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Polizeistatistik falsch interpretiert – keine 1261 Toten

Wenn Flüchtlinge in Deutschland ein schweres Verbrechen begangen haben, werden schnell Zahlen zur vermeintlich höheren Kriminalität von Ausländern aufgetischt. Nachdem ein 27-jähriger Mann aus Eritrea am 5. Dezember 2022 in Illerkirchberg bei Ulm ein Mädchen erstochen und ein weiteres schwer verletzt haben soll, behauptet der Brandenburger AfD-Bundestagsabgeordnete René Springer: Im Jahr 2021 hätten Ausländer vermeintlich 1261 Menschen in Deutschland getötet. Diese Zahl, die er der Kriminalstatistik entnommen haben will, verbreitet sich weit in sozialen Medien. Sie stimmt aber nicht.

Bewertung

Die genannte Zahl lässt sich zwar in der Kriminalstatistik finden. Sie bezeichnet allerdings Tatverdächtige und keine Fälle oder gar Opfer. Zudem wird der Wert vollkommen falsch eingeordnet, weil etwa neben vollendeten auch versuchte Taten eingerechnet sind. Die meisten Tatverdächtigen bei Straftaten gegen das Leben sind Deutsche.

Fakten

Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamtes (BKA) zeichnet in der Tabelle «Straftaten und Staatsangehörigkeit nichtdeutscher Tatverdächtiger» (Download) zwar tatsächlich für das Jahr 2021 im Bereich Straftaten gegen das Leben 1261 nichtdeutsche Tatverdächtige aus. Doch wegen mehrerer statistischer Faktoren bedeutet das bei Weitem nicht, dass 1261 Menschen in Deutschland von Ausländern getötet worden seien.

  1. In der PKS gibt es mehr Tatverdächtige als Taten – etwa wenn ein Verbrechen gemeinsam begangen wird. Das zeigt sich schon daran, dass das BKA für die 2980 erfassten Fälle (Download) im Bereich Straftaten gegen das Leben insgesamt 3519 Tatverdächtige (2258 Deutsche und 1261 Nichtdeutsche) aufgenommen hat.
  2. Die PKS verzeichnet sowohl vollendete Fälle als strafbare Versuche. Von den insgesamt 2980 Straftaten gegen das Leben waren mehr als die Hälfte (Download) im Versuchsstadium verblieben. Bei den 1392 tatsächlich vollendeten Fällen gab es 320 nichtdeutsche Tatverdächtige und 1175 deutsche.
  3. Neben Mord, Totschlag und Totschlag auf Verlangen werden zu Straftaten gegen das Leben auch Schwangerschaftsabbrüche und fahrlässige Tötungen (außerhalb des Straßenverkehrs) gezählt. Bei einer fahrlässigen Tötung will der Tatverdächtige gerade nicht, dass ein anderer Mensch stirbt. Er führt dessen Tod aber durch Missachtung der eigenen Sorgfaltspflicht herbei – etwa wenn zum Beispiel eine Baustelle nicht ausreichend gesichert war. Für den Bereich «fahrlässige Tötung» verzeichnet das BKA (Download) im Komplex vollendeter Straftaten gegen das Leben die meisten Todesopfer.
  4. Die PKS erfasst ausschließlich Angaben der Polizei über Tatverdächtige. Ob ein Gericht diese später tatsächlich als Täter oder Täterin verurteilt, ist daraus nicht abzulesen.
  5. Häufig wird zudem der Begriff «nichtdeutsche Tatverdächtige» in der Wahrnehmung auf Flüchtlinge und Migranten verengt. Dabei zählt das BKA (Download) alle mit ausländischem Pass, Staatenlose und Menschen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit dazu – also auch Touristen, Geschäftsleute und Bürger aus dem EU-Ausland.
  6. Die Statistik ist zuungunsten nichtdeutscher Tatverdächtiger verzerrt. Denn Straftaten, die Deutsche im Ausland begehen, führt das BKA nicht auf. In Österreich zum Beispiel gab es 2021 im Komplex Verbrechen gegen Leib und Leben 40 deutsche Tatverdächtige.

Bei der Interpretation von Kriminalstatistiken spielen neben der Nationalität auch andere Eigenschaften der Verdächtigen wie Alter, Geschlecht oder soziale Herkunft eine Rolle.

Ausländische Verdächtige erscheinen unter anderem auch deshalb vergleichsweise häufiger in der Kriminalstatistik, weil sie eher angezeigt werden als etwa Deutsche, wie eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften 2018 herausgefunden hat. Je fremder ein vermeintlicher Täter wirke, desto größer sei die Bereitschaft, ihn zu melden.

(Stand: 17.12.2022)

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Politik, Gesellschaft

Autor(en): dpa

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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