Ende März waren Windkraft-Gegner im Netz in Aufruhr: „Frankreich zeigt, wie es geht und verbietet Windräder!“, heißt es in einer Werbeanzeige auf Facebook von der AfD-Landtagsfraktion Sachsen und in einer Mitteilung der AfD-Landtagsfraktion Sachsen-Anhalt steht: „Per Beschluss des obersten Verwaltungsgerichts wird es keine Genehmigung mehr für Windräder geben […] Hintergrund ist die hohe Gesundheitsgefährdung der Anwohner durch Lärm und Infraschall.“ Verbreitet werden die Meldungen auch auf X und Facebook. Ähnliche Beiträge kursieren auf Tiktok und Telegram.
Alexander Raue, der auf Youtube unter dem Namen „Vermietertagebuch“ auftritt und regelmäßig Desinformation verbreitet, behauptet in einem Video: „Frankreich verbietet ab sofort alle Windräder, weil sie gesundheitliche Schäden bei den Anwohnern verursachen.“ Beim AfD-nahen Deutschland-Kurier heißt es: „Frankreich verbietet ab sofort alle Windräder, weil sie gesundheitliche Schäden unter den Anwohnern verursachen können.“ Und der Blog Tichys Einblick schreibt: „In einer sensationellen Entscheidung wurden in Frankreich sämtliche Genehmigungen für Windräder aufgehoben. Grund: Die Bürger würden in unzumutbarer Weise vom Lärm belästigt.“
Doch was steckt dahinter? Unsere Recherche zeigt: Ja, es gab ein Urteil des französischen Staatsrats, dem obersten Verwaltungsgericht Frankreichs. Doch das betrifft Formfehler bei Gesetzesänderungen. Frankreich hat damit weder Windräder verboten noch bestehende Genehmigungen zurückgenommen. Ob das Urteil genutzt werden könnte, um diese Genehmigungen juristisch anzufechten, ist unklar. Jedoch hatte die Entscheidung selbst nichts mit gesundheitlichen Folgen von Windrädern zu tun. Expertinnen und Experten sehen keine ausreichenden Belege für solche Gefahren.
Urteil des Staatsrats verbietet keine Windräder in Frankreich
Weder im Urteil des französischen Staatsrats vom 8. März 2024 noch in den Schlussfolgerungen der öffentlichen Berichterstatterin zu dem Rechtsstreit, die CORRECTIV.Faktencheck vorliegen, ist die Rede davon, dass die Genehmigungen für Windräder in Frankreich aufgehoben werden.
Das Ministerium für Wirtschaft und Finanzen in Frankreich bestätigt auf Anfrage: „Die Entscheidung des Staatsrats verbietet in keinem Fall die Errichtung von Windrädern.“ Auch Éric Landot, Anwalt für öffentliches Recht in Frankreich, sagt zu dem Urteil: Dadurch würden Windräder weder verboten, noch Genehmigungen für künftige oder bestehende Windparks aufgehoben.
Staatsrat erklärte neues akustisches Messprotokoll für ungültig
Doch worum geht es dann in dem Urteil aus Frankreich?
Fünfzehn Interessenverbände, darunter der Verein Fédération Environnement Durable (auf Deutsch: Föderation für nachhaltige Umwelt), klagten gegen bestimmte Erlasse zu Windkraftanlagen vom 10. Dezember 2021. Die Verbände gelten laut der öffentlichen Berichterstatterin als Windkraftgegner.
Im Wesentlichen geht es um das Protokoll zur akustischen Messung von Onshore-Windparks, also Windparks an Land. Das Protokoll schreibt vor, wie Lärm von Windkraftanlagen gemessen werden soll. Das Ministerium für Wirtschaft und Finanzen genehmigte das Protokoll in verschiedenen Versionen in 2021, 2022 und 2023. Doch der Staatsrat erklärte die Genehmigungen des Protokolls in seinem Urteil im März für unwirksam. Grund dafür ist nicht die Messmethodik selbst, sondern dass Frankreichs Regierung zum einen keine öffentliche Anhörung zu dem Protokoll und zum anderen keine Umweltprüfung durchgeführt habe, schreibt Julie Cazou, Anwältin für öffentliche Umweltmaßnahmen auf ihrer Webseite.
