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Dieses Video zeigt keine US-Technologie und stammt nicht aktuell aus der Türkei

Anfang Februar 2023 erschütterte eines der verheerendsten Erdbeben seit Jahrzehnten das Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei. Ein kurz darauf kursierendes Video soll angeblich zeigen, wie während des Bebens Blitze zu sehen sind. User vermuten daher, das Beben sei in Wahrheit künstlich durch Radiowellen des US-Forschungsprogramms HAARP ausgelöst worden. Angeblich handele es sich dabei um eine Bestrafungsaktion der Nato. Das Video ist allerdings nicht aktuell, sondern stammt aus dem Jahr 2022. Laut Medienberichten sind darin Erdbebenlichter zu sehen. Forschende erklärten zudem gegenüber AFP, es gebe keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass das HAARP-Programm ein solches Erdbeben auslösen könnte. Die Behauptungen seien „Science Fiction“. 

Zehntausende haben das Video zum Erdbeben auf Telegram gesehen. Der Clip kursierte zudem auf Facebook und Twitter. Die Behauptung verbreitete sich zudem auf Rumänisch, Englisch und Griechisch.

Die Behauptung: User teilen ein Video, das Ausschnitte eines türkischen Nachrichtenbeitrags zeigt. Sie behaupten, darin sei das aktuelle Erdbeben in der Türkei zu sehen. Dabei sollen auch Blitze sichtbar gewesen sein, wie der Clip belegen soll. Diese seien nicht normal für Erdbeben, wohl aber beim Einsatz des HAARP-Programms. Dazu heißt es: „Das Erdbeben in der Türkei sieht wie eine Bestrafungsaktion (mit Haarp) der NATO beziehungsweise USA gegen Türkei aus.“

Facebook-Screenshot der Behauptung: 13. Februar 2023

Am 6. Februar 2023 bebte die Erde in Teilen der Türkei und Syrien. Bis zum 14. Februar wurden in den beiden Ländern mehr als 35.000 Todesopfer gemeldet. Die wirtschaftlichen Schäden durch das Erdbeben in Syrien und der Türkei könnten sich auf vier Milliarden Dollar summieren.

Zu dem verheerenden Beben kursieren online zahlreiche Falschinformationen. Häufig werden alte Aufnahmen aus dem Kontext gerissen, so beispielsweise dieses Video einer Explosion im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut, zu dem online behauptet wurde, es zeige ein zerstörtes Kernkraftwerk in der Türkei. Andere User behaupteten fälschlicherweise, westliche Staaten hätten keine Rettungskräfte oder Hilfsgüter für die Türkei bereitgestellt. Weitere Falschinformationen zum Erdbeben in der Türkei und in Syrien hat AFP hier gesammelt.

Video stammt vom November 2022

Auch die Videoaufnahme eines angeblichen Haarp-Blitzes wurden nicht aktuell aufgenommen und falsch wiedergegeben. Bereits aus dem Video selbst lässt sich schließen, dass es sich hier nicht um Aufnahmen des Bebens im Februar 2023 handeln kann. So ist am linken oberen Bildrand eine Datumsangabe mit dem Jahr 2022 zu erkennen:

Screenshot des Videos zur Behauptung auf Facebook: 13. Februar 2023

Zudem ist am rechten oberen Bildrand das Logo des türkischen Nachrichtensenders Haber Global zu erkennen. Eine Stichwortsuche nach den im Video eingeblendeten Begriffen führte AFP schließlich zum Originalclip auf Youtube. Dort wurde das Video am 23. November 2022 hochgeladen, also mehr als zwei Monate vor dem starken Erdbeben im Februar 2023.

Bildvergleich des Facebook-Videos (links) und des Beitrags von Haber Global (rechts): Screenshots vom 13. Februar 2023

Der Bericht des Senders Haber Global erläutert, die Aufnahmen zeigten Blitze während eines Erdbebens am Himmel über der türkischen Region Düzce, im Nordwesten des Landes. Das Beben vom 23. November 2022 sei mit einer Stärke von 5,9 im Bezirk Gölyaka gemessen worden und noch etwa 200 Kilometer weiter westlich bis nach Istanbul zu spüren gewesen.

