Deutschland und die EU diskutieren seit Wochen über die Themen Migration und Asyl. Zum zweiten Mal wird dabei der Verein „United4Rescue“ Ziel von irreführenden Behauptungen, diesmal im Zusammenspiel mit der evangelischen Kirche.
Angeblich, so heißt es auf einem Bild, das uns vielfach auf Whatsapp erreichte, habe die evangelische Kirche das Rettungsschiff Sea-Watch 4 für 1,3 Millionen Euro gekauft und damit während der ersten Rettungsmission 4.353 Menschen illegal nach Europa gebracht. Betrieben werde das Schiff ebenfalls von der evangelischen Kirche und zwar über den gemeinnützigen „Tarnverein“ United4Rescue. Der Vorsitzende des Vereins, Thies Gundlach, sei zugleich der Ehemann der Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt.
Unsere Recherche zeigt: Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) war zwar maßgeblich an der Gründung von United4Rescue beteiligt, allerdings hat sie nie ein Rettungsschiff gekauft. Der Verein, der in der Tat gemeinnützig ist, unterstützt andere Organisationen durch Spenden. So auch den Verein Sea-Watch, der die Sea-Watch 4 betrieb. Der rettete beim ersten Einsatz der Sea-Watch 4 nicht 4.353 Menschen, sondern 354. Illegal war daran nichts.
United4Rescue ist ein Bündnis für Seenotrettung im Mittelmeer
Die Gründung von United4Rescue geht auf den Kirchentag im Juni 2019 in Dortmund zurück. Im Dezember 2019 stellte die EKD dann United4Rescue – Gemeinsam retten e.V. vor. Der Verein ist ein Bündnis aus kirchlichen und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen zur Seenotrettung. Thies Gundlach ist Teil des Vorstands von United4Rescue. Er ist Theologe im Ruhestand und es stimmt, dass er seit 2017 der Lebensgefährte – allerdings nicht der Ehemann – von Katrin Göring-Eckardt ist.
United4Rescue besitzt allerdings keine eigenen Schiffe, sondern unterstützt andere Organisationen durch Spenden. Das bestätigte uns auch ein Sprecher der EKD telefonisch. Die EKD habe nie ein Schiff gekauft oder betrieben, die Kirche habe dafür auch gar keine Expertise gehabt. Stattdessen leite United4Rescue Gelder, die als Spenden eingeworben wurden, an entsprechende Initiativen weiter. Dass es sich bei United4Rescue um einen „Tarnverein“ handele, wies der EKD-Sprecher zurück. Die Vereinsgründung wie auch die Spenden seien transparent auf den Webseiten von United4Rescue nachzuvollziehen.
Rettungsschiff Sea-Watch 4 war nie Eigentum von United4Rescue, sondern gehörte dem Verein Sea-Watch
Auch United4Rescue wies die Behauptungen auf unsere Anfrage hin zurück. „United4Rescue ist ein unabhängiger, gemeinnütziger Verein und gehört nicht der oder zur evangelischen Kirche“, schrieb uns Sprecherin Susanne Jacoby. Richtig sei, dass der Verein von Menschen aus der evangelischen Kirche heraus initiiert und gegründet worden sei. Aufgrund dieser Gründungsgeschichte gebe es immer noch viele Unterstützer- und Spenderinnen aus dem kirchlichen Bereich.
Den Kauf der Sea-Watch 4, so Jacoby weiter, habe man durch 1,1 Millionen Euro Spenden unterstützt, das Schiff gehört jedoch nicht United4Rescue: „Sea-Watch war von Beginn an Eignerin des Schiffes und für den operativen Betrieb verantwortlich“, erklärte die Sprecherin.
Das bestätigte uns auch Sea-Watch-Sprecher Oliver Kulikowski auf Anfrage: „Die Sea-Watch 4 wurde von Sea-Watch gekauft und war durchgängig in unserem Eigentum: Der Kauf des Schiffs wurde aber durch Spenden von United4Rescue ermöglicht.“ Sea-Watch habe zudem die operative und wirtschaftliche Verantwortung des Einsatzes getragen.
Bei der Sea-Watch 4, die mittlerweile Humanity 1 heißt, und der Nichtregierungsorganisation SOS Humanity gehört, handelte es sich um das erste sogenannte „Bündnisschiff“ von United4Rescue. Welche Schiffe der Verein noch unterstützt und wie viel Geld er dafür ausgegeben hat, lässt sich auf seiner Homepage nachlesen.
Die evangelische Kirche hat die Sea-Watch 4 also nicht gekauft, sondern kirchliche Organisationen unterstützen United4Rescue, wie es auch andere Organisationen tun. United4Rescue wiederum hat das Schiff auch nicht gekauft, sondern ermöglichte durch Spenden, dass der Verein Sea-Watch die Sea-Watch 4 kaufen konnte.
Sea-Watch 4 rettete bei ihrem ersten Einsatz 354 Menschen
Der erste Einsatz der Sea-Watch 4 fand vom 15. August 2020 bis zum 3. September 2020 statt, schrieb uns Kulikowski. Auf der Webseite von United4Rescue findet sich darüber ein 52-seitiger Bericht. Anders als behauptet, wurden bei dem Einsatz allerdings keine 4.353 Menschen gerettet, sondern 354. Über die Rettungsaktion berichteten zahlreiche Medien. Darunter die Welt und Zeit Online.
Auf dem im Netz geteilten Bild heißt es weiter, die Sea-Watch 4 habe die Menschen illegal nach Europa „geschleust“. Auch das ist falsch. Wir erklären die Rechtslage im Folgenden.
