In der Nordhalbkugel lag Mitte November 2022 mehr Schnee als in früheren Jahren zu diesem Zeitpunkt. Einige Userinnen und User sozialer Netzwerke nahmen das als Grundlage für die Andeutung, der Klimawandel würde nicht existieren. Ein punktuelles Wetterphänomen widerlegt jedoch nicht die Erderwärmung. Mehrere Klimaspezialistinnen und -spezialisten bestätigten gegenüber AFP, dass es in den vergangenen Jahren im Mittel stets einen Abwärtstrend bei Ausdehnung und Masse der Schneedecke und einen Aufwärtstrend bei den Temperaturen gab. Messungen seit 1958 belegen außerdem, dass das Vorkommen von CO2 in der Atmosphäre von Jahr zu Jahr steigt.
Seit Ende November 2022 wurde die Andeutung auf Twitter einige Dutzend Mal geteilt. Hintergrund ist ein Artikel zur Rekord-Schneemenge auf der Nordhalbkugel. Auch auf Englisch oder Französisch wurde der Beitrag geteilt.
Die Behauptung: Die Beiträge zeigen den Screenshot eines Artikels der Seite Severe Weather Europe vom 26. November 2022, der besagt: „Die Ausdehnung der Schneedecke auf der Nordhalbkugel ist momentan in der Tat sehr hoch, sie nimmt ungefähr 41 Millionen Quadratkilometer ein, laut dem Global Snow Lab der [Universität] Rutgers und der NOAA (Nationale Ozean- und Atmosphärenbehörde).“ Twitteruser, die die Aussage teilten, deuteten in ihren Beiträgen an, dass damit die Erderwärmung widerlegt sei: „Die Klimamodelle sind Schrott.“ Ein auf Facebook geteilter Artikel der FPÖ-nahen Nachrichtenseite Unzensuriert zu diesem Thema sieht darin „gute Nachrichten für Klimaverängstigte“.
Diese Aussage wurde vielfach auf Facebook und auf Twitter geteilt. Zuerst hatte sie Patrick Moore auf Englisch getwittert. Moore ist ehemaliger Umweltaktivist, die NGO Greenpeace prangerte mittlerweile aber seine Verbindungen zur Atomindustrie und seine „anti-ökologische“ Haltung an. „Die Schneedecke auf der Nordhalbkugel ist auf einem neuen Rekordhoch seit 56 Jahren. Und der Winter ist fast noch einen Monat entfernt. Hat jemand den CO2-Gehalt in der Atmosphäre gesenkt?“, steht in seinem Beitrag. Dies legt fälschlicherweise nahe, dass diese Schneemenge die Rolle von CO2 (Kohlendioxid) bei der globalen Erwärmung in Frage stellen würde oder dass letztere ganz aufgehört hätte.
Eine ähnliche Behauptung, dass der Klimawandel ein „Mythos“ sei, da es noch Schneefälle und Wintereinbrüche gäbe, hat AFP bereits widerlegt.
Wie mehrere Klimaspezialistinnen und -spezialisten gegenüber AFP ausführlich erklärten, ist die geteilte Behauptung irreführend. Sie vergleicht ein punktuelles Phänomen mit einem Trend, der über einen viel längeren Zeitraum beobachtet wurde. Das ist eine mittlerweile übliche Rhetorik, um die Erderwärmung zu leugnen.
Florian Tolle ist Dozent für Geographie ander Universität Franche-Comté im französischen Besançon, das zu theoretischer und quantitativer Geographie forscht. Er sagte gegenüber AFP am 28. November 2022: „Es gibt keinen direkten Kausalzusammenhang zwischen einem punktuellen Wetterphänomen wie der gemessenen Schneedecke zu Beginn der kalten Jahreszeit – auch wenn sie bis zum Frühjahr anhalten sollte – und den grundlegenden Trends der Klimaentwicklung, die sich wiederum auf mehrere Jahre erstrecken.“
Marie Dumont, Leiterin des Zentrums für Schneestudien in Grenoble, sagte am 29. November 2022 gegenüber AFP: „Die Schneelage ist von Jahr zu Jahr verschieden. Ein sehr schneereiches Jahr bedeutet nicht, dass die globale Erwärmung zum Stillstand gekommen ist: Vor dem Hintergrund der Erderwärmung kann man durchaus ein schneereiches Jahr haben. Aber wir wissen, dass es im Mittel, gemäß den über Jahrzehnte beobachteten Trends, zu einem Rückgang der durchschnittlichen Schneemenge kommt, was jedoch nicht bedeutet, dass es jedes Jahr einen Rückgang gibt.“
Karl Rittger, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arktis- und Alpenforschung in Colorado in den USA, sagte außerdem am 28. November 2022: „Wie die CO2-Messungen in der Atmosphäre zeigen, ist der Wert nicht gesunken: Er steigt seit Beginn dieser Messung von Jahr zu Jahr an.“
Diese Daten können auf der Keeling-Kurve eingesehen werden, die die Entwicklung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre seit 1958 beschreibt. Benannt ist sie nach den Messungen des US-amerikanischen Wissenschaftlers Charles David Keeling. Er hatte die Messungen an der Mauna-Loa-Messstation auf Hawaii initiiert.
Sehr starker Schneefall Mitte November, seitdem Rückgang des Niederschlags
Die Grafik, auf die sich Severe Weather Europe im Artikel stützt, stammt vom Rutgers Global Snow Lab, das sich auf die Untersuchung der weltweiten Schneeverhältnisse spezialisiert hat. Das Institut ist an die US-amerikanische Rutgers State University of New Jersey angeschlossen. Die Darstellung vergleicht die wöchentliche Ausdehnung der Schneedecke, die seit August 2022 in der nördlichen Hemisphäre beobachtet wurde, mit den Höchst- und Tiefstwerten, die seit 1966 gemessen wurden, sowie mit der durchschnittlichen Schneehöhe pro Monat in diesem Zeitraum.
Wie diese Kurven zeigen, liegt die zuletzt gemessene Schneedeckenhöhe vom November 2022 (violett) leicht über dem Maximalwert (blau), der vom Rutgers Global Snow Lab gemessen wurde.
Aber, wie der emeritierte Professor an der Rutgers-Universität und Leiter des Rutgers Global Snow Lab, David Robinson, AFP erklärte, müssen diese Daten vor dem Hintergrund neuester Beobachtungen auf der Nordhalbkugel differenziert betrachtet werden: „Das Ausmaß der Schnee-Ausdehnung lag Mitte November in den Gebieten der Nordhalbkugel weit über dem Normalwert. Ende des Monats war dies jedoch nicht mehr der Fall. Beispielsweise schmolz die ursprüngliche Schneedecke, die in weiten Teilen Nordamerikas zu beobachten war, so stark ab, dass die Schnee-Ausdehnung Ende November unter den Normalwert fiel.“
Dies lässt sich anhand der täglichen Schneeaufzeichnungen auf der Nordhalbkugel feststellen, die auf der Website des Rutgers Global Snow Lab zugänglich sind. Während sich der Schnee am 27. November 2022 an einer für diese Jahreszeit ungewöhnlichen Stelle (blau) ausgebreitet hatte, was dort selten vorkommt, überwiegt das Fehlen des Schnees dort, wo er üblicherweise zu sehen wäre (rot).
Geht man beispielsweise zum 16. November 2022 zurück, sieht man eine umgekehrte Tendenz.
„Wenn wir die monatlichen Daten zusammenstellen, wird dieser Monat [November 2022] ohne Zweifel über dem Mittel liegen. In diesem Stadium bin ich nicht in der Lage einzuschätzen, auf welchem Niveau das sein wird, aber man kann jetzt schon sagen, dass die Schneeausdehnung von Ende November [2022] nicht über dem Normalwert liegen wird, weil sie näher am eurasischen und unter dem nordamerikanischen Normalwert liegt“, sagte David Robinson.
Rückläufiger Trend bei Ausdehnung und Masse der Schneedecke
Karl Rittger, der die täglich aktualisierte Tracking-Seite „Snow Today“ des National Snow and Ice Data Center betreut, bestätigte, dass „die aktuelle Schneeausdehnung heute im Vergleich zu früheren Jahren zum gleichen Zeitpunkt auf einem Rekordniveau liegt.“
Der Spezialist differenzierte jedoch: „Bestimmte Stellen sind mit mehr Schnee als üblich bedeckt, während andere Stellen weniger als normal aufweisen.“ Er erinnerte gleichzeitig an verschiedene Auswirkungen der globalen Erwärmung, darunter „mehr Extremereignisse“, wie zum Beispiel starke Schneefälle.
Die World Weather Attribution ist ein weltweites Netzwerk von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, das für seine Fähigkeit bekannt ist, in kurzer Zeit die Verbindung zwischen extremen Wetterereignissen und dem Klimawandel herzustellen. In einer Studie, die am 16. November 2022 veröffentlicht wurde, schätzte das Netzwerk ein, dass dieses Phänomen die Wahrscheinlichkeit von starken Regenfällen, wie sie in den vergangenen Monaten zu beobachten waren, um das 80-fache erhöht hatte. Diese Niederschläge hätten in Nigeria zu verheerenden Überschwemmungen geführt, die über 600 Menschenleben forderten und die Landwirtschaft des bevölkerungsreichsten Landes in Afrika verwüsteten.
Marie Dumont sagte: „Selbst wenn man bis jetzt eine erhöhte Schneedecke auf der nördlichen Hemisphäre erlebt, kann sich in einigen Wochen alles wieder ändern.“ Jenseits des punktuellen Phänomens erinnerte die Leiterin des Zentrums für Schneestudien daran, dass es „über alle Datensätze hinweg in den letzten Jahrzehnten einen Abwärtstrend bei der Ausdehnung und Masse der Schneedecke gibt, auch im Herbst“.
Im Sommer 2022 stand deutlich auf der ersten Seite des aktuellen Berichts des Weltklimarats IPCC, des zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen, der Tausende von Atmosphärenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, Ozeanographinnen und Ozeanographen und Glaziologinnen und Glaziologen vereint: „Es ist unbestreitbar, dass der menschliche Einfluss die Atmosphäre, die Ozeane und das Land erwärmt hat.“
In ihrem ersten jährlichen Bericht zum Zustand der weltweiten Wasserressourcen, veröffentlicht am 29. November 2022, stellte die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) ihrerseits fest, dass sich die Gletscherschmelze im Jahr 2021 fortgesetzt und beschleunigt hatte.
„Was auch in diesem Winter kommt, ob er rau wird oder nicht, das wird nicht genügen, um die grundlegenden Tendenzen unseres Klimas zu deuten. Nur die Untersuchung des Klimas über einen längeren Zeitraum verschafft uns ein klares Bild der aktuellen Trends. Und wenn sich dieser Winter tatsächlich als schneereich und kalt erweist, wird das nur eine einmalige Atempause in einem Trend steigender Temperaturen sein, der in den letzten Jahrzehnten ungebrochen war“, sagte Florian Tolle.
Fazit: Nur weil Mitte November 2022 das Schneevorkommen auf der Nordhalbkugel über dem Normalwert lag, bedeutet es nicht, dass die Erderwärmung nicht existiert. Mehrere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erklärten gegenüber AFP, dass es sich dabei um ein punktuelles Wetterphänomen handelt, nicht um einen langfristigen Trend. Langfristige Messungen belegen, dass es in den letzten Jahrzehnten einen Abwärtstrend bei Ausdehnung und Masse der Schneedecke bei gleichzeitig steigenden Temperaturen gab.