Eine Explosion beschädigte die Krim-Brücke in der Nacht zum 17. Juli 2023 erneut. Russlands Präsident Wladimit Putin sieht die Ukraine für die Explosion verantwortlich. Online verbreitet sich daher die Behauptung, dass Ukrainerinnen und Ukrainer aus Angst vor Vergeltung aus der Hauptstadt Kiew fliehen würden. Dies belege ein angeblich aktuelles Video eines Verkehrsstaus stadtauswärts. Der Clip stammt jedoch zumindest vom August 2022. Zudem staut es sich in dem Video nicht aus der Stadt heraus, sondern in Richtung Kiewer Innenstadt.
„An der Ausfahrt aus Kiew hat sich ein riesiger Stau von 25km Länge gebildet – Die Leute fürchten Putins Vergeltung für die Krim-Brücke“, heißt es in einem Facebook-Posting vom 17. Juli 2023. Der Clip ist vier Sekunden lang und zeigt, wie sich Autos und LKW in einer Fahrtichtung auf einer Straße stauen. Das Video wurde aus einem Auto heraus aufgenommen, das in der Dämmerung auf der mehrspurigen Straße fährt.
Das Posting wird auf Facebook und der Plattform Twitter, die in X umbenannt wurde, verbreitet. Auf Telegram wurde der Beitrag über 76.000 Mal angesehen.
Die Krim-Brücke verbindet die von Russland 2014 annektierte Krim mit dem russischen Festland. In der Nacht zum 17. Juli 2023 ist es auf dem 19 Kilometer langen Bauwerk zu einer Explosion gekommen. Russischen Behörden zufolge kamen dabei zwei Menschen ums Leben. Russland macht die Ukraine verantwortlich und spricht von einem „Terroranschlag“. Nach Angaben aus Kiew stecken die ukrainische Marine und ukrainische Spezialkräfte hinter dem Angriff auf die Brücke. Am 21. Juli 2023 hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beim Forum für Sicherheitspolitik im US-Gebirgsort Aspen die Konstruktion als „feindliches Objekt“, das „neutralisiert“ werden soll, bezeichnet.
Die Krim-Brücke gilt als Prestigeprojekt Putins, er weihte sie im Mai 2018 persönlich ein. Das Bauwerk stellt für Russland eine logistisch wichtige Transportverbindung für militärische Ausrüstung dar. Die Brücke war bereits im Oktober 2022 durch eine Explosion schwer beschädigt worden. Dazu hatte sich Kiew später bekannt.
Faktenchecks, die sich mit dem ukrainisch-russischen Krieg beschäftigen, sammelt AFP hier.
Video des Verkehrsstaus ist alt
Die verbreiteten Postings stellen jedoch einen falschen Zusammenhang zwischen der Explosion auf der Krim-Brücke und der angeblichen Flucht von Ukrainerinnen und Ukrainern aus Kiew her. Eine Rückwärtssuche führt zu mehreren Videos auf der Plattform Telegram, die jeweils dasselbe Video zeigen. „Großer Stau bei der Ausfahrt aus Kiew“, heißt es darin etwa. Die ältesten dieser Postings, die AFP fand, sind jeweils bereits mit 21. August 2022 datiert – demnach bereits fast ein Jahr alt. Auch in weiteren Beiträgen findet sich derselbe Clip bereits im August 2022.
Am 18. Juli 2023 (Link hier archiviert) schrieb ein Instagram-Account namens „dtp.kiev.ua“, dass es sich bei den kursierenden Videos eines angeblich aktuellen Verkehrsstaus um Falschmeldungen handle. Es werde nämlich Bildmaterial aus dem Jahr 2022 verwendet: „Es zeigt Menschen, die nach Kiew zurückkehren.“ In den geteilten Videos ist zumeist der Name dieses Instagram-Accounts eingeblendet. Es handelt sich hierbei um ein ukrainisches Community-Portal, das unter anderem über Verkehrsmeldungen informiert.
Tatsächlich hat das Portal das überprüfte Video bereits am 21. August 2022 auf seiner Instagram-Seite (Link hier archiviert) veröffentlicht. Unter dem Video heißt es: „Auf der Schytomyr-Autobahn gibt es derzeit einen riesigen Stau. Viele Menschen versuchen, noch vor Beginn der Sperrstunde durchzukommen.“ Zahlreiche unterschiedliche Medien bzw. Infoportale berichteten im August 2022 von einer vorherrschenden Sperrstunde in der Nacht in Kiew (zum Beispiel hier, hier und hier). Auch das Faktencheck-Team der dpa führt das an.
Als Urheberin des veröffentlichten Videos scheint jeweils eine Instagram-Userin auf, die auf ihrem Profil Kiew als ihren Heimatort angibt.
Clip zeigt Stau bei Kiew, jedoch stadteinwärts
AFP konnte den genauen Aufnahmeort des Videos (Link hier archiviert) ausfindig machen. Es wurde auf der Schnellstraße E40 aufgenommen, die Kiew mit Schytomyr verbindet. Die ukrainische Stadt liegt 120 Kilometer westlich von Kiew. Auf dem Video sind mehrere Fahrstreifen in beiden Richtungen, Straßenlaternen sowie Bäume an beiden Straßenrändern zu sehen. Dies ist auch auf Google Maps (Link hier archiviert) erkennbar.
In den verbreiteten Videos ist rechts außerdem ein rot leuchtendes Schild zu sehen. Dieses gehört zu einer Tankstelle des Unternehmens Shell. Auf Google Maps (Link hier archiviert) ist zu erkennen, dass sich diese Tankstelle auf der rechten Straßenseite neben der Fahrspur, die stadtauswärts führt, befindet.
Der PKW, aus dem der Clip heraus aufgenommen wurde, fuhr demnach aus Kiew hinaus Richtung Schytomyr. Die Autos im Video stauten sich in der entgegengesetzten Richtung und demnach stadteinwärts nach Kiew – und nicht aus der Stadt hinaus, wie in sozialen Medien behauptet wurde. Ein ukrainischer Telegram-Channel schrieb am 22. August 2022 ebenfalls: „Jeder, der gestern nach Kiew gefahren ist, weiß, dass der Stau nach Kiew hinein ist, nicht hinaus ist.“ Demnach wurde das Video bereits vor einem Jahr falsch interpretiert.
Der Clip wurde knapp außerhalb von Kiew gefilmt wurde. Das zeigt auch ein Straßenschild auf Google Maps, welches das Ende des Kiewer Stadtgebiets signalisiert.
Die Eingabe von Stichworten wie „Stau“, „Kiew“, „stadtauswärts“, „Flucht“ und „Krim-Brücke“ auf Deutsch und Englisch führte AFP zu keinen relevanten Medienberichten, die über einen derartigen Stau um den 17. Juli 2023 berichten.
Auf dem Kartendienst Google Maps kann man auch die ungefähre Verkehrssituation abfragen. Zu diesem Zeitpunkt waren dort ebenfalls keine drastischen Verzögerungen zu erkennen, die auf einen derartigen Stau von 25 Kilometern hinweisen.
Fazit: Das Video eines Verkehrsstaus bei Kiew, das derzeit geteilt wird, ist alt. Es stammt zumindest vom August 2022 und ist demnach fast ein Jahr alt. Zudem staut es sich in dem Clip nicht aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew heraus, sondern stadteinwärts.