Geburtsschmerz ist subjektiv und kann nicht in "Schmerzeinheiten" oder Knochenbrüchen gemessen werden - Featured image

Geburtsschmerz ist subjektiv und kann nicht in „Schmerzeinheiten“ oder Knochenbrüchen gemessen werden

Obwohl eine Geburt oft mit intensiven Schmerzen verbunden ist, ist dieses Empfinden subjektiv und lässt sich nicht pauschal messen. Nutzerinnen und Nutzer haben in sozialen Netzwerken aktuell erneut die Jahre alte Behauptung verbreitet, wonach Frauen bei der Geburt bis zu 57 „Schmerzeinheiten“ ertragen müssten, was 20 Knochenbrüchen entspräche. Solche Schmerzeinheiten gibt es allerdings nicht, wie Expertinnen und Experten gegenüber AFP bestätigten.

Die Behauptung: „Der menschliche Körper kann nur 45 Schmerzeinheiten aushalten, doch bei der Geburt hält eine Frau bis zu 57 Schmerzeinheiten aus, was so viel ist, als würde man ihr 20 Knochen auf einmal brechen“, behaupten Nutzerinnen und Nutzer Ende Mai 2022 auf Facebook.

Seit Jahren teilen User diese Behauptung zehntausendfach auf Facebook. Ende Juni 2022 überprüfte AFP die Behauptung erneut auf Spanisch und in Französisch, nachdem die Behauptung sich in zahlreichen Sprachen verbreitete, darunter auch PortugiesischGriechisch oder Bulgarisch.

Facebook-Screenshot der irreführenden Behauptung: 08.07.2022

AFP hat mit Gynäkologen, Hebammen und Anästhesisten über die Behauptung gesprochen. Sie alle räumten ein, dass der Geburtsschmerz zwar einer der intensivsten sei, den es gibt. Sie wiesen aber auch darauf hin, dass er subjektiv sei, von vielen Faktoren abhänge und nicht in willkürlichen Einheiten gemessen werden könne.

Schmerz ist subjektiv

„Es ist wirklichkeitsfremd, von ‚Schmerzeinheiten‘ zu sprechen“, sagte Dominique Truan, Gynäkologin und Geburtshelferin an der Universität von Chile, in einem Faktencheck gegenüber AFP. „Schmerz ist zu subjektiv, zu persönlich, zu kontextabhängig“, betonte sie.

„Schmerz ist extrem subjektiv. Er hängt von unserer Wahrnehmung des Körpers ab, von unserer Fähigkeit, ihn zu ertragen. Der psychologische Zustand spielt eine große Rolle – er wirkt sich auf viele Bereiche aus“, erklärte am 27. Juni 2022 auch Philippe Goffard, stellvertretender Leiter der Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin des Universitätsklinikums Saint-Pierre in Brüssel. Er wies jedoch darauf hin, dass „der Geburtsschmerz in die Kategorie der stärksten Schmerzen fällt“.

Das Konzept der „Schmerzeinheiten“ sei kein medizinischer Begriff, erklärte Luis Miguel Torres, Präsident der Spanischen Multidisziplinären Schmerzgesellschaft. Der Begriff „existiert weder im klinischen Bereich noch in der Forschung“, er sei „eine Erfindung von irgendjemandem, die keine Grundlage, keine wissenschaftliche Basis hat“, erklärte er weiter.

Obwohl er nicht in den genannten Einheiten gemessen werden könne, sei der Geburtsschmerz „ein Schmerz, der in der Medizin als ‚hoch‘ angesehen wird, ein bisschen wie ein sehr intensiver Nierenstein“, fügte Dominique Truan hinzu. Auch Luis Miguel Torres verglich den Geburtsschmerz mit dem einer Patientin, die unter Nieren- oder Gallensteinen leidet. Sie sagte, dass der Geburtsschmerz „aufgrund seiner Merkmale und seiner Dauer sehr spezifisch“ sei. „Man kann ihn niemandem erklären. Es ist schwierig, ihn mit anderen Arten von Schmerzen zu vergleichen“, fügte er hinzu.

Was man während der Geburt spürt, „hängt auch von der Begleitung und der Vorbereitung vor der Geburt ab, vor allem, wenn es keine Analgetika (schmerzstillende Medikamente, Anm. d. Red.) gibt“, sagte Mario Sebastiani, Spezialist für Geburtshilfe am Italienischen Krankenhaus in Buenos Aires, gegenüber AFP.

Skala von eins bis zehn

Alle von der AFP befragten Fachärztinnen und -ärzte bestätigten, dass sie nicht wissen, worauf sich die Zahlen der „Schmerzeinheiten“ einer Geburt in den verbreiteten Postings beziehen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Schmerzen bei der Entbindung nicht beurteilt werden.

Philippe Goffard erklärte: „Der Sinn der Schmerzbeurteilung besteht darin, den Schmerz zu objektivieren, um eine angemessene Behandlung einleiten zu können. Je nach Schmerzgrenze, die bei jeder Person unterschiedlich sein kann, führen wir die bestmögliche Behandlung durch.“ Und weiter. „Manche Patientinnen verkraften die Geburt sehr gut ohne Schmerzmittel und ohne PDA (ein Betäubungsverfahren, Anm. d. Red.), andere brauchen von Anfang an medizinische Hilfe.“

„Wir, insbesondere die Anästhesisten, können die Schmerzen während der Geburt messen. Wir sind es gewohnt, eine Skala von eins bis zehn zu verwenden“, erklärte Pierre Bernard, Präsident des Königlichen Kollegiums der französischsprachigen Gynäkologen und Geburtshelfer Belgiens, am 27. Juni 2022 gegenüber AFP.

