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Opfer des Flugzeugabsturzes in Brasilien wurden fälschlich in impfkritischen Kontext gesetzt

62 Menschen starben bei einem Flugzeugabsturz nahe São Paulo in Brasilien am 9. August 2024. Vier der Opfer waren Ärztinnen und Ärzte. In impfkritischen Kreisen wird nun fälschlich behauptet, acht der zu Tode gekommenen Passagiere seien Krebsforschende gewesen, die kurz davor gestanden hätten, eine Verbindung zwischen mRNA-Impfstoffen und sogenanntem „Turbokrebs“ öffentlich nachzuweisen. Zusätzlich wird ein Bild mit den Gesichtern von Studierenden, Ärztinnen und Ärzten sowie Professoren einer Universität geteilt, die unter den Opfern waren, um die Behauptung zu untermauern. Unter ihnen war jedoch nur eine Onkologin. Außerdem existiert „Turbokrebs“ laut Fachleuten nicht.

„Zufälle gibt’s…“, schrieb ein Facebook-Nutzer am 19. August 2024. „Das sind die Gesichter der 8 Krebsforscher, die bei dem Flugzeugabsturz in Brasilien ‚ums Leben gebracht wurden‘!“ Der angebliche Grund ihm zufolge: „Sie haben die Zusammenhänge mit den MRNA-Injektionen und Turbokrebs erforscht und wollten ihre Arbeit veröffentlichen.“ Auch auf X und Telegram wurden Beiträge mit der Behauptung geteilt. Sie alle beinhalten ein Bild mit acht schwarz-weiß-Porträts von Personen mit Namen und Berufsbezeichnungen auf Portugiesisch.

Das Bild kursiert zusammen mit der Behauptung auch auf Serbisch, Französisch, Griechisch und Niederländisch.

X-Screenshot der Behauptung: 23. August 2024

Die Aussage, das Bild zeige acht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die kurz vor der Veröffentlichung ihrer Covid-Forschungen gestanden hätten, ist jedoch falsch.

Am 9. August 2024 war ein Flugzeug des französisch-italienischen Flugzeugbauers ART auf dem Weg von Cascavel im südlichen Bundesstaat Parana zum internationalen Flughafen von Guarulhos in der Nähe von São Paulo im Südosten Brasiliens gewesen, als es in der 80 Kilometer nordwestlich von São Paulo gelegenen Kleinstadt Vinhedo abstürzte. Alle 62 Menschen an Bord der Maschine kamen dabei ums Leben. Die Ermittlungen zur Unglücksursache dauerten zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels noch an.

Auf den Flugzeugabsturz folgten schnell Falschinformationen, wie beispielsweise ein Video eines Flugzeugs, das mit dem Unglück nicht in Verbindung steht – AFP hat diese Behauptung in einem weiteren Faktencheck widerlegt. In impfkritischen Kreisen wurde zudem auf Portugiesisch behauptet, es seien 15 Ärztinnen und Ärzte gewesen, die im Begriff gewesen seien, Erkenntnisse über genetische Sequenzen von Covid-19 zu veröffentlichen. Auch hieß es, acht der Opfer seien Onkologen und auf dem Weg zu einem Krebskongress gewesen, auf dem sie angeblich hätten aufdecken wollen, dass mRNA-Impfungen gegen das Coronavirus „Turbokrebs“ verursachen würden. Diese Behauptungen wurden ohne Namen der angeblichen Akteurinnen und Akteure verbreitet.

Der regionale Rat für Medizin des Bundesstaats Parana, der an São Paulo grenzt, bestätigte in einer Pressemitteilung vom 9. August 2024 den Tod von vier in der Region registrierten Ärztinnen und Ärzten (hier archiviert). „Dr. Arianne Albuquerque Risso, Dr. Mariana Comiran Belim, Dr. José Roberto Leonel Ferreira und Dr. Sarah Sella Langer waren an Bord des Flugs 2283“, bei dessen Absturz 62 Menschen ums Leben kamen, heißt es in der Mitteilung.

Die gesamte Liste der Passagiere und Crewmitglieder, die bei dem Unglück starben, ist von der brasilianischen Nachrichtenagentur Agência Brasil veröffentlicht worden (hier archiviert).

Nur eine Onkologin der Uni an Bord

Eine umgekehrte Bildsuche führte zum Beitrag, aus dem das geteilte Bild der acht Personen ursprünglich stammt. Die staatliche Universität Westparana (Unioeste) veröffentlichte es in Gedenken an die Opfer des Flugzeugabsturzes, die der Universität angehört hatten, am 9. August 2024 auf ihrem Instagram-Account (hier archiviert). Am selben Tag veröffentlichte sie auch eine Pressemitteilung auf der universitätseigenen Website (hier archiviert), in der von neun, nicht acht, aktuellen oder ehemaligen Studierenden und Professorinnen und Professoren die Rede war.

