Der Klimawandel und seine Auswirkungen auf den Meeresspiegel sind wissenschaftlich belegt. Dennoch teilen Nutzerinnen und Nutzer in sozialen Medien tausendfach Bilder aus Rio de Janeiro, die vermeintlich beweisen, dass sich der Meeresspiegel seit 1880 nicht verändert habe. Das ist falsch: Wie unabhängige Messdaten belegen und mehrere Experten erklären, ist der Meeresspiegel sowohl in Rio de Janeiro als auch weltweit deutlich gestiegen.
Bei Klimawandelskeptikern sind vermeintliche fotografische Beweise, die wissenschaftliche Erkenntnisse widerlegen sollen, sehr beliebt. „Der Meeresspiegel steigt … und steigt … und steigt …“ heißt es ironisch in einem viralen Facebook-Post vom 31. Mai 2024, der mehr als 16.000 Mal geteilt wurde. Der Beitrag zeigt drei Bilder gleichen Ausschnittes eines auf einer Halbinsel gelegenen Berges mit den Datierungen „ca. 1880“, „ca. 1910“ und „2020“. Auf den Bildern sieht man, wie die Küstenlinie durch neue Gebäude und Infrastruktur verändert wurde, während allerdings keine Veränderung des Wasserstands zu erkennen ist.
Auch auf Threads, Instagram und X zirkuliert das Bild mit ähnlichen, den Meeresspiegelanstieg in frage stellenden Behauptungen. In einem X-Post vom 1. Juni 2024 heißt es etwa: „Und die Menschen werden immer hysterischer & hysterischer & hysterischer…“.
In anderen Sprachen wird das Bild ebenfalls in sozialen Medien geteilt, etwa auf Englisch, Schwedisch, Ungarisch, Bulgarisch und Niederländisch.
Eine erweiterte Websuche zeigt, dass die Fotos den Zuckerhut abbilden, ein Wahrzeichen der brasilianischen Stadt Rio de Janeiro. Der Berg trägt seinen Namen (auf Portugiesisch Pão de Açúcar) aufgrund der konischen Form, die an einen Zuckerhut erinnert. Der 394 Meter hohe Granitfelsen liegt auf der Halbinsel Urca in der Guanabara-Bucht und gehört zu Rio de Janeiro. Eine Seilbahn führt auf den Gipfel und macht den Berg zu einem beliebten und vielfach fotografierten Ausflugsziel.
Eine vergleichende umgekehrte Bildsuche zeigt, dass identische Fotos oder eine Aufnahme mit gleichem Entwicklungsstand der abgebildeten Gebäude und Infrastruktur datiert im Internet frei verfügbar sind: 1880, 1910 und 2020. Die zeitlichen Verortungen der Fotos in den kursierenden Beiträgen sind somit in etwa korrekt.
Fotos sind kein wissenschaftlicher Beweis
Doch drei Fotos aus drei Jahrhunderten sind ungeeignet, um Meeresspiegelveränderungen zu belegen, sagte Torsten Albrecht gegenüber AFP am 6. Juni 2024. Der promovierte Physiker forscht am Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) zum Meeresspiegelanstieg und Eisdynamiken. „Diese Fotos aus der Ferne können Unterschiede auf Zentimeterskala wohl kaum darstellen“, führte Albrecht aus. Bei den Bildern handele es sich „um Momentaufnahmen und nicht um Mittelwerte, lokale Trends könnten dem globalen Trend entgegenwirken“. Meeresspiegelstände an Küsten können auf Fotos je nach Wetter, Ebbe- oder Flutstand gänzlich unterschiedlich aussehen, ohne dass dies ein Beweis für eine generelle Entwicklung sei.
Ingo Sasgen, führender Wissenschaftler der Abteilung für Glaziologie am Alfred Wegener Institut (AWI) und Sprecher für Meeresspiegelveränderungen des Helmholtz-Verbund REKLIM, bestätigte diese Einschätzung gegenüber AFP am 7. Juni 2024: „Fotos aus der Ferne sind hier die falsche Methode. Der Meeresspiegelanstieg bewegt sich im Bereich von Zentimetern über Jahrhunderte,“ was auf den Bildern eines Berges, der allein schon knapp 400 Meter hoch ist, nicht abbildbar sei. „Bessere Messungen für die relative Meeresspiegeländerung, also jene bezogen auf die Küste, sind Gezeiten-Pegelstationen“.
Eine solche Messstation befindet sich seit 1963 nahe des Zuckerhuts und heißt Ilha Fiscal. Verantwortet vom Permanent Service for Mean Sea Level (PSMSL) des britischen National Oceanography Centre (NOC) werden in regelmäßigen Abständen die Gezeiten-Pegelstände an weltweiten Messstationen gemessen, der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt und ausgewertet. Laut deren Daten ist der relative Meeresspiegel vor Rio de Janeiro durchschnittlich um 2,35 Millimeter pro Jahr gestiegen, was bereits seit dem Messbeginn im Jahr 1965 einen Anstieg von über 14 Zentimetern ausmacht.