Schiffe haben dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen zufolge ein Recht auf friedliche Durchfahrt
Im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen („United Nations Convention on the Law of the Sea“, PDF) ist in Teil 3 Artikel 17 zunächst festgelegt, dass jedes Schiff ein Recht auf friedliche Durchfahrt durch jedwede Meere hat, auch wenn diese in die territoriale Zuständigkeit eines Staates fallen. Bedingung ist dabei, dass die Durchfahrt kontinuierlich und zügig erfolgt.
Eine Durchfahrt kann aber auch einen Stopp und das Ankern beinhalten, wenn zum Beispiel Hilfe für Menschen, Schiffe oder Luftfahrzeuge, die sich in Gefahr oder einer Notlage befinden, geleistet werden muss. Bisher wurde die Konvention von 169 Staaten und Staatenbünden ratifiziert (Stand 23. Oktober 2023), darunter auch Deutschland, Italien und die Europäische Union.
Rettungsschiffe müssen Menschen an einen „sicheren Ort“ bringen
Schiffe haben also das Recht, friedlich die Meere zu befahren und die Pflicht, Menschen in Not zu helfen. Wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages im November 2022 schrieb, haben Schiffe nach dem „Internationalen Übereinkommen über Seenotrettung“ und dem „Internationalen Übereinkommen zum Schutz menschlichen Lebens auf See“ zudem die Pflicht, Gerettete innerhalb einer angemessenen Zeit an einen sicheren Ort zu bringen.
Das geht aus einem Zusatz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2004 hervor. Dort heißt es, Gerettete hätten unabhängig von ihrer Nationalität und den Umständen ein Recht auf einen „sicheren Ort“. Dieser sei innerhalb „angemessener Zeit“ bereitzustellen. An einem solchen Ort müsse primär das Überleben der Geretteten gewährleistet werden im Sinne der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse. Das könne zum Beispiel auch an Bord eines größeren Schiffes geschehen.
Wie der Wissenschaftliche Dienst in seinem Gutachten weiter ausführt, können Kapitäninnen und Kapitäne jedoch nicht einfach so entscheiden, welchen Ort sie ansteuern, wenn sie Menschen gerettet haben. Sie müssen dabei beachten, in welcher Such- und Rettungszone (SAR-Zone), die Küstenstaaten einrichten müssen, sie sich befinden und den Anweisungen der zuständigen Seenotrettungsleitstellen (MRCC) folgen. Die folgende Karte zeigt die entsprechenden Gebiete im Mittelmeer sowie die zuständigen Leitstellen.
Grundsätzlich sei es die Kompetenz des für die Rettungszone zuständigen Staates, einen sicheren Hafen zu bestimmen, erklärt auch Marlene Stiller, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationales Öffentliches Recht und Internationalen Menschenrechtsschutz der Universität Münster auf Anfrage. Der anzusteuernde Hafen müsse nicht der geografisch nächste sein.
Allerdings: Werde dem Rettungsschiff ein Hafen zugewiesen, der die Voraussetzungen eines sicheren Ortes nicht erfüllt, „ist es die seerechtliche Pflicht der*des Kapitän*in diesen Hafen nicht anzusteuern, sondern nach einer neuen Zuweisung zu verlangen“, so Stiller.
Diese Bedenken trafen im Fall der Sea-Watch 4 jedoch nicht zu.
Wann können Einsätze auf See illegal sein?
Wann wäre die Rettungsaktion der Sea-Watch 4 illegal gewesen? Auch diese Frage beantwortete uns Marlene Stiller von der Universität Münster.
Bei der Frage, ob ein Fall von Seenot vorliegt, spielen demnach Kriterien wie „das Wetter, die Seetauglichkeit des betreffenden Bootes, die Anzahl der Passagiere an Bord, die Ausstattung des Bootes mit Kraftstoff, Essens- und Wasservorräten und der Gesundheitszustand und die Vulnerabilität der Personen an Bord des Bootes“ eine Rolle, schreibt Stiller. Die Seeuntauglichkeit des Bootes rufe dabei „per se eine Seenotrettungssituation hervor“. Der Kapitän oder die Kapitänin des Bootes, welches zur Hilfe eilt, hätten einen gewissen Spielraum, um die Situation einzuschätzen und zu beurteilen.
Sea-Watch 4 brachte Menschen im Sommer 2020 nach Palermo
In der Chronik des Berichts zum ersten Einsatz der Sea-Watch 4 erläutert United4Rescue, welche Menschen wann und in welchen Situationen an Bord genommen wurden. Darin steht, dass die Sea-Watch 4 im August bei fünf Einsätzen Menschen von kleineren Schiffen und seeuntauglichen Schlauchbooten rettete. Nach Zustimmung der italienischen Behörden wurde Palermo angelaufen, wo die 353 Geretteten zunächst auf ein Quarantäneschiff umstiegen. Die Sea-Watch 4 sei dann am 18. September 2020 in den Hafen von Palermo eingelaufen.
Zu der Behauptung, die Sea-Watch habe illegal gehandelt, schrieb uns Sprecher Oliver Kulikowski: „Das ist natürlich falsch. Wir retten in internationalen Gewässern und auf Basis internationalen Rechts.“ Dazu gehöre, dass eine Rettung nur dann als abgeschlossen gelten könne, wenn die geretteten Menschen an einen sicheren Ort gebracht wurden. „Dieser wurde uns in diesem Fall von Italien zugewiesen.“
Wir fanden keine Medienberichte darüber, dass die Sea-Watch 4 illegal gehandelt hätte. Im Gegenteil: Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen forderte am 29. August 2020, den Geflüchteten auf der Sea-Watch 4 sollte unverzüglich ein sicherer Hafen zugewiesen werden.
Redigatur: Steffen Kutzner, Uschi Jonas
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck: