Im Jahr 2023 ist eine vergleichsweise hohe Zahl von Geflüchteten in Spanien eingetroffen. Aktuell wird ein Video im Netz verbreitet, das eine Menschenmenge zeigt, die eine Straße entlang läuft. Angeblich soll das Video am 18. November 2023 in Spanien aufgenommen worden sein. Das ist jedoch falsch. AFP konnte durch Satellitenbilder und lokale Fotoaufnahmen nachweisen, dass das Video aus dem nördlichen Marokko nahe der spanischen Exklave Ceuta stammt.
Ein über eintausend Mal geteiltes Video auf Facebook zeigt, wie auf einer zweispurigen Bergstraße hunderte Personen auf der Fahrbahn laufen. Dazwischen fahren Autos. Aus einem der Fahrzeuge wird die Szene gefilmt. Eingeblendet ist der Text „Spanien 18.11.2023“ und als Beschreibung zum Video steht dort: „Nun geht es los !“ In den Kommentaren äußern sich Nutzer rassistisch und warnen vor einer „Invasion“ Europas durch Migranten.
Das Video mit der Ortsangabe auf Deutsch wurde im Netz vielfach geteilt. So taucht der Clip auf Telegram, der Plattform 9Gag und auf Tiktok auf. Zudem wird er auf einem litauischen Youtube-Kanal, auf einem englischen X-Account (ehemals Twitter), und auf der Facebook-Seite eines tschechischen Politikers geteilt, von wo aus das Video über 6000 Mal weitergeleitet wurde.
Eine längere Version des Videos, ohne die Einblendung „Spanien 18.11.2023“ wurde bereits am 17. November 2023 durch den spanischen Publizisten Rubén Pulido auf X verbreitet. Damit kann das Video nicht am 18. November 2023 entstanden sein. Das Video ist hier mit dem Text versehen: „Mehr als 1000 illegale Einwanderer bewegen sich vom Berg Musa in Richtung der Zäune von Ceuta, und etwa 700 versuchen, in spanisches Hoheitsgebiet zu gelangen.“ Dies weist darauf hin, dass das Video nicht aus Spanien, sondern aus Marokko stammt. Eine frühere Veröffentlichung des Videos konnte AFP nicht finden.
Noch am selben Tag wurde das Video von der Nachrichtenseite Visegrad24 aufgegriffen, die bereits durch Falschinformationen aufgefallen ist. Einen Tag später wurde das Video von der Nichtregierungsorganisation Marokkanische Vereinigung für Menschenrechte auf ihrer Facebook-Seite veröffentlicht.
Die Stadt Ceuta an der Mittelmeerküste nahe der Meerenge von Gibraltar gehört seit 1668 zu Spanien. Ziel vieler Menschen, die versuchen nach Ceuta zu gelangen, ist es, auf spanischem Boden einen Asylantrag zu stellen. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International werfen den Grenzbehörden dort illegale Push-backs vor (hier archiviert). Im Jahr 2021 sollen laut der Organisation 5000 Menschen von den spanischen Behörden nach Marokko abgeschoben worden sein, ohne die Möglichkeit bekommen zu haben, Asyl zu beantragen.
Bis zum 10. Dezember 2023 sind laut der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen UNHCR 1086 Geflüchtete in Ceuta angekommen. Für die vergangenen zwei Jahre hat das spanische Innenministerium detaillierte Zahlen zu irregulären Einreisen nach Ceuta veröffentlicht, weit mehr als in den Vorjahren. So sind im Jahr 2022 124 Menschen auf dem Seeweg und 1114 auf dem Landweg in der Exklave angekommen. 2021 waren es 404 über das Meer und 753 über Land. Im Jahr 2022 wurden insgesamt 1868 und 2021 1218 ankommende Geflüchtete in ganz Spanien über den Landweg registriert. Mehr als die Hälfte davon kam somit über Ceuta nach Spanien.
Laut UNHCR sind im Jahr 2023 bereits 51.342 neu angekommene Flüchtlinge in ganz Spanien registriert worden. Die Zahlen für 2023 sind bereits Anfang Dezember 2023 höher als in den drei Jahren zuvor und vergleichbar mit 2018, als 58.569 Geflüchtete nach Spanien kamen.
Arabische Sprache und marokkanische Nummernschilder
Im Video selbst lassen sich weitere Hinweise finden, dass das Video nicht in Spanien aufgenommen wurde. Zunächst sind im Auto Stimmen zu hören. Eine Journalistin von AFP bestätigte, dass es sich dabei um einen marokkanischen Dialekt des Arabischen handelt und die Frauen im Auto die Szenen kommentieren.
Auf den Aufnahmen sind auch andere Autos zu erkennen. In einem Fall ist das Nummernschild gut zu erkennen. Das Layout passt zu dem eines marokkanischen Kennzeichens. Die letzte Nummer „44“ weist auf eine Registrierung in der Stadt Tetouan, 40 Kilometer südlich von Gibraltar hin.
Tetouan liegt zudem unweit des in Rubén Pulidos Post erwähnte Berg Jbel Musa und der spanischen Exklave Ceuta. Die einzige zweispurige Straße in der Region ist die Bundesstraße N16, die von Tanger entlang der nördlichen Mittelmeerküste Marokkos nach in den Osten des Landes führt. An dieser Straße konnte AFP den tatsächlichen Streckenabschnitt identifizieren, in dem das Video aufgenommen wurde. Der Aufnahmeort liegt rund zwei Kilometer Luftlinie vom Grenzzaun zu Ceuta entfernt, der entlang der gestrichelten Linie verläuft.
