Vor den polnischen Parlamentswahlen im Oktober 2023 kursieren zahlreiche Falschinformationen online. Ein Video im Netz zeigt mehrere Migranten, die mithilfe von Baumstämmen und Zangen versuchen, einen Grenzzaun in einem Wald zu durchdringen. Es sollen angeblich aktuelle Aufnahmen von der polnischen EU-Außengrenze sein. Das ist falsch. Der Clip wurde nicht im Herbst 2023 gedreht, sondern stammt vom November 2021. Damals befanden sich mehrere tausend Migranten im polnisch-belarussischen Grenzgebiet. Es kam zu Ausschreitungen.
„Polnischer Verteidigungsminister berichtet, dass die über Ungarn und Slowakei Richtung Deutschland anstürmenden Schutzsuchenden bereits die Grenze zu Polen erreichten. Derzeit noch harte Kämpfe, aber keine Sorge: Bald sind sie hier“, heißt es in einem Facebook-Posting vom 1. Oktober 2023. Userinnen und User teilen ein rund einminütiges Video. Darin sind mehrere Männer mit dicken Jacken an einem Grenzzaun in einem Wald zu sehen. Einige Männer versuchen, den Zaun mit Baumstämmen, einem Bolzenschneider und einer Eisenstange zu durchdringen. Auch Sicherheitskräfte sind in dem Video sichtbar. Die Stimmung scheint aufgeheizt; lautes, undeutliches Stimmengewirr ist zu vernehmen. Im Hintergrund ist ein Helikopter zu hören. Am Ende des Clips wird scheinbar Tränengas in Richtung der Männer gesprüht.
Der Clip wurde auf Facebook über 8000 Mal geteilt und rund 500.000 Mal angesehen. Auch auf Telegram wird der Beitrag aktuell verbreitet, er wurde dort bisher mehr als 60.000 Mal aufgerufen. Auf Englisch kursiert der Beitrag ebenfalls (hier etwa auf X, ehemals Twitter).
Auch das österreichische Boulevardmedium „Exxpress“, das in der Vergangenheit zahlreiche Falschmeldungen verbreitet hat (AFP hat diese etwa hier, hier, hier oder hier überprüft), hat Screenshots des Videos in einem Artikel vom 1. Oktober 2023 veröffentlicht. „Jetzt auch im Norden: Tausende aggressive Migranten versuchen Grenzsturm in Polen“, lautet der Titel des „Exxpress“-Berichts, der auch auf Facebook oder X mehrfach verbreitet wurde.
Am 15. Oktober 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt. Dabei stehen sich die rechtsnationalistische, EU-skeptische Regierungspartei „Prawo i Sprawiedliwość“ (PiS) von Jaroslaw Kaczynski und die Bürgerkoalition „Platforma Obywatelska“ (PO) des proeuropäischen Oppositionsführers und ehemaligen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk gegenüber. Umfragen deuten auf ein enges Rennen hin. Der Ausgang wird maßgeblich darüber entscheiden, ob sich die Beziehungen Polens zur Europäischen Union erneut verbessern können, heißt es in Medienberichten. Die letzte Parlamentswahl in Polen fand im Jahr 2019 statt und führte zur erneuten Wahl einer Mehrheitsregierung der PiS, allerdings ohne die Mehrheit im Senat. Bei den Wahlen am Sonntag will Polens Regierungspartei im Amt bestätigt werden. Donald Tusk gilt als größter Herausforderer.
Der polnische Wahlkampf ist allerdings geprägt von Desinformation. In einem Wahlkampfclip des amtierenden Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki (PiS) werden etwa Bilder von ankommenden Migranten auf der italienischen Insel Lampedusa in Verbindung mit einem Angriff auf eine Frau gezeigt – ohne jeglichen Kontext. Recherchen von AFP ergaben, dass die Quelle dieses Videos unter anderem ein Angriff in der Berliner U-Bahn im Jahr 2016 eines bulgarischen Staatsbürgers ist, der inzwischen verurteilt wurde. Weitere Kampagnenbilder zeigen einen Terroranschlag am Flughafen Zaventem in Belgien im Jahr 2016 und die Abschiebung von Migranten aus Libyen nach Ägypten, ebenfalls ohne Kontext.