Weiter heißt es in dem Nachrichtenbeitrag, der „Lichtstrahl“ sei zum genauen Zeitpunkt des Erdbebens erschienen. Entsprechende Phänomene seien aber schon bei anderen Beben beobachtet worden. Die Sprecherin im Beitrag erläutert dazu, das Ereignis gehe auf die Bewegungen in der Verwerfungslinie des Erdbebens zurück: „Durch die Bewegung in der Verwerfungslinie ändern sich die elektrischen Eigenschaften der Mineralien im Gestein, und es kommt zu dieser Strahlung. Dies wird manchmal als eine Art Blitz beschrieben.“

Neben Haber Global berichteten auch diverse andere türkische Nachrichtenmedien von einem Erdbeben und Lichtblitzen am 23. November 2022 (hier, hier, hier). AFP berichtete, bei dem Beben seien mindestens 50 Menschen verletzt worden. Die türkische Tageszeitung „Milliyet“ berichtete, das beobachtete Licht entstehe durch Bewegungen in Verwerfungen während des Bebens.

Was sind die Erdbebenlichter?

Im Gespräch mit AFP erklärten Forschende, dass die beobachteten Lichter nicht ungewöhnlich während Erdbeben seien. Über deren Herkunft sei man sich allerdings noch nicht komplett einig.

Die United States Geological Survey (USGS), eine US-Behörde, die unter anderem natürlichen Gefahren und Ressourcen forscht, erklärt online, das Phänomene wie Blitze, Lichtkugeln und gleichmäßiges Glühen zu sogenannten Erdbebenlichtern gezählt würden. Weiter heißt es allerdings auf der USGS-Website, die Meinungen darüber, welche Lichter in zeitlicher Nähe zum Beben tatsächlich Erdbebenlichter darstellten, gingen auseinander.

„Die meisten Expertinnen und Experten sind sich einig, dass Erdbebenlichter auftreten“, erklärte Susan Hough, Geophysikerin am USGS, am 8. Februar 2023 gegenüber AFP. „Manchmal werden die Lichter durch Explosionen an Transformatoren erzeugt, aber es gibt auch Hinweise auf Lichter aus der Erde selbst.“ Es gebe zwar einige Ideen zum Hintergrund der Lichter, so Hough. Eine allgemein anerkannte Theorie gebe es allerdings nicht. „Zum Teil deshalb, weil es sich um eine so flüchtige Beobachtung handelt, dass sie schwer zu dokumentieren ist“, erklärte sie. „Umstrittener ist die Behauptung, dass Erdbebenlichter tatsächlich einigen großen Erdbeben vorausgehen – dies ist meines Erachtens weit weniger gut belegt als Lichter, die während der Erschütterungen auftreten.“

John Vidale, Professor für Geowissenschaften an der University of Southern California (USC), erklärte am 8. Februar 2023 gegenüber AFP, dass im Netz kursierende Videos mit Lichtphänomenen nach Erdbeben häufig nur Transformatoren zeigen würden, die einen Kurzschluss erleiden. „Manchmal kann man die Blitze von Transformatoren in der Ferne sehen, bevor das Beben den Standort der Beobachter erreicht hat“, erklärte er.

Foto von AFP: Menschen stehen am 7. Februar 2023 neben den Trümmern eingestürzter Gebäude in Kahramanmaras.

Jonathan Stewart, Professor für Bau- und Umwelttechnik an der Samueli School of Engineering der UCLA, erklärte auf AFP-Anfrage am 8. Februar 2023, es gebe aus der Vergangenheit und in der Literatur zahlreiche Belege für Erdbebenlichter als natürlichen Prozess bei großen Beben. Dazu verweist Stewart unter anderem auf eine bereits 1983 erschienene wissenschaftliche Arbeit, die davon ausgeht, dass während starker Beben Reibung in den Gesteinsschichten schließlich zu einer Entladung in der Atmosphäre über der Verwerfung führe.

Ein 2014 erschienener Artikel in der Fachzeitschrift Nature erklärt auf Basis einer Studie in der Forschungszeitschrift Seismological Research Letters, dass zu vermuten sei, dass „bei einem Erdbeben durch die Spannung der aneinander reibenden Gesteine elektrische Ladungen entstehen“. Diese würden sich entlang nahezu vertikaler geologischer Verwerfungen nach oben bewegen. „Wenn die Ladungen die Erdoberfläche erreichen und mit der Atmosphäre interagieren, erzeugen sie ein Glühen.“

Berichte über Erdbebenlichter gab es in der Vergangenheit immer wieder, so beispielsweise 2017 in Mexiko oder auch 2022 in Japan.

