Chemotherapie ist eine medikamentöse Behandlung von Krebserkrankungen. Online wurde zuletzt behauptet, Fachleute würden selbst nie einer solchen Therapie zustimmen, da diese unwirksam und schädlich sei. Das ist falsch. Experten haben gegenüber AFP bestätigt, dass Chemotherapie Tumorzellen heilen kann und die Krankheitsausbreitung keineswegs fördert.
Userinnen und User teilen aktuell ein Video auf Facebook. „Krebsärzte würden selbst niemals einer Chemotherapie zustimmen. Das ist auch richtig so. Denn es gibt viele Alternativen zu dieser zerstörerischen Chemotherapie (…)“, lautet der Text in einem Posting dazu vom 18. Juli 2023.
Der rund sechsminütige Clip enthält zahlreiche Behauptungen zum Thema Chemotherapie. Diese wird darin etwa als „Schwindel“ bezeichnet. Zudem wachse ein Tumor danach sogar schneller, heißt es.
Auf Telegram wurde der Beitrag über 4000 Mal angesehen. In zahlreichen deutschsprachigen Blogs mit teilweise über 10.000 Aufrufen wurden die Behauptungen ebenfalls geteilt (etwa hier, hier, hier und hier). Bereits im Jahr 2015 wurde das Posting mit ähnlichen Behauptungen in sozialen Medien verbreitet.
Chemotherapie ist eine medikamentöse Therapie von Krebserkrankungen. Infektionserreger und Tumorzellen werden durch den Einsatz synthetischer Stoffe (Chemotherapeutika) möglichst ohne Schädigung des Organismus abgetötet. Eine Chemotherapie kann vor oder nach einer Operation, alleine oder zusammen mit anderen Therapieoptionen durchgeführt werden. Die Wirkstoffe der Chemotherapie werden entweder durch Infusionen, Injektionen oder in Form von Tabletten verabreicht. Ihr Zweck besteht darin, den Vermehrungszyklus der Krebszellen zu unterbrechen. Dadurch kann das Immunsystem zwischenzeitlich geschwächt werden.
AFP hat in der Vergangenheit bereits Aussagen zum Thema Krebserkrankungen überprüft (etwa hier, hier und hier). Faktenchecks zum Thema Gesundheit sammelt AFP hier.
Umfrage unter Onkologinnen und Onkologen
Das aktuell geteilte Video rät von Chemotherapien ab und empfiehlt stattdessen etwa eine bestimmte Ernährung. Um das zu untermauern, wird ein Balkendiagram gezeigt. Laut diesem würde die Mehrheit der Krebsärzte (79 Prozent) selbst niemals einer Chemo zustimmen. Eine Rückwärtssuche nach dem Diagramm lieferte AFP keine einschlägigen Resultate.
Als Quelle wird in der Grafik eine Website namens „faq4h“ angeführt. Auf einer archivierten Version fand AFP den Hinweis, dass es sich um einen Fragebogen des „McGill Krebs Centers“ in den USA handeln würde. Dieser wurde in Publikationen mehrerer, mitunter kontroverser Autoren (etwa hier und hier) thematisiert und soll 1986 an 118 Onkologinnen und Onkologen geschickt worden sein. 79 Ärztinnen und Ärzte hätten reagiert, 58 davon (73 Prozent) hätten geantwortet, dass sie selbst niemals eine Chemotherapie machen würden, weil sie „erstens zu ineffektiv“ und „zweitens zu giftig“ sei.
Eine Websuche ergab, dass es sich um eine Umfrage aus dem Jahr 1985 zu nicht-kleinzelligem Lungenkrebs handeln dürfte. Diese wurde von Fachleuten unterschiedlicher kanadischer Einrichtungen wie etwa der McGill University in Montreal an 118 Ärztinnen und Ärzte, die Lungenkrebs behandeln, verschickt. Die Ergebnisse zeigen, dass damals tatsächlich weitgehend Konsens unter den befragten kanadischen Lungenkrebsspezialisten herrschte, selbst keine Chemotherapie durchlaufen zu wollen.