In Bezug auf Geflüchtete und Migration tauchen in sozialen Medien generell immer wieder Falschaussagen auf. Alle Faktenchecks zum Thema Migration sammelt AFP hier.
Verbreitetes Video ist rund zwei Jahre alt
Der aktuell geteilte Clip ist jedenfalls alt und wurde bereits im November 2021 veröffentlicht. Mittels einer Rückwärtssuche nach Ausschnitten fand AFP zunächst ein Youtube-Video eines polnischen Radiosenders namens „Radio Białystok„, das am 12. November 2021 hochgeladen wurde. Darin sind dieselben Videoausschnitte zu sehen. „Grenzkonflikt zwischen Polen und Weißrussland“, lautet der Titel des Videos.
In der Beschreibung ist zu lesen, dass es sich um ein Video mit Szenen handelt, in denen Migranten polnische Grenzsoldaten in der Nähe von Kuźnica (hier archiviert) an der belarussischen Grenze am 8., 9. und 10. November 2021 angreifen. Die Aufnahmen seien von der Kanzlei des polnischen Premierministers KPRM (auf Polnisch: Kancelaria Prezesa Rady Ministrów) zur Verfügung gestellt worden, heißt es. Es handle sich um Aufnahmen des Verteidigungsministeriums und der militärischen Einheit 16DZ der polnischen Armee.
Als Quelle wird zudem die polnische Presseagentur PAP angeführt. Diese hat das Video – neben zahlreichen anderen Clips der Ereignisse – am 12. November 2021 veröffentlicht. In der Beschreibung heißt: „Sie können sehen, wie die Dienststellen zur Verhinderung des Grenzübertritts und als Reaktion auf Angriffe Tränengas gegen die Angreifer einsetzen.“
Ausschreitungen an polnischer EU-Außengrenze im November 2021
Aus polnischen sowie internationalen Medienberichten geht hervor, dass sich die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze Anfang November 2021 zuspitzte und es zu Ausschreitungen kam. Gemäß Schätzungen des polnischen Grenzschutzes befanden sich mehrere tausend Migranten bei extrem niedrigen Temperaturen auf der belarussischen Seite der Grenze. Die Menschen stammten hauptsächlich aus dem Nahen Osten und beabsichtigten, nach Polen und somit in die Europäische Union zu gelangen, hieß es in Nachrichtenberichten. Viele von ihnen nannten Deutschland als ihr Endziel. Die EU beschuldigte den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, absichtlich Migranten aus dem Nahen Osten in die EU-Länder Lettland, Litauen und Polen zu lenken, als eine Form der Vergeltung für Sanktionen, die von Brüssel verhängt wurden.
Die polnische (Grenz-)Polizei veröffentlichte Videos der Situation vom November 2021 in sozialen Medien (hier beispielsweise am 9. November 2021 sowie hier am 10. November 2021). In den Tagen danach kam es laut Medienberichten zu weiteren Ausschreitungen.
Einschlägige Meldungen über derartige aktuelle Ausschreitungen an der polnisch-belarussischen Grenze konnte AFP nicht finden. Heute steht dort zudem ein rund 190 Kilometer langer Zaun, um Migranten aus Weißrussland vor einem Grenzübertritt abzuschrecken. Dieser wurde im Jahr 2022 fertiggestellt.
Medien berichten derzeit, dass die sogenannte Balkanroute, über die die meisten irregulären Migranten nach Deutschland kommen würden, von der Türkei jetzt nicht mehr über Österreich führe, sondern über Polen. Anfang Oktober 2023 haben Polen, Tschechien und Österreich außerdem verschärfte Kontrollen entlang ihre Grenze zur Slowakei angekündigt – mit dem Ziel, „illegale Migration einzudämmen“, heißt es. Die Slowakei verzeichnet derzeit steigende Ankunftszahlen von Menschen, die das Land über die Balkanroute erreichen.