Wie der Staatsrat erklärt, ist eine öffentliche Anhörung jedoch gesetzlich vorgeschrieben, wenn Entscheidungen von Behörden Auswirkungen auf die Umwelt haben. Laut Landot hätte die Regierung den Entwurf des Protokolls also einige Wochen lang im Internet zur Diskussion stellen müssen. Die Prüfung auf Umweltauswirkungen ist Vorgabe der EU.
Windräder in Frankreich: Altes, weniger strenges akustisches Messprotokoll wieder gültig
Wegen der Annullierung gelte jetzt wieder die frühere Version des akustischen Protokolls aus 2011, schreibt das Ministerium für Wirtschaft und Finanzen. Demnach gelten weiterhin bestimmte Grenzwerte, wie ein maximaler Geräuschpegel von 70 Dezibel am Tag und 60 Dezibel in der Nacht in direkter Nähe der Windkraftanlage.
Landot bezeichnet die Situation als „paradox“. Denn die Vorschriften aus 2011 würden sogar weniger Schutz für Anwohnerinnen und Anwohner bieten. Diese Einschätzung teilt Mattias Vandenbulcke, Vorsitzender des Verbands France Renouvelables. Er sagte gegenüber dem französischen Fernsehsender TF1: Das nun aufgehobene Protokoll habe etwa präzisere Maßnahmen für die Mikrofone, die den Lärm messen, empfohlen und unabhängigen Kontrollstellen eine größere Rolle eingeräumt.
Laut Anwalt Landot habe das Urteil auf bestehende Windkraftanlagen, die nicht gerichtlich angefochten werden, keine Auswirkungen. Bei Anlagen, deren Rechtmäßigkeit vor Gericht angefochten wird, würde ein Urteil von Fall zu Fall nach der früheren Version des akustischen Messprotokolls, mit sehr geringen technischen Unterschieden, gefällt. Und bezüglich zukünftig geplanter Windparks geht Landot davon aus, dass derzeit sowohl das Protokoll von 2011 als auch die jüngste Version berücksichtigt werden sollte. „Aber die technischen Unterschiede zwischen dem alten und zukünftigen Text bleiben Details.“
Staatsrat hob zusätzlich Abstandsregelung für Windpark-Erneuerungen vor dem 1. Juli 2022 auf
Der zweite Teil des Urteils des Staatsrats betrifft Abstandsregelungen für bestehende Windparks, wenn diese erneuert werden. Seit März 2017 gilt in Frankreich für Windräder ein Mindestabstand von 500 Metern zu Wohngebieten. Am 10. Dezember 2021 wurde eine Ergänzung im Gesetz beschlossen: Wird ein bestehender Windpark erneuert, der weniger als 500 Meter Abstand zu Wohngebieten hat, darf dieser Abstand nicht noch weiter verringert werden.
Auch diese beschlossene Ergänzung im Gesetz hat der Staatsrat nun aufgehoben, allerdings nur für solche Windparks, die vor dem 1. Juli 2022 gebaut wurden und eine Erneuerung angemeldet haben. Das ist das Datum, an dem die Ergänzung von Dezember 2021 in Kraft trat. Ausschlaggebend für die Entscheidung des Staatsrats war auch in diesem Fall, dass die von der EU vorgeschriebene Umweltprüfung nicht durchgeführt wurde.
Fazit: Es stimmt also nicht, dass „Genehmigungen für alle Windräder“ in Frankreich aufgehoben worden wären oder Windräder gar „verboten“ wurden. Es gilt lediglich derzeit ein älteres akustisches Messprotokoll und teilweise eine ältere Regelung in Bezug auf den Mindestabstand zu Wohngebieten bei der Erneuerung von Windparks. Bestehende Windräder werden – sofern sie nicht juristisch angefochten werden – weiter betrieben, neue Windparks können geplant und gebaut werden. Die beiden AfD-Landtagsfraktionen, der Deutschland-Kurier und Alexander Raue gehen in ihren Mitteilungen überhaupt nicht auf den Umstand ein, dass es bei dem Urteil des Staatsrats im März 2024 um akustische Messprotokolle und Abstandsregelungen ging; bei Tichys Einblick werden sie erwähnt, aber es werden dennoch falsche Rückschlüsse über die Auswirkungen des Urteils gezogen.