Meeresspiegel steigt, aber nicht gleichmäßig
Die Messergebnisse aus Ilha Fiscal beweisen eindeutig, dass der Meeresspiegel vor Rio de Janeiro in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen ist. Doch um zuverlässige Aussagen über die Veränderungen des Meeresspiegels weltweit zu treffen, reicht eine einzelne Messstation laut Expertenmeinung nicht aus: „Der größte Anteil des globalen Meeresspiegelanstiegs kommt derzeit von der Eisschmelze in Grönland, der Antarktis und den Gletschern weltweit“, sagte Torsten Albrecht vom PIK und verweist dabei auf aktuelle Studien. Durch die steigenden Temperaturen als Folge des Klimawandels dehnt sich das Wasser thermisch aus, was ebenfalls wesentlich zum Anstieg der Pegel beiträgt, genauso wie schwindende Süßwasserspeicher an Land.
Allerdings steigt das Wasser weltweit nicht gleichmäßig, wie Ingo Sasgen vom AWI ausführt: Regionale Faktoren, wie Veränderungen des Wasserkreislaufs, der Winde, der Meeresströmungen oder des atmosphärischen Drucks, sowie tektonische Heb- oder Absenkbewegungen der Landmasse können dafür sorgen, dass in Küstenstädten sehr große Unterschiede gemessen werden. Auch Gravitationskräfte spielen dabei eine Rolle. „Da die Masse der Eisschilde abnimmt, wird dort regional weniger Wasser angezogen. Das bedeutet, der Meeresspiegel steigt besonders stark in der gegenüberliegenden Weltregion“, erklärt Sasgen.
Um wissenschaftliche Aussagen über den durchschnittlichen globalen Meeresspiegelstand zu treffen, bedarf es daher möglichst vieler global verteilter Pegelstationen, deren Daten um die Landhebung und -senkung und anderer lokaler Einflussfaktoren korrigiert werden.
Laut Daten der NASA, die auf diese Weise erfasst werden, ist der „Meeresspiegel im globalen Mittel seit 1880 an den weltweit verteilten Pegeln an Küsten um etwa 22 Zentimeter gestiegen“, führte Torsten Albrecht vom PIK aus. Die Rate des Meeresspiegelanstieges hat sich vor allem in den letzten Jahrzehnten deutlich beschleunigt. Ingo Sasgen vom AWI fügte hinzu: „Heute kann der globale Meeresspiegel mit Satelliten und autonomen Treibbojen sehr genau bestimmt und in die Einzelbeträge zerlegt werden. Im Zeitraum von Januar 1993 bis Dezember 2016 beträgt die mittlere Rate des GMSL 3,05 ± 0,24 Millimeter pro Jahr.“
Der Weltklimarat der Vereinten Nationen (IPCC) stellt in seinem Bericht aus dem Jahr 2021 fest, dass seit mindestens 1971 „der menschliche Einfluss sehr wahrscheinlich“ die Hauptursache für den weltweiten Anstieg des Meeresspiegels ist.
Einfluss von Baumaßnahmen an der Küste
Luiz Paulo de Freitas Assad, Ozeanologe und Professor für Meteorologie an der staatlichen Universität von Rio de Janeiro, erklärte gegenüber AFP am 10. Juni 2024, dass die Folgen des Klimawandels in Brasilien in den vergangenen Jahren sehr deutlich spürbar waren: „Nicht nur an der Küste von Rio de Janeiro, auch in anderen Küstenregionen Brasiliens beobachten wir deutliche Erosionsprozesse, die durch den Anstieg des Meeresspiegels und durch die zunehmend häufiger und in größerer Intensität auftretenden Extremwetterereignisse verursacht werden.“
Zudem weist de Freitas Assad auf den Einfluss menschlicher Eingriffe in die Küstengestaltung hin. Dass die Küste des Zuckerhuts bei Rio de Janeiro auf den Fotos von 1880 bis 2020 so anders aussähe, liege maßgeblich daran, dass die Guanabara-Bucht durch Landgewinnungsmaßnahmen und Infrastrukturprojekte verändert worden sei. „Die Urbanisierungsprozesse in den Küstenregionen fanden vielerorts nicht organisiert statt. Mangroven werden abgeholzt, was wiederum die Widerstandsfähigkeit dieser Gebiete gegenüber den Folgen des Klimawandels – wie des steigenden Meeresspiegels – massiv verschlechtert“, führte Assad aus.
AFP hat bereits zuvor falsche oder irreführende Behauptungen über den Meeresspiegelanstieg als Folge des Klimawandels widerlegt. So beweisen zwei Bilder der Freiheitsstatue in New York nicht, dass der Meeresspiegel dort gleich bleibt. Auch in Venedig steigt er trotz eines kurzzeitigen Niedrigwassers weiter an. Andere Beiträge behaupten fälschlicherweise, das Wasser aus schmelzenden Eisschilden und Gletschern trage nicht zum Meeresspiegelanstieg bei. Alle Faktenchecks zum Thema Klima sammelt AFP hier.
Fazit: Der Meeresspiegel steigt durch den Klimawandel weltweit an. Im globalen Mittel ist er an Küsten seit 1880 um etwa 22 Zentimeter gestiegen, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nachgewiesen haben. Auch in Rio de Janeiro ist der Meeresspiegel seit 1880 gestiegen. Einzelne Fotos von Küstenabschnitten sind lediglich Momentaufnahmen und kein valider Beweis, um Meeresspiegelveränderungen nachzuweisen. Sie widersprechen dem Anstieg des Meersspiegels nicht.