Durch HAARP ausgelöste Erdbeben sind nicht plausibel 

In den online kursierenden Beiträgen vermuten User, dass das aktuelle Erdbeben womöglich nicht natürlichen Ursprungs sei. Dafür verweisen sie auf das US-Forschungsprogramm HAARP (High-frequency Active Auroral Research Program), das sich mit der Untersuchung der Eigenschaften und des Verhaltens der Ionosphäre befasst. Laut der US-Raumfahrtbehörde Nasa handelt es sich dabei um die oberste Schicht der Erdatmosphäre, die an den Beginn des Weltraums grenzt. Das HAARP-Programm wurde bis 2015 von der US-Luftwaffe und der Marine betrieben, bevor es an die Universität von Alaska-Fairbanks übergeben wurde.

Online heißt es auf einer eigenen Website, HAARP sei der weltweit leistungsfähigste Hochfrequenzsender zur Erforschung der Ionosphäre, die in etwa 60-80 Kilometer Höhe beginnt und sich bis in 500 Kilometern Höhe erstreckt. „Das Ziel der Forschung am HAARP ist die Durchführung grundlegender Studien über die physikalischen Prozesse, die in den höchsten Bereichen unserer Atmosphäre ablaufen“, heißt es weiter auf der Website.

Dafür nutzt das Programm Radiowellen, um Elektronen in der Ionosphäre zu erhitzen, und „kleine Störungen zu erzeugen, die den in der Natur vorkommenden Wechselwirkungen ähneln“, aber für die Wissenschaftler leichter zu untersuchen sind, heißt es online.

Auf der Website des Programms wird auch auf verschiedene Verschwörungserzählungen eingegangen, die sich seit Jahren um die Forschungsstation ranken, zum Beispiel die unbegründete Behauptung, es könne das Wetter oder die Gedanken kontrollieren.

Jeffrey Hughes, Professor für Astronomie an der Universität Boston, erklärte auf AFP-Anfrage am 8. Februar 2023, dass die Funkwellen von HAARP die Ionosphäre in einem begrenzten Bereich von etwa 100 Kilometer aufheizen.“Es gibt keinen Weg, damit einen Effekt halb um die Erde herum in der festen Erde zu erzeugen. Es tut mir leid, aber das ist einfach nur dumm“, sagte er.

Toshi Nishimura, Geophysiker am College of Engineering der Universität Boston, erklärte gegenüber AFP am 8. Februar 2023, ihm seien keine wissenschaftlichen Belege dafür bekannt, dass HAARP ein Erdbeben verursachen könnte. „Künstliche Radiowellen können die obere Atmosphäre lokal stören, aber das ist vergleichbar mit der Störung durch die Sonne. Mir sind keine wissenschaftlichen Beweise dafür bekannt, dass die künstlichen Wellen viel stärkere Störungen verursachen und lokale seismische Bedingungen beeinflussen können. Die Leistung der Wellen nimmt mit der Entfernung ab.“

Weiter erklärte Nishimura, es gebe derzeit keine Technologie, um Radiowellen vom Boden aus zu starten und eine Stadt auf einem anderen Kontinent genau zu treffen. Es scheine daher nicht möglich zu sein, dass Radiowellen weit entfernte seismische Bedingungen beeinflussten, so Nishimura.

Erdbeben entstehen hingegen anders. Die tektonischen Platten, aus denen die Erdkruste besteht, sind ständig in Bewegung, wie die Universität Caltech online erläutert. Wenn die Ränder dieser Platten gegeneinander gleiten, können diese sich durch Reibung verlangsamen, wodurch sich mit der Zeit Druck aufbaut. „Wenn die Kraft der Bewegung schließlich die Reibung überwindet, brechen Teile der Kruste plötzlich ab oder werden verschoben, wodurch der aufgestaute Druck in Form von seismischen Wellen freigesetzt wird“, erklärt die Universität.

Dieser Prozess in der Erdkruste hat allerdings nichts mit der Ionosphäre zu tun, auf die sich die HAARP-Forschung konzentriert.

Erdbeben können überall zwischen der Erdoberfläche und etwa 700 Kilometern unter der Oberfläche auftreten, wobei flachere Erdbeben –  solche, die zwischen null und 70 km auftreten –  wegen ihrer Nähe zur Erdoberfläche oft als stärker empfunden werden, erklärt das USGC online.