Wie dieser Artikel aus dem Jahr 2006 im „European Spine Journal“ erläutert, gibt es zwei einfache Skalen zur Schmerzbewertung, die von Fachleuten verwendet werden.

Die visuelle Analogskala (VAS) und die numerische Skala (NRS) beruhen beide auf dem Prinzip, Patientinnen und Patienten zu bitten, ihre Schmerzen auf einer Skala von eins bis zehn (oder seltener von zehn bis 100) zu bewerten, wobei zehn das maximale Schmerzniveau darstellt. Laut Auskunft von Jorge Jiménez Cruz am 1. Juli 2022 würden diese beiden Skalen aufgrund ihrer Einfachheit in Deutschland am häufigsten verwendet. Jiménez Cruz ist Oberarzt für Spezielle Geburtshilfe und Pränatalmedizin am Universitätsklinikum Bonn.

Wie AFP 2019 berichtete, verwenden Ärztinnen und Ärzte häufig eine zehnstufige Skala, um Schmerzen besser beurteilen zu können. In der Skala sind teilweise auch Gesichtsausdrücke enthalten, wie auch die Deutsche Schmerzgesellschaft in einem Beitrag auf ihrer Website erklärt.

Screenshot der Website der Deutschen Schmerzgesellschaft, aufgenommen: 12.07.2022

Aber auch dieses System wurde inzwischen in Frage gestellt. „Wir wissen heute, dass die Skala zu einfach ist, um etwas so Komplexes zu messen“, sagte Jianren Mao, der Leiter der Abteilung für Schmerzmedizin am US-amerikanischen Massachusetts General Hospital in einem Beitrag der Harvard Medical School vom Dezember 2018. „Was eine Person als acht oder vier einstuft, kann für eine andere Person ganz anders sein, so dass es nicht immer eine genaue Bewertung ist.“

Speziell für die Geburt existiere auch noch eine eigene Messeinheit, erklärte Jiménez Cruz weiter. Beim Coping With Labor Algorithm wird „die Schmerzintensität durch die Körperausdrucke der Patientin durch einen externen Beobachter eingeschätzt und kategorisiert“.

Es gibt auch andere Instrumente zur Messung von Schmerzen. 1971 entwickelten zwei Forscher der McGill-Universität in Kanada den McGill-Schmerzfragebogen. Dieser Fragebogen enthält etwa zwanzig Fragen mit präzisen Wörtern, die je nach empfundenem Schmerz anzukreuzen sind. Er ermöglichte es Ronald Melzack, einem seiner Erfinder, verschiedene Schmerzarten in einer Skala miteinander zu vergleichen, darunter auch Schmerzen bei der Geburt.

Im Vergleich von Melzack wird Kausalgie, heute oft komplexes regionales Schmerzsyndrom genannt, als die Erkrankung mit der höchsten Schmerzintensität beschrieben. Dabei kommt es nach einer Verletzung zu anhaltenden Schmerzen über die Verletzung hinaus. Kausalgie wird ein Wert von 42 oder 45 von 50 zugeschrieben. Jiménez Cruz vermutete deshalb, dass die maximal aushaltbare Schmerzeinheit der Postings in dieser Messskala begründet sei.

Es ist jedoch nach wie vor sehr schwierig, verschiedene Arten von Schmerzen zu vergleichen.

Hat nichts mit Knochenbrüchen zu tun

Yoana Stancheva, Hebamme und Mitbegründerin von Zebra, der ersten privaten Hebammenpraxis in Bulgarien, erklärte am 28. Juni 2022 gegenüber AFP, dass „Gefühle während der Geburt nichts mit Brüchen zu tun haben. Für viele Frauen ist eine normale Geburt eine intensive und harte Erfahrung. Für andere ist sie sanft, schnell und erträglich. Aber in keinem der beiden Fälle gibt es ein Gefühl wie Knochenbrüche oder andere Pathologien. Im Gegenteil: Je intensiver die Empfindung ist, desto besser und erwartungsgemäß funktioniert der Körper. Schmerzen während der Geburt sind ein Zeichen für den Fortschritt des normalen Prozesses und nicht mit einer Pathologie vergleichbar.“

Auch Jiménez Cruz schrieb an AFP: „Für die im Post suggerierte Aussage, dass man Geburtsschmerzen mit 20 Knochenbrüchen vergleichen kann, fehlt jegliche Evidenz.“ Knochenbrüche würden zwar in zahlreichen Studien als sehr schmerzhaft beschrieben, seien aber anders als die Schmerzen während der Geburt: „Der Hauptunterschied ist, dass bei solchen Schmerzen rasch und effektiv mit starken Schmerzmitteln oder sogar mit einer Operation behandelt wird. Bei der Geburt sind die Analgesie-Möglichkeiten etwas eingeschränkter und vor allem nicht so effektiv. Daher ist die Zeit, die man sich in starken Schmerzen befindet tatsächlich mit kaum einer anderen Erfahrung in der Medizin vergleichbar“, erklärte Jiménez Cruz.

Fazit: Die Geburt eines Kindes kann eine der schmerzhaftesten Erfahrungen im Leben einer Frau sein. Die von den Frauen während der Geburt empfundenen Schmerzen sind jedoch unterschiedlich stark. Die in der Behauptung erwähnten „Schmerzeinheiten“ gibt es nicht. Mit Skalen versuchen Ärztinnen und Ärzte aber, Schmerzen zu beurteilen, um eine angemessene Behandlung zu ermöglichen.

 

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Wissenschaft, Gesundheit

Autor(en): Eva WACKENREUTHER, AFP Bulgarien, AFP Argentinien, AFP Belgien

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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