waren.
„Der niederländische Botschafter ist nicht evakuiert worden. Er hat die Türkei seit Anfang 2023 nicht verlassen“, antwortete beispielsweise Soleiman Ghafouri, zweiter Sekretär der niederländischen Botschaft in der Türkei, und fügte hinzu, dass Botschafter Joep Wijnands zum Zeitpunkt der Katastrophe zu Hause in Ankara war.
Am 23. Februar 2023 erklärte ein Sprecher des belgischen Außenministeriums, des Föderalen Öffentlichen Dienstes für Auswärtige Angelegenheiten (FÖD), gegenüber AFP, dass das belgische Konsulat in Istanbul aufgrund der „terroristischen Bedrohung“ nach den Koranverbrennungen zwar weiterhin für die Öffentlichkeit geschlossen sei. Das Konsulat sei jedoch einsatzbereit und die belgische Botschaft in Ankara am Tag des Erdbebens geöffnet gewesen. „Alle belgischen diplomatischen und konsularischen Mitarbeiter in der Türkei waren um fünf Uhr morgens am 6. Februar voll einsatzbereit, um die Folgen des Erdbebens zu bewältigen, einschließlich des Schicksals von mehr als 200 Belgiern, die in den am stärksten betroffenen Gebieten leben“, sagte er gegenüber AFP.
Während die US-Botschaft auf eine Anfrage von AFP nicht antwortete, erschien der US-Botschafter in der Türkei Jeffry Flake um 12.07 Uhr Ortszeit am nächsten Tag auf CNN aus Ankara und sprach mit Moderator Jake Tapper über das Erdbeben.
Außerdem wurden der französische und der niederländische Botschafter zum Zeitpunkt des Erdbebens in der Türkei fotografiert. Die französisch-türkische Allianz Küçük Kulüp Derneği in Izmir twitterte ein Foto des französischen Botschafters Hervé Magro bei einem Besuch am 3. Februar 2023. Der niederländische Botschafter Joep Wijnands wurde am selben Tag bei einem Treffen mit dem türkischen Politiker Ahmet Davutoglu in dessen Parteizentrale in Ankara fotografiert.
Die von AFP ausgewerteten Aktivitäten in sozialen Medien scheinen die Aussagen der Botschaften zu bestätigen. Tweets der britischen Botschafterin in der Türkei, Jill Morris, brachten sie ebenfalls um die Zeit des Bebens in die Türkei. Sie twitterte ein Bild von ihrem Besuch im britischen Generalkonsulat in Istanbul am 26. Januar 2023, einen Beitrag über das Beben um 8.07 Uhr Ortszeit am 6. Februar – dem Tag des Bebens – und ein Bild vom 13. Februar 2023 auf dem sie bei der Spendenverteilung in Ankara hilft.
Fazit: Es gibt keine Hinweise darauf, dass Botschafter einiger westlicher Länder kurz vor dem Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion die Türkei verlassen haben. Vertreter der Botschaften von Frankreich, Kanada, Deutschland, Belgien, Italien und den Niederlanden bestätigten gegenüber AFP, dass ihre Botschafter zum Zeitpunkt des Erdbebens im Land waren. Erdbeben haben natürliche Ursachen.