Angebliche Gefahren durch Infraschall oder Lärmbelästigung sind nicht Gegenstand des Urteils
Der Deutschland-Kurier behauptet: „Zur Begründung hieß es in dem Richterspruch: Anwohner in der Umgebung von Windrädern würden von den Lärmgeräuschen belästigt und womöglich in ihrer Gesundheit beeinträchtigt. Es ist Infraschall […], um genau den geht es jetzt in dem Urteil.“ Auch die anderen Verbreiter der Falschbehauptung suggerieren einen Zusammenhang mit einer angeblichen Gesundheitsgefahr durch Infraschall oder Lärm: Bei den AfD-Fraktionen Sachsen und Sachsen-Anhalt ist die Rede von einer „hohen Gesundheitsgefährdung der Anwohner durch Lärm und Infraschall“ und auch Youtuber Alexander Raue sagt: Frankreich verbiete ab sofort alle Windräder, „weil sie gesundheitliche Schäden bei den Anwohnern verursachen, […] das Ganze nennt sich Infraschall“. Bei Tichys Einblick heißt es, der Grund für das Urteil sei, „die Bürger würden in unzumutbarer Weise von Lärm belästigt“.
Doch das stimmt nicht, nirgends in der Rechtsprechung werden Lärm oder Infraschall als Gründe für das Urteil genannt.
Keine Belege für angebliche Gesundheitsgefahren durch Infraschall von Windrädern
Als Infraschall werden Luftschallwellen bezeichnet, die im Frequenzbereich 1 bis 20 Hertz liegen, heißt es in einem Bericht des Umweltbundesamts (UBA) von Juni 2020. Damit sei Infraschall für den Menschen in der Regel nicht hörbar, der wahrnehmbare Bereich könne sich aber individuell noch unterscheiden. Die individuelle Wahrnehmungsschwelle für 20 Hertz (Einheit für die Tonhöhe) könne bei etwa ein Prozent der Bevölkerung um bis zu 15 Dezibel (Einheit für die Lautstärke) höher oder niedriger ausfallen.
Laut Christian Fabris, Fachgebietsleiter für Lärmminderung und -wirkung beim UBA, entsteht Infraschall beispielsweise bei Ebbe, Flut und Wellengang – er sei allgegenwärtig, schreibt auch Stefan Holzheu, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bayreuther Zentrums für Ökologie und Umweltforschung. Windkraftanlagen, so Holzheu, erzeugten einen schwachen Infraschall beim Flügeldurchgang am Mast.
Das Bayerische Landesamt für Umwelt (LfU) schreibt in einem Bericht von Juli 2022: „Bislang konnte kein Zusammenhang zwischen dem Infraschall, der auf die Anwohner von Windenergieanlagen einwirkt, und gesundheitlichen Symptomen nachgewiesen werden.“ Das gelte sowohl für Studien, die selbstberichtete Beschwerden untersuchten, als auch für Studien, die auf messbare Parameter wie körperliche und psychische Symptome setzten.
Dass bislang keine wissenschaftliche Studie eine gesundheitliche Gefährdung durch den von Windkraftanlagen erzeugten Infraschall für den Menschen belegen konnte, bestätigten uns auf aktuelle Anfrage mehrere Fachleute – neben Pressesprecher Frank Grüneisen vom Bundesverband Windenergie e.V. auch die Wissenschaftler Fabris und Holzheu.
Infraschall von Windrädern liegt unter Wahrnehmungsschwelle, keine nachgewiesene Gesundheitsgefahr
Der springende Punkt ist dabei, dass der Infraschall von Windrädern laut mehreren Messungen unterhalb der Hör- und Wahrnehmungsschwelle liegt – selbst im Nahbereich –, wie das LfU schreibt. Unter dieser Schwelle konnten bislang keine negativen gesundheitlichen Auswirkungen nachgewiesen werden. Das bestätigen zum Beispiel Ergebnisse einer UBA-Experimentalstudie von 2020 und eine in der wissenschaftlichen Zeitschrift Nature veröffentlichte Studie von 2021, die langfristige Auswirkungen von Infraschall in der Luft auf das Verhalten und das Gehirn untersuchte. Auch in einer Langzeitstudie von 2018 bis 2020 aus Finnland wurden keine Hinweise auf eine Gesundheitsgefährdung durch Infraschall von Windkraftanlagen bei Anwohnerinnen und Anwohnern gefunden.
