Vergleich zwischen Urteil gegen Lina E. und die Gruppe Freital führt in die Irre

Das Urteil gegen Lina E. polarisiert. Die Linksextremistin wurde Ende Mai wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Das finden manche zu milde, andere zu scharf.  In Sozialen Netzwerken wird vielfach dieselbe Aussage geteilt: Der gleiche Richter, der Lina E. nach Mordanschlägen freigelassen habe, habe die rechtsextreme Gruppe Freital wegen „einer eingeschlagenen Windschutzscheibe und ein paar Böllern“ zu zehn Jahren Haft verurteilt. Beiträge wie diese sahen zigtausende Menschen auf Telegram, Tiktok, Twitter und Facebook.

Das stimmt so nicht: Lina E. kam zwar nach der Verhandlung auf freien Fuß, wurde aber zu einer jahrelangen Haftstrafe verurteilt. Die muss sie antreten, wenn das Urteil rechtskräftig wird – sie kann dagegen Revision einlegen. Bis dahin ist sie, anders als bisher, nicht mehr in Untersuchungshaft. Sie musste aber ihren Pass abgeben und sich zweimal in der Woche bei der Polizei melden.

Der Richter, der das Urteil gegen Lina E. sprach, war zwar auch Vorsitzender bei zwei Verfahren gegen die Gruppe Freital – sie verübte 2015 Sprengstoffanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte. Doch auch hier lassen die Beiträge Fakten weg. Denn ein Urteil von zehn Jahren gab es in einem anderen Freital-Prozess mit einem anderen Richter. Diese hohe Strafe betraf auch nicht die ganze Gruppe, sondern einzig den Rädelsführer.

In einem Twitter-Beitrag steht: „Der gleiche Richter, der Lina E. nach Mordanschlägen freigelassen habe, habe die „Gruppe Freital“ wegen einer eingeschlagenen Windschutzscheibe und ein paar Böllern zu zehn Jahren Haft verurteilt.“
Dieser Vergleich, den Zigtausende in Sozialen Netzwerken sehen, ist fehlerhaft (Quelle: Twitter; Screenshot und Schwärzung: CORRECTIV.Faktencheck)


Lina E. ist vorerst nicht mehr in Haft, wurde aber verurteilt 

Hans Schlüter-Staats verurteilte die 28-jährige Lina E. am Oberlandesgericht Dresden wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Laut Anklage hatten Lina E. und Mittäter jahrelang vermeintliche und tatsächliche Neonazis überfallen und teils schwer verletzt – in zwei Fällen lebensbedrohlich. Lina E. war zum Zeitpunkt des Urteils bereits seit über zwei Jahren in Untersuchungshaft. Der Richter setzte den Haftbefehl aus, bis das Urteil rechtskräftig ist – also nicht mehr angefochten werden kann. Bleibt es dann bei dem Urteil, muss Lina E. in Haft.

Das ist kein ungewöhnliches Vorgehen, wie Ralf Kölbel vom Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie an der Uni München auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck erklärt. Denn für eine Untersuchungshaft braucht es besondere Haftgründe: Verdunkelungsgefahr oder Fluchtgefahr.

Verdunkelungsgefahr besteht dann, wenn Beschuldigte etwa Spuren oder Beweise vernichten könnten. Das falle weg, schreibt uns Köbel. „Die Beweisaufnahme ist prinzipiell abgeschlossen und es besteht keine Verdunkelungsmöglichkeit mehr“. Die Fluchtgefahr wurde laut Medienberichten dadurch minimiert, dass Lina E. ihren Pass abgeben musste. Außerdem muss sie sich zwei Mal pro Woche bei der Polizei melden. Kölbel betont auch: E. gelte bis zur Rechtskraft der Entscheidung als unschuldig.

Vorsitzender im Prozess von Lina E. verurteilte niemanden aus der Gruppe Freital zu zehn Jahren Haft

Lina E. kam also zwar vorerst auf freien Fuß, doch sie wurde zu einer Haftstrafe verurteilt. Wie steht es aber genau um die Behauptung, Richter Hans Schlüter-Staats habe die Gruppe Freital zu zehn Jahren verurteilt? Richtig ist, dass er vorsitzender Richter bei zwei Freital-Prozessen war. Dort verurteilte das Gericht aber nicht die ganze Gruppe, wie online fälschlicherweise behauptet wird. Denn insgesamt gab es drei Freital-Prozesse.

Die Gruppe Freital verübte im Jahr 2015 mehrere Sprengstoffanschläge auf politische Gegner und Flüchtlingsunterkünfte. Laut Deutscher Welle ging die Staatsanwaltschaft davon aus, dass es nur deshalb nicht zu schweren oder tödlichen Verletzungen kam, weil „sich die Bewohner noch rechtzeitig im Flur der Unterkunft in Sicherheit bringen konnten“.

Der Prozess um den Kern der Gruppe fand bereits im März 2018 unter dem Vorsitz von Thomas Fresemann am Oberlandesgericht Dresden statt. Die höchsten Strafen bekamen zwei Rädelsführer, sie wurden zu jeweils zehn und neuneinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Urteile sind mittlerweile rechtskräftig. Ihnen und anderen wurde vorgeworfen, eine terroristische Vereinigung gegründet, außerdem waren sie wegen versuchten Mordes beziehungsweise der Beihilfe dazu angeklagt. Auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck, ob einer der Freital-Angeklagten bis zur Rechtskraft auf freien Fuß kam, antwortete das Oberlandesgericht Dresden bisher nicht.

Im zweiten Prozess im Februar 2021 bekamen drei Personen Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren auf Bewährung, eine Person bekam zwei Jahre und sechs Monate. Vorsitzender bei der Verhandlung war Schlüter-Staats. Laut Bundesgerichtshof sind diese Urteile mittlerweile rechtskräftig.

Im März 2021 verurteilte das Gericht unter dem Vorsitz von Schlüter-Staats drei Angeklagte zu Bewährungsstrafen, sie mussten also nicht in Haft. Das Oberlandesgericht Dresden antwortete bisher nicht auf die Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck, ob dieses Urteil bereits rechtskräftig ist.

Redigatur: Matthias Bau, Viktor Marinov

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Autor(en): CORRECTIV

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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