Die Route des Fahrzeugs im Video konnte anhand von verschiedenen Orientierungspunkten festgestellt werden. So ist bei Sekunde 43 ein kleines Häuschen am Straßenrand zu sehen. Das Häuschen steht laut dem Dienst für georeferenzierte Fotos Mapillary am Rande der erwähnten Straße. Das gleiche Häuschen ist auch auf den Satellitenbildern von Google Maps zu erkennen.
Kurz darauf sind im Video zwei Funkmasten zu sehen, die sich ebenfalls auf den lokal verorteten Fotos und den Satellitenbildern der Region wiederfinden lassen.
Antonio Bonachera von der spanischen Hilfsorganisation für Migrantinnen und Migranten Caminando Fronteras, die in der Region tätig ist, hat in einer E-Mail vom 6. Dezember 2023 an AFP den Ort der Aufnahmen nahe dem Berg Jbel Musa auf der Straße N16 bestätigt. Wann genau die Aufnahmen gemacht wurden, konnte Bonachera aber nicht sagen: „Am 17. und 18. November dieses Jahres gab es massive Versuche, die Grenze zu Ceuta zu überqueren, aber die Bilder könnten auch von einem anderen Zeitpunkt stammen, da es bereits mehrere solcher Versuche gegeben hat.“ Laut den aufgezeichneten Wetterdaten war der Tag in der Region um Ceuta wolkenlos, dies passt zu den Aufnahmen im Video. Am Tag davor und danach haben die Wetterstationen Wolken registriert.
Wie die französische Zeitung „Le Monde“ unter Berufung auf marokkanische Presseberichte berichtete (hier archiviert), haben rund tausend Personen am 17. und 18. November 2023 versucht, die marokkanisch-spanische Grenze von Marokko aus zu überwinden. Die Zeitung schreibt dann, mit Verweis auf die spanische Polizei: „Die meisten wurden auf marokkanischem Gebiet von den Sicherheitskräften gestoppt, aber etwa 100 gelang es, sich dem äußeren Zaun von Ceuta zu nähern, wobei es einigen gelang, ihn zu überklettern, ohne ihn jedoch zu durchbrechen.“ In dem Artikel wird auch von Videos von Anwohner berichtet, die in sozialen Netzwerken geteilt wurden, diese „zeigen Hunderte von Männern, die eine Straße entlanglaufen, wobei unklar ist, ob sie sich in Richtung Grenze bewegen oder vor den Sicherheitskräften flüchten.“
Auch Gonzalo Fanjul, von der spanischen Nichtregierungsorganisation für die Rechte Geflüchteter PorCausa, bestätigte in einer Mail vom 12. Dezember 2023 gegenüber AFP, dass die Aufnahmen des Facebook-Videos aus Marokko nahe der Grenze zu Ceuta stammen. „Eine große Gruppe von Migranten versammelte sich in der Gegend um die marrokanische Gemeinde Fnideq (Castillejos auf Spanisch), um einen gemeinsamen Versuch zu organisieren, den Zaun zu überwinden. Eine Praxis, die in den letzten Jahren nicht mehr üblich ist, da die Grenzsicherheit erhöht wurde. Versuche auf dem Landweg nach Ceuta zu gelangen sind nicht mehr häufig.“ Wie im Zeitungsbericht schreibt Fanjul von etwa 1000 beteiligten Personen. „Aber nur 300 schafften es in die Nähe des Zauns von Ceuta und niemand kam hinein. Es gab 80 Verletzte, davon 50 Polizisten und 30 Migranten. Niemand wurde ernsthaft verletzt.“
Lange Geschichte von Gewalt
An der Grenze zu Ceuta kommt es seit Jahren zu Gewalt, wenn Migrantinnen und Migranten aus Afrika versuchen, die Außengrenze der Europäischen Union zu überwinden. So kamen im Jahr 2014 laut Amnesty International 14 Menschen ums Leben (hier archiviert), als sie versuchten, über das Meer in Richtung der spanischen Exklave zu schwimmen. Die Menschen ertranken, während spanischen Grenzschützer mit Gummigeschossen und Tränengas in ihre Richtung schossen.
Auch in der Grenze zur spanischen Exklave Melilla im Nordosten Marokkos hat es immer wieder Tote und Verletzte gegeben. Am 24. Juni 2022 hatten rund 2000 Menschen, hauptsächlich aus dem Sudan und Südsudan versucht, über die Grenzanlagen zu klettern. Laut marokkanischen Behörden kamen 23 Menschen ums Leben (hier archiviert). Amnesty International geht sogar von mindestens 37 Toten aus (hier archiviert).
Fazit: Ein Video, das angeblich Migranten auf einer Straße in Spanien zeigt, stammt aus Marokko. AFP konnte anhand von Geolokalisierung feststellen, dass die Aufnahmen nahe der spanischen Exklave Ceuta gemacht wurden. Zudem waren die Aufnahmen mindestens einen Tag älter, als im Post behauptet wird.