Bei Infraschall oberhalb der Hör- und Wahrnehmungsschwelle mit sehr hohen Pegeln, so das LfU, könnten dagegen verschiedene Organsysteme, wie das Gehör oder die Herzmuskelzellen reagieren. Bei Infraschall mit extrem hohen Pegeln, über etwa 140 Dezibel, seien Gehörschäden möglich – wie beschrieben, liegt der Infraschall von Windrädern deutlich darunter.
Dennoch gibt es Menschen, die von gesundheitlichen Leiden berichten, die sie in Zusammenhang mit Windenergieanlagen bringen. Diese Leiden seien tatsächlich real, zitiert der EnBW Energie Baden-Württemberg Holzheu. „Nur ist die Ursache nicht Infraschall, diese Kausalität lässt sich nicht herstellen.“ Infraschall von Windenergieanlagen sei viel zu schwach. Als wahrscheinlichster Auslöser für die Beschwerden gelte in der Wissenschaft der sogenannte Nocebo-Effekt. Der Effekt beschreibt laut Holzheu negative gesundheitliche Einflüsse, die durch subjektive Befürchtungen ausgelöst werden.
Fazit: Es stimmt nicht, dass Lärmbelästigung oder angebliche gesundheitliche Schäden durch Infraschall der Grund für ein Urteil des französischen Staatsrats am 8. März 2024 war. Zudem gibt es bislang keine ausreichenden wissenschaftlichen Belege dafür, dass Infraschall von Windrädern gesundheitliche Schäden verursacht.
Französischer Umweltverband verbreitete Falschinformation über das Urteil
Tichys Einblick zitiert auch aus einer Pressemitteilung des französischen Verbands Fédération Environnement Durable vom 11. März. Der Verband war einer der Kläger und berichtete ebenfalls irreführend, dass das Urteil „Genehmigungen für Onshore-Windkraftanlagen (…) für illegal“ erklärt habe. Ob es tatsächlich genutzt werden könnte, um bestehende Windparks in Frage zu stellen, wie der Verband andeutet, bleibt offen. Einen Zusammenhang zwischen dem Urteil und Infraschall oder Lärmbelästigung stellt der Verband jedoch nicht her.
Die AfD-Landtagsfraktionen in Sachsen und Sachsen-Anhalt sowie Alexander Raue reagierten nicht auf unsere Konfrontationen zu ihren Veröffentlichungen; Tichys Einblick und der Deutschland-Kurier reagierten, gingen jedoch nicht inhaltlich auf unsere Fragen ein.
Redigatur: Paulina Thom, Uschi Jonas
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Urteil des französischen Staatsrats N° 465036, 8. März 2024: Link (archiviert)
- Protokoll zur Messung der akustischen Auswirkungen eines Onshore-Windparks, 20. Juni 2023: Link (archiviert)
- Protokoll zur Messung der akustischen Auswirkungen eines Onshore-Windparks, 26. August 2011: Link (archiviert)
- „Windkraftanlagen: Abschaffung des Protokolls zur Messung der akustischen Auswirkungen“, Julie Cazou von Seban Avocats, 4. April 2024: Link (archiviert)
- „Lärmwirkungen von Infraschallimmissionen“, Umweltbundesamt, Juni 2020, Link (archiviert)
- „Windenergieanlagen, Infraschall und Gesundheit“, Bayerische Landesamt für Umwelt, Juli 2022: Link (archiviert)
- „A longitudinal, randomized experimental pilot study to investigate the effects of airborne infrasound on human mental health, cognition, and brain structure“, Nature, 4. Februar 2021: Link (archiviert)
- „Infrasound Does Not Explain Symptoms Related to Wind Turbines“, Technisches Forschungszentrum Finnland, 22. Juni 2020: Link