Zwischen der Befragung und der Veröffentlichung der Ergebnisse gab es allerdings neue Erkenntnisse zu erhöhten Überlebensraten durch Chemotherapie. In der Studie selbst wird daher vermutet, dass sich die Einstellung der Ärzte dadurch seither bereits verändert haben könnte. Chemotherapien werden in der Umfrage jedenfalls nicht als gefährlich bezeichnet.
Anfragen von AFP an das Cancer Institute der McGill University in Montreal (die Universität befindet sich in Kanada, nicht in den USA, wie auf der im geteilten Beitrag genannten Website angeführt) sowie an das Health Centre derselben Universität blieben bis zur Veröffentlichung dieses Faktenchecks unbeantwortet. In Publikationen des Cancer Institutes sowie der McGill University werden Chemotherapien jedoch regelmäßig als wirksame Methode gegen Krebserkrankungen angeführt (etwa hier und hier). Gleichzeitig werden auch Nebenwirkungen transparent gemacht.
Chemotherapie kann Krebserkrankungen heilen
Wolfram Gössling ist Onkologe, er forscht und unterrichtet an der Harvard Medical School in Boston. In der Vergangenheit erkrankte er selbst an Krebs. In seinem aktuellen Buch erzählt er seine Krankheitsgeschichte und berichtet von seiner Heilung. Er schreibt unter anderem über die Chemotherapie, der er sich auch selbst unterzogen hat.
Gegenüber AFP erklärten Fachleute, die zugrundeliegenden Bedenken nicht nachvollziehen zu können.
Christoph Zielinski, Onkologe und Leiter des Central European Academy Cancer Center (ACC) der Wiener Privatklinik, schrieb AFP am 12. September 2023: „Selbstverständlich behandelt Chemotherapie Tumorzellen und fördert die Krankheitsausbreitung keineswegs.“
Bernhard Wörmann, medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) und Professor an der Charité Berlin, antwortete am 12. September 2023 auf eine AFP-Anfrage: „In Deutschland gibt es derzeit mehr als 60 zugelassene Arzneimittel aus dem Bereich der Chemotherapie. Auch die WHO (Weltgesundheitsorganisation, Anm. d. Red.) listet diese Arzneimittel als ‚essential‘, in Deutschland wird der Begriff ‚unverzichtbar‘ verwendet.“
Im Übrigen gab es auch damals Umfragen, die andere Resultate lieferten. Aus einer Umfrage aus dem Jahr 1998 im Zusammenhang mit nicht-kleinzelligem Lungenkrebs, veröffentlicht im Magazin Oncology des amerikanischen Cancer Networks, geht zum Beispiel hervor: Rund 65 Prozent der teilnehmenden Onkologinnen beziehungsweise Hämatologen (126 von 300 Personen antworteten auf den Fragebogen) gaben an, dass sie eine Chemotherapie durchführen würden. Diese Befragung wurde, so heißt es, in Reaktion auf die oben beschriebene Umfrage aus dem Jahr 1985 durchgeführt, und sollte klären, ob die Daten noch gültig sind. „Die Ergebnisse der vorliegenden Umfrage deuten darauf hin, dass die Bereitschaft zu einer Chemotherapie gestiegen ist“, wird bilanziert.
