Ein Video im Netz zeigt eine Massenschlägerei, bei der auch Carabinieri der italienischen Gendarmerie angegriffen werden. Es wird behauptet, die Täter seien Geflüchtete und das Video stamme von der Mittelmeerinsel Lampedusa. Die jüngste Ankunft Tausender Migranten hatte dort zuletzt zu einer Verdoppelung der Inselbevölkerung geführt und die Debatte über die Verteilung legaler und illegaler Einwanderer innerhalb der EU neu entfacht. Das Video zeigt tatsächlich eine Schlägerei an der auch Migranten beteiligt waren und italienische Sicherheitskräfte attackiert wurden. Es wurde aber nicht im September 2023 auf Lampedusa gedreht, sondern 2021 bei Marotta in der Region Marken in Mittelitalien.
„Auf der italienischen Insel Lampedusa kam es zu direkten Auseinandersetzungen zwischen Migranten und der Polizei. Illegale Einwanderer bewerfen die Carabinieri mit Steinen und fordern ihre Abschiebung nach Europa“, schreibt eine Nutzerin auf Facebook zu einem Video am 18. September 2023. Die Aufnahmen wurden zuletzt mit ähnlichen Beschreibungen auch auf anderen Plattformen hochgeladen, etwa auf X (ehemals Twitter) und Telegram. Dasselbe Video wurde in sozialen Medien auch auf Französisch, Englisch und Spanisch veröffentlicht.
Ab Montag, den 11. September 2023, kamen innerhalb von drei Tagen etwa 8500 Migranten in 199 Booten auf Lampedusa an. Das waren mehr Menschen als üblicherweise auf der Insel leben.
Seit Januar dieses Jahres sind fast 130.000 Menschen an den italienischen Küsten gelandet, etwa doppelt so viele wie im letzten Jahr im gleichen Zeitraum. Dies ist ein starker Anstieg. Im Vergleich liegt die Zahl jedoch noch weit unter der von 2015, als 850.000 Migranten, meist vor dem Bürgerkrieg in Syrien, in Griechenland ankamen.
Aktuell sind die Erstaufnahmeeinrichtungen auf der Insel durch die große Zahl an Geflüchteten völlig überlaufen, die Behörden sind überfordert. „So etwas wie am Mittwoch haben wir noch nicht erlebt“, sagte ein einheimischer Polizist in der letzten Woche gegenüber der Deutschen Welle. Lampedusas Bürgermeister Filippo Mannino sagte, die Insel sei „in einer Krise“. Auf Videos von der Insel ist zu sehen, wie Geflüchtete über Zäune steigen oder Gruppen von der Polizei mit Schilden und Schlagstöcken zurückgedrängt werden (hier und hier archiviert).
Verschiedene europäische Politikerinnen und Politiker haben sich zu dem Thema geäußert. Die italienische Ministerpräsidentin und die EU-Kommissionspräsidentin haben in der vergangenen Woche gemeinsam Lampedusa besucht. Dort sagte die rechtsgerichtete Politikerin Meloni, „der Migrationsdruck, den Italien seit Anfang des Jahres erlebt, ist unhaltbar“.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder forderte mit Blick auf Lampedusa „eine grundlegende Wende“ in der Migrationspolitik. Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser ließ mitteilen, man sehe „die Lage in Lampedusa mit großer Sorge“. Zudem sagte sie Hilfe für die Menschen auf Lampedusa zu, betonte aber, dass Deutschland vorerst weiter keine Migranten aus Italien aufnehmen werde.
In diesem Zusammenhang wird das Thema in den sozialen Netzwerken ausführlich kommentiert. Das geteilte Video, das Gewalttaten von Migranten zeigt, auch gegen italienische Carabinieri, wurde jedoch nicht auf Lampedusa im Jahr 2023, sondern in einer anderen Region Italiens im Jahr 2021 gefilmt.
Mithilfe des von AFP entwickelten Suchwerkzeugs InVID/WeVerify wurde das Video für die Recherche in eine Reihe von Standbildern zerlegt. Mit diesen wurde eine umgekehrte Bildersuche in Suchmaschinen, wie Google oder Yandex, vorgenommen.
So fand AFP einen ersten Hinweis auf ein Video, das der rechtsradikale belgische Parlamentarier Sam Van Rooy 2021 auf Flämisch auf X gepostet hat (hier archiviert). Damit ist entkräftet, dass das Video 2023 gedreht wurde, aber noch kein Hinweis auf den Drehort gefunden.
Andere Ergebnisse der gleichen Suchmethode brachten AFP auf eine tschechische Nachrichtenseite (hier archiviert). Am 7. August 2021 wurde dort über den Vorfall berichtet und behauptet, die Ereignisse hätten sich in der Stadt Marotta ereignet.
Eine Suche bei Google nach „Marotta 7 august 2021“, mit einem beschränkten Zeitrahmen vom 7. bis 10. August 2021, brachte einen Tweet des Chefs der italienischen extremen Rechten, Matteo Salvini hervor (hier archiviert). Salvini, der aktuell stellvertretender Ministerpräsident ist, war zu diesem Zeitpunkt nicht Mitglied der Regierung.
„MAROTTA (MARKEN), CARABINIERI VON GEWALTTÄTIGEN AUSLÄNDERBANDEN ANGEGRIFFEN, ALLE GRENZEN ÜBERSCHRITTEN In der Zwischenzeit gehen weiterhin Hunderte von illegalen Einwanderern von Bord“, schrieb er.
Ein Artikel der italienischen Nachrichtenagentur Ansa (hier archiviert) berichtet ebenfalls über den Vorfall, der sich in Marotta in der Region Marken an der Adriaküste in Mittelitalien und nicht auf der Insel Lampedusa im äußersten Süden des Landes ereignet hat. Bei einer Auseinandersetzung zwischen einer größeren Anzahl von Personen wurden Carabinieri angegriffen und verletzt, berichtete die Nachrichtenagentur. Ein Senegalese wurde ebenfalls verletzt. Zudem wurden laut Ansa zwei Albaner, ein Kolumbianer und ein Senegalese verhaftet.
Mit einer vom 7. bis 11. August 2021 befristeten Google-Suche nach „carabinieri Marotta“, fand AFP mehrere italienische Presseartikel, die über den Vorfall berichteten. Die Zeitung „Leggo“ (hier archiviert) berichtete beispielsweise: „Massenschlägerei von Dutzenden ausländischen Jugendlichen: zwei Carabinieri angegriffen und verletzt“.
Die Einwanderung aus Afrika oder dem Nahen Osten nach Europa ist in vielen europäischen Ländern ein zunehmend wichtiges politisches Thema. Parteien, die drastische Maßnahmen gegen diese illegalen Einreisen befürworten, gewinnen tendenziell an Zuspruch, wie der Rassemblement National in Frankreich, die Liga von Matteo Salvini und Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni in Italien, Vox in Spanien oder die AfD in Deutschland.
Fazit: Die Lage auf Lampedusa ist nach der Landung tausender Migranten angespannt. Ein Video, das angeblich brutale Attacken auf Sicherheitspersonal vor Ort zeigen soll, wurde jedoch nicht auf der italienischen Mittelmeerinsel gefilmt. Das Video stammt aus dem Jahr 2021 und wurde in dem Ort Marotta in der Mitte des Landes aufgenommen.