Das Bild zeigt jedoch keine Krebsforschenden. Laut Informationen der Universität sowie veröffentlichten Arbeiten und Übersichten auf Social Media-Accounts war nur Mariana Comiran Belim in der Onkologie tätig.

Die Lehrkräfte, Doktorinnen und Doktoren und ehemaligen Studierenden hätten den „Flug 2283 der Airline Voepass Linhas Áreas“ genommen, „der an diesem Freitag (09) im August vom Cascavel Regional Airport nach Guarulhos International Airport – São Paulo flog und in der Kommune Vinhedo (SP) abstürzte“, schrieb die Universität zusammen mit einer kurzen Biografie zu jedem der Opfer, die mit der Universität in Verbindung standen.

„Unioeste beklagt den unschätzbaren Verlust von neun Menschen, darunter vier Lehrkräften, zwei Ärzten und drei ehemaligen Studierenden“, erklärte die Universität in einer weiteren Pressemitteilung nach einer Trauerfeier für die Verunglückten (hier archiviert). Auch darin widmet sie jedem der acht Opfer eine kurze Biografie.

Deonir Secco war demnach „ein Professor des Studiengangs Agraringenieurwesen am Campus Cascavel“. Aus Nachweisen seiner Veröffentlichungen und seinem Werdegang geht keine Forschung zu Krebs oder Medizin hervor. Lokalen Medien zufolge befand er sich im Urlaub und war auf dem Weg nach Deutschland.

Edilson Hobold war Professor für Sportwissenschaft mit „umfangreicher Erfahrung“ in „Sporttraining und Sportpädagogik“. Eine Suche nach seinen Veröffentlichungen lieferte ausschließlich Ergebnisse zu Sport, nicht aber zu Krebs.

Verwechslung mit einem Krebsexperten

José Roberto Leonel Ferreira ist Radiologe an der Policlínica Cascavel sowie in seiner Privatklinik. Auf der Website der Klinik sowie deren Facebook-Account wird keine Forschung an Krebs, mRNA-Impfstoffen oder „Turbokrebs“ im Zusammenhang mit Ferreira erwähnt. Er war zudem kürzlich emeritierter Professor der Unioeste.

Bereits kurze Zeit nach dem Unglück wurde in sozialen Medien die Falschbehauptung verbreitet, Krebsexperte Leonardo Ferreira sei unter den Opfern gewesen – er wurde dem Anschein nach jedoch mit dem verunglückten Radiologen verwechselt. Leonardo Ferreira erklärte auf Anfrage von AFP am 14. August 2024, dass er nicht in dem Flugzeug gesessen habe.

Raquel Ribeiro Moreira hat an der Unioeste ein Literaturstudium absolviert und arbeitete bis zu dem Unglück „als akkreditierte Lehrerin (…) hauptsächlich zu den folgenden Themen: Diskursanalyse, Jugendliche in sozialen Risikosituationen, Schulbücher, formale und berufliche Bildung und Textproduktion“. Eine Suche nach ihrem Namen in Verbindung mit Krebsforschung lieferte keine Ergebnisse.

Der Campus Cornélio Procópio der Technischen Universität Parana erklärte in einem Facebook-Beitrag am 10. August 2024, dass Raquel Ribeiro Mireira und Gracinda Marina Castelo da Silva, Professorin für Chemieingenieurwesen, zusammen mit ihren Ehepartnern bei dem Unfall ums Leben gekommen waren. Zu den Opfern zählte außerdem die Studentin Hadassa Maria da Silva, die der Technischen Universität zufolge ihren Abschluss in Rechnungswesen gemacht hatte.

Sarah Sella Langer war eine Kinderärztin, die „an Forschungsprojekten zur sublingualen Immuntherapie bei atopischer Dermatitis und zur Genetik der atopischen Dermatitis bei brasilianischen Patientinnen und Patienten teilgenommen hat“, schreibt die Universität in ihrer Mitteilung. Der brasilianische Verband der Allergologen und Immunologen erwähnte in seiner Beileidsbekundung auf Facebook keine Forschungen Langers zu den Themen mRNA-Impfstoffe oder „Turbokrebs“.

Ana Carolina Redivo „schloss 2014 ihr Verwaltungsstudium am Unioeste-Campus ab“ und arbeitete in der Ernährungsberatung, als sie bei dem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Auf ihren Social Media-Accounts sowie in der Bekanntmachung ihres Todes auf ihrem Instagram-Kanal gibt es keinen Hinweis darauf, dass sie in der Krebsforschung tätig gewesen wäre.

Mariana Comiran Belim war zwar Assistenzärztin in der klinischen Onkologie am Krebsklinikum Uopeccan und Intensivmedizinerin auf der Intensivstation des Universitätskrankenhauses von Westparana (HUOP). Sie ist die einzige in den Beiträgen erwähnte Ärztin, die tatsächlich in einem Bereich arbeitet, der mit Krebserkrankungen zu tun hat. AFP fand jedoch keine Hinweise auf Arbeiten von ihr, die im Zusammenhang mit mRNA-Impfstoffen oder „Turbokrebs“ stehen.