Dieses Foto vom 17. November 2021 zeigt einen Labortest bei der Biotech-Firma Transgene, die an der Entwicklung eines Neoantigen-Krebsimpfstoffs arbeitet, in Illkirch-Graffenstaden, Ostfrankreich – PATRICK HERTZOG / AFP
Video enthält zahlreiche Falschinformationen
Das Video enthält zudem zahlreiche Falschaussagen zum Thema Chemotherapie. Es wird etwa behauptet, eine Chemotherapie fördere „Wachstum und Ausbreitung von Krebszellen.“ Und: „Im Grunde bedeutet das nichts anderes, als dass der gesamte Prozess der Chemotherapie völlig wertlos ist und Tumorpatienten tatsächlich eher schadet.“
Matthias Preusser, Universitätsprofessor und Leiter der Klinischen Abteilung für Onkologie an der Medizinischen Universität Wien, erklärte gegenüber AFP am 15. September 2023: „Chemotherapie zielt darauf ab, Krebszellen abzutöten oder sie in ihrem Wachstum zu bremsen. Krebszellen können aber Resistenz durch Chemotherapie entwickeln und einige Chemotherapeutika können als Langzeitnebenwirkung mit einer Latenz von Jahren bis Jahrzehnten Krebsentstehung fördern. Dieses Risiko ist bei der Indikationsstellung zur Chemotherapie zu beachten und in der Nutzen-Risiko Abwägung einzubeziehen.“
Preusser schrieb außerdem: „Chemotherapie hat bei vielen Tumorarten bewiesene lebensverlängernde Wirkung, in einigen Situationen kann durch Chemotherapie auch die Krebserkrankung geheilt werden. Es gibt aber auch Krebserkrankungen und klinische Situationen, in denen eine Chemotherapie nicht sinnvoll ist.“ Die Entscheidung für oder gegen eine Chemotherapie wird anhand international anerkannter Richtlinien (hier archiviert) getroffen, wie zum Beispiel die der European Society for Medical Oncology (Esmo) oder der DGHO. Abschließend erklärte der Experte: „Es wurden zahlreiche Studien durchgeführt, die die Steigerung der Überlebenschancen bei diversen Krebserkrankungen zweifelsfrei dokumentieren.“
Das bestätigte auch Christoph Zielinski: „Selbstverständlich gibt es eine Vielzahl von bösartigen Erkrankungen, bei denen eine Chemotherapie zur Heilung führen kann. (…) Tatsache ist, dass die klinische Forschung deutlich fortgeschritten ist, und sich keineswegs auf eine Therapie von Tumoren mit lediglich Chemotherapie beschränkt. Die moderne Onkologie kombiniert Chemotherapeutika mit Antikörpern, molekular ‚gezielten‘ Medikamenten und anderen Präparaten wie zum Beispiel auch Vakzinen.“ Sein Fazit zu den Behauptungen: „Alles irgendwie ein riesiger, aus der Zeit gefallener, anachronistischer Humbug.“
Bernhard Wörmann bezeichnete die Aussagen ebenso als „unsinnig und sogar fahrlässig“. Er erklärte gegenüber AFP: „Zu den bösartigsten Erkrankungen mit einer verbleibenden Lebenserwartung von Tagen bis Monaten gehören die akuten Leukämien. Heilungen gibt es erst seit den 70er- und 80er-Jahren nach Einführung der Chemotherapie sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen. Bei Kindern liegen die Heilungsraten durch die Chemotherapie bei bis zu 90 Prozent und höher.“ Ähnliche Heilungsraten würden zum Beispiel auch bei malignen Lymphomen wie dem Hodgkin Lymphom bei Erwachsenen erzielt. „Diese positiven Erfahrungen sind dann auf viele andere Erkrankungen übertragen worden.“
Alexander Egle, Onkologe und Professor am Uniklinikum Salzburg, schrieb AFP am 12. September 2023: „Das sind natürlich alles hochproblematische Aussagen, die in der dargestellten Form absolut unwahr sind.“
Mitarbeiter hält am 5. Oktober 2022 im Biontech-Forschungsinstitut im rheinland-pfälzischen Mainz ein Fläschchen mit einem in der Entwicklung befindlichen onkologischen Produkt hoch – ANDRE PAIN / AFP
Aus dem Clip geht hervor, dass die Behauptungen zur Schädlichkeit von Chemotherapien auf einer Studie aus 2012 des amerikanischen Fred Hutchinson Cancer Center (hier archiviert), veröffentlicht in der Fachzeitschrift Nature Medicine, basieren. In der Studie werden bestimmte Mechanismen der Resistenzentwicklung von Prostatakrebszellen auf Chemotherapie untersucht. Matthias Preusser schrieb dazu: „Entwicklung von Resistenz durch Chemotherapie ist ein bekanntes Phänomen und kann zum Wirksamkeitsverlust von Chemotherapie führen. Die genannte Arbeit zeigt, dass die Produktion des Eiweißstoffes WNT16B die Resistenzentwicklung von Prostatakrebszellen fördern könnte. Die Grundaussage der Studie, ist, dass durch Therapien gegen WNT16B eventuell die Wirksamkeit von Chemotherapie weiter verbessert werden könnte. Daraus lässt sich die Aussage, dass Krebsärzte nie einer Chemotherapie zustimmen würden, nicht ableiten.“
Christoph Zielinski erklärte: „Ich kenne die Studie nicht, allerdings stammt sie auch aus 2012 – seitdem ist kein Stein auf dem anderen geblieben.“ Zudem verabreiche das Fred Hutchinson Center weiterhin Chemotherapien und erkläre diese im Internet.