Die Türkei liegt in einer Region, in der flache Erdbeben zu erwarten sind, an der ostanatolischen sowie nordanatolischen Verwerfung. Das Izmit-Erdbeben von 1999, eines der stärksten gemessenen Beben in der Türkei mit einer Stärke von 7,1, fand ebenfalls auf dem nördlichsten Strang der nordanatolischen Verwerfung statt und entstand in einer Tiefe von 17 Kilometern.

Susan Hough erklärte dazu, das aktuelle Erdbeben entspreche den Erwartungen für ein großes Beben an einer solchen Verwerfung.

David Keith, Professor für Angewandte Physik an der Harvard School of Engineering and Applied Sciences in Boston, erklärte am 8. Februar 2023 zu den Behauptungen: „Das ist so verrückt, als würde man fragen, ob das Erdbeben von Bugs Bunny verursacht wurde, der nach Karotten gräbt.“ Er erklärte weiter: „Es gibt einfach keinen bekannten Mechanismus, der auch nur im Entferntesten mit HAARP vergleichbar wäre, um Erdbeben zu beeinflussen.“

Susan Hough bezeichnete die online kursierenden Behauptungen gar als „Science Fiction“. Es gebe keinen Weg, ein Erdbeben mit einem solchen Gerät aufzulösen, so Hough.

HAARP ist keine Waffe

Michael Lockwood, Professor für Weltraumphysik an der Universität Reading in Großbritannien, erläuterte auf Anfrage am 8. Februar 2023 unmissverständlich: „HAARP ist keine Waffe in irgendeiner Form, war nie eine und kann auch nicht als Waffe eingesetzt werden.“ Das Interesse des Militärs an der Technologie diene „der Kommunikation und nicht der Bewaffnung“, so Lockwood.

Wie auch auf der HAARP-Website erläutert wird, begann das Programm 1990 als Initiative des US-Kongresses, die gemeinsam von der US-Luftwaffe und der Marine verwaltet wurde. Der Forschungsschwerpunkt habe darin bestanden, „die Technologie zu verstehen und zu nutzen, um Kommunikations- und Überwachungssysteme sowohl für zivile als auch für Verteidigungszwecke zu verbessern“.

„Ziel war es, die physikalischen und elektrischen Eigenschaften der Ionosphäre der Erde zu erforschen, die unsere militärischen und zivilen Kommunikations- und Navigationssysteme beeinflussen können“, erklärte Lockwood,

Die Verschwörungserzählungen zum Einsatz von HAARP als Waffe seien wohl darauf zurückzuführen, dass das Programm ursprünglich die Nutzung von Radiowellen zur Kommunikation mit U-Booten erforschte.

Ursprünglich wurde HAARP tatsächlich als Mittel zur Erleichterung der Kommunikation mit atomar bewaffneten U-Booten gedacht. Ein 2008 in der Fachzeitschrift Nature erschienener Artikel erläutert jedoch, dass mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion „die Kommunikation mit U-Booten jedoch nicht mehr so wichtig“ zu sein schien. HAARP müsse daher einen neuen Zweck finden.

Diese Geschichte sei schließlich zu der „absurden Idee aufgeblasen“ worden, dass HAARP eine Art Waffe sei, erläuterte Lockwood. „Eine Form der sozialen Gedankenkontrolle ist der übliche Favorit, aber Erdbeben zu erzeugen ist eine Idee, die ich noch nie gehört habe“, erklärte er weiter.

„Die Vorstellung, dass HAARP nördlich von Gakona in Alaska, seismische Aktivität erzeugen könnte, geschweige denn in der Türkei und in Syrien, ist, offen gesagt, wirklich lächerlich“, fügte er an. Laut den Informationen, die das Programm auf seiner Website bereitstellt, sind derzeit keine Militärangehörigen in der Forschungsstation beschäftigt.

Fazit: Das online geteilte Video hat nichts mit dem Erdbeben im Februar 2023 im türkisch-syrischen Grenzgebiet zu tun. Es stammt aus dem November 2022 und berichtet von einem Beben im Nordwesten der Türkei. Lichtphänomene wurden bereits früher bei Erdbeben beobachtet und sind kein Beweis für einen Einsatz des HAARP-Programms. Expertinnen und Experten erklärten zudem gegenüber AFP, die HAARP-Technologie sei nicht in der Lage, ein Erdbeben auszulösen.

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Autor(en): Saladin SALEM, Valentina-Paula CABESCU, AFP Deutschland, AFP Rumänien

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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