Onkologie: Es gibt keinen „Turbokrebs“ 

Das Krebsklinikum Uopeccan in Cascavel bestätigte auf seinem Instagram-Account sowie auf seiner Facebook-Seite, dass Mariana Comiran Belim unter den Opfern des Flugzeugabsturzes war. Zu ihnen zählte demnach eine weitere Onkologin, Arianne Albuquerque Estevan Risso, die nicht mit der Universität Unioeste in Verbindung stand und dementsprechend nicht in den Beiträgen mit der Falschinformation erwähnt wird.

Einem Bericht zufolge waren beide auf dem Weg zu einer Krebskonferenz, die von AstraZeneca organisiert wurde. Die Konferenz wurde in Reaktion auf das Unglück laut Medienberichten abgesagt. Der regionale Rat für Medizin des Bundesstaates Parana erklärte in seiner Pressemitteilung ebenfalls, dass die beiden Onkologinnen auf dem Weg zu einer Konferenz waren. Es wird nicht erwähnt, ob Sarah Sella Langer und José Roberto Leonel Ferreira mit ihnen gereist waren oder auch auf dem Weg zu einer Konferenz waren.

Darüber hinaus ist „Turbokrebs“ kein medizinischer Fachbegriff. Das Wort tauchte nach dem Beginn der Kampagnen für die Impfstoffe gegen Covid-19 auf und wurde von Impfgegnerinnen und -gegnern verbreitet. Sie behaupteten fälschlich, die neuen Impfstoffe seien gefährlich.

„Ich kann mich nicht erinnern, den Begriff ‚Turbokrebs‘ jemals zuvor gehört zu haben“, erklärte David Gorski, Co-Direktor der Michigan Breast Oncology Initiative, im Januar 2023 gegenüber AFP. „Er taucht in keiner Arbeit auf, die ich auf PubMed finden konnte. Er ist ein Begriff, der von Impfgegnerinnen und Impfgegnern erfunden wurde.“ AFP suchte am 22. August 2024 auf PubMed, einem Dokumentenserver für Pre-Print- und Peer-Review-geprüfte medizinische Veröffentlichungen, noch einmal nach „Turbokrebs“ und erzielte auch zu diesem Zeitpunkt keine Ergebnisse.

Keine Beweise für Impfstoffe als Krebsursache

„Es gibt keine Beweise dafür, dass Impfstoffe Krebs verursachen“, erklärte die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) in einer E-Mail vom 25. März 2024 an AFP. Die IARC ist die auf Krebs spezialisierte Agentur der Weltgesundheitsorganisation.

Maya Gutierrez, Spezialistin für medizinische Onkologie am französischen Curie-Institut, sagte in einem Gespräch mit AFP im Jahr 2022 ebenfalls, dass jegliche Andeutung, es gebe einen Zusammenhang zwischen Covid-19-Impfstoffen und steigenden Krebsraten, „keine rationale Grundlage“ haben. „Was die Zeit angeht, so ist sie viel zu kurz, es ist unmöglich, dass eine Impfung solche Phänomene hervorruft“, erklärte sie. „Es gibt zwei Ungereimtheiten in diesem Diskurs: über den Mechanismus und die Dauer.“

Die Vorsitzende des Forschungsausschusses der schwedischen Krebsstiftung und Krebsforscherin Malin Sund erklärte in einer E-Mail vom 8. April 2024 an AFP, dass es in der Literatur keinen nachgewiesenen Zusammenhang zwischen einer Impfung und einer anschließenden Entwicklung einer Krebserkrankung gebe.

Bruno Quesnel, Direktor für Forschung und Innovation am französischen Nationalen Krebsinstitut (INCa) erklärte im Januar 2023 gegenüber AFP ebenfalls, dass es „keinen glaubwürdigen Mechanismus gibt, der das erklären könnte.“ Es gebe „keine biologische Begründung“.

In der Vergangenheit widerlegte AFP bereits Falschbehauptungen zu Krebserkrankungen durch Covid-Impfstoffe.

Fazit: Ein online geteiltes Bild zeigt keine Krebsforscherinnen und -forscher, die zum Zeitpunkt des Flugzeugabsturzes in Brasilien am 9. August 2024 kurz vor der Veröffentlichung einer Forschung zu mRNA-Impfungen und „Turbokrebs“ standen – es handelt sich um die Unglücksopfer, die Angehörige der Universität Westparana waren. Darunter war zudem nur eine Ärztin, die tatsächlich als Onkologin gearbeitet, aber nichts zu mRNA-Impfungen veröffentlicht hatte.

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Politik, Corona, Gesundheit

Autor(en): Marion DAUTRY / Johanna LEHN / AFP Belgrad

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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