Polnisches Verteidigungsministerium selbst postete altes Video
Die aktuell geteilten Beiträge mit dem alten Video beziehen sich zumeist auf ein Posting auf der Plattform X vom 1. Oktober 2023 des polnischen Verteidigungsministeriums. Dieses hat den verbreiteten Clip tatsächlich Anfang Oktober 2023 gepostet.
Obrona nienaruszalności granicy jest obowiązkiem, ale też prawem każdego państwa. Zareagowaliśmy na działania reżimu Łukaszenki inspirowanego przez Moskwę. Żołnierze oraz funkcjonariusze służb broniący polskiej granicy stawiali i stawiają czoła realnemu zagrożeniu. Za to jesteśmy… pic.twitter.com/AVMgOpjOiV
— Ministerstwo Obrony Narodowej (@MON_GOV_PL)
October 1, 2023
Die Annahme, dass es sich um ein aktuelles Video handelt, liegt nahe, wird in der Beschreibung des Ministeriums jedoch nicht explizit angeführt. Auf Polnisch heißt es: „Die Verteidigung der Integrität der Grenze ist eine Pflicht, aber auch ein Recht eines jeden Staates. Wir haben auf die von Moskau inspirierten Aktionen des Lukaschenko-Regimes reagiert. Die Soldaten und Offiziere, die die polnische Grenze verteidigen, waren und sind einer echten Bedrohung ausgesetzt. Dafür sind wir ihnen dankbar und werden sie weiterhin unterstützen.“
Auf Anfrage bestätigte eine Pressesprecherin der militärischen Einheit 16DZ gegenüber AFP am 11. Oktober 2023 telefonisch, dass das Video alt ist. Es wurde in der Region um den Grenzübergang in Kuźnica Białostocka in den Tagen vom 8., 9. und 10. November 2021 aufgenommen, heißt es.
Ein Vergleich der damaligen Postings auf X mit aktuelleren Beiträgen ergab zudem, dass das Ministerium mehrere ältere Videos aus 2021 diesen Oktober erneut – mit anderer Beschreibung – verbreitet hat. Am 30. November 2021 hieß es zu diesem Video etwa: „Polnische Soldaten und Offiziere sind fast jeden Tag mit solchen Situationen konfrontiert. Gestern wurden unsere Dienststellen wieder einmal von Weißrussen mit Steinen beworfen. Die Situation ereignete sich in der Nähe des Dorfes Tokary.“ Am 2. Oktober 2023 wurde derselbe Clip erneut geteilt. Die Beschreibung dieses Mal: „Die Situation an unserer Grenze und dann der russische Angriff auf die Ukraine zeigten die imperialen Ambitionen Putins, die vom belarussischen Regime unterstützt wurden. Der Einsatz polnischer Armeesoldaten und Grenzschutzoffiziere vereitelte den Plan zur Destabilisierung unseres Landes und den Versuch, die Ostflanke der NATO zu durchbrechen. Der Dienst der Grenzschützer verdient Anerkennung und Respekt. Wir verteidigen den guten Ruf der Uniform und bekämpfen Desinformation.“
Exakt dasselbe Video, das aktuell kursiert – jedoch hochgeladen im November 2021 –, konnte AFP auf dem X-Account des polnischen Verteidigungsministeriums nicht finden. Das Ministerium postete damals jedoch ähnliche Clips, wie beispielsweise dieses Video vom 8. November 2021.
Fazit: Ein Video im Netz zeigt mehrere Migranten, die mithilfe von Baumstämmen und Zangen versuchen, einen Grenzzaun in einem Wald zu durchdringen. Der Clip zeigt allerdings keine aktuellen Aufnahmen der polnischen EU-Außengrenze. Das Video stammt vom November 2021. Damals befanden sich mehrere tausend Migranten im polnisch-belarussischen Grenzgebiet.