„Keine relevanten und verlässlichen klinischen Studien“
Im Video heißt es außerdem: „Wer nach einer echten Heilmethode sucht, wird sich bemühen, eine Chemotherapie zu umgehen und nach alternativen Behandlungsmethoden wie der Gerson-Therapie (Diät zur Krebstherapie, Anm. d. Red.) suchen, oder er wird krebshemmende Nahrungsmittel und Nährstoffe wie Natriumcarbonat, Kurkuma, hoch dosiertes Vitamin C und Vitamin D und ähnliches wählen.“
„Diese Methoden werden von nationalen und internationalen Fachgesellschaften aufgrund der nicht nachgewiesenen Wirksamkeit nicht empfohlen, teils wird sogar von deren Anwendung aufgrund von unerwünschten Wirkungen abgeraten“, erklärte Preusser. „Zum Großteil dieser Interventionen gibt es keine relevanten und verlässlichen klinischen Studien“, ergänzte Zielinski. Vitamin D sei hingegen ein wichtiges Vitamin, das nicht nur den Knochenstoffwechsel positiv beeinflusse, sondern sich auch auf die Abwehr gegen die Entstehung oder das Wachstum von Tumorzellen erstreckte.
Dieses Foto vom 17. November 2021 zeigt einen Labortest bei der Biotech-Firma Transgene, die an der Entwicklung eines Neoantigen-Krebsimpfstoffs arbeitet, in Illkirch-Graffenstaden, Ostfrankreich – PATRICK HERTZOG / AFP
Belastung für den Körper
Zudem wird in dem geteilten Video behauptet, die verwendeten Chemotherapeutika würden „in den meisten Fällen starke Verätzungen auf der Haut verursachen“. Laut Preusser könne das auf manche Chemotherapien tatsächlich zutreffen, „wenn diese während der Infusion nicht wie vorgesehen in die Vene gelangen, sondern in das umgebende Gewebe austreten“. Dies könne zum Beispiel durch Fehlfunktionen des Infusionsbestecks, Anwendungsfehler beim Legen der Infusion, oder Gefäßwandschäden auftreten. Diese bekannte Nebenwirkung müsse in die Nutzen-Risiko Abwägung bei der Indikationsstellung zur Chemotherapie einbezogen werden, erklärte der Fachmann.
Grundsätzlich ist eine Chemotherapie sehr belastend für den Körper. Sie kann zu Nebenwirkungen wie Übelkeit, Nervenschmerzen, Haarverlust und Veränderungen des Blutbildes führen.
Anders als in dem Clip behauptet, sind emotionales Dilemma, der Mangel an wichtigen Enzymen oder Vitaminen, Angst sowie starke negative exogene Einflüsse laut Preusser „keine anerkannten Auslöser von Krebserkrankungen“. Auf der Liste der bekannten krebserzeugenden (karzinogenen) Risiken der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) der WHO sind diese zudem so nicht zu finden.
Fazit: Online wurde fälschlich behauptet, Krebsärzte würden selbst nie einer Chemotherapie zustimmen, da diese unwirksam und schädlich sei. Das ist falsch. Experten bestätigten gegenüber AFP, dass die Therapie Tumorzellen heilen kann und die Krankheitsausbreitung keineswegs fördert.