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Nein, eine Windkraftanlage besteht nicht aus 4000 Tonnen Stahl

Online kursiert ein Zitat des Präsidenten des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI), Markus Steilemann, in dem er vermeintlich Kritik an den  Energiewendeplänen der Bundesregierung übt. Um diese bis 2030 zu erreichen, müssten täglich zehn Windkraftanlagen gebaut werden, von denen jede 4000 Tonnen Stahl benötige, heißt es. Doch die Zahlen sind falsch, wie Steilemann selbst bereits eingeräumt hat. Tatsächlich wird nur ein Bruchteil dieser Menge für den Bau eines Windrads benötigt.  

Hunderte User teilten seit Anfang Oktober 2022 auf Facebook, Twitter und Telegram ein Zitat des VCI-Präsidenten Markus Steilemann, das auf falschen Zahlen basiert. Auch die „Bild„-Zeitung griff es als vermeintliche Kritik an der Energiewende auf und aktualisierte den Text später. Auch der AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner teilte die Behauptung auf seinem Twitter-Account.

Die Behauptung: Die aktuell geteilten Facebook-Postings zeigen ein Porträt Steilemanns neben dem angeblichen Zitat: „Um Habecks Energieziele bis 2030 zu erreichen, bräuchte man jeden Tag zehn Windkraftanlagen. Eine davon braucht 4000 Tonnen Stahl; das ist ein halber Eiffelturm. Das heißt: fünf Eiffeltürme jeden Tag. Und das für die nächsten 8 Jahre.“

Screenshot der Behauptung auf Facebook: 11.10.2022

Zu erneuerbaren Energien kursieren immer wieder Falschbehauptungen in sozialen Netzwerken. AFP überprüfte in der Vergangenheit bereits Behauptungen, wonach die Energiewende Schuld an einem Stromausfall in Berlin sei, ein Wintereinbruch im Jahr 2021 deutschlandweit Zehntausende Wind- und Solarenergieanlagen stillgelegt habe oder Windkraftanlagen den Klimawandel verstärken. Faktenchecks zum Klimawandel sammelt AFP hier.

Steilemann korrigierte seine Aussage später

Steilemanns Aussage aus den aktuell geteilten Postings stammt von einer Podiumsdiskussion mit dem Titel „Zukunft von Chemie und Pharma in Deutschland“, die am 29. September 2022 im Rahmen der Mitgliederversammlung des VCI stattfand. Dabei ging es unter anderem um die Transformation der chemischen Industrie hin zur Klimaneutralität.

Ein Mitschnitt der Veranstaltung findet sich auf dem Youtube-Account des VCI. Die fragliche Szene ist bei Minute 46:00 zu sehen. Sie wurde vom VCI auch als eigenständiger Clip auf Youtube veröffentlicht. Steilemann veranschaulicht hier die technischen Herausforderungen der Energiewende mit einem Rechenbeispiel: Um das Ausbauziel für Windenergie bis 2030 zu erreichen, müssten angeblich jeden Tag zehn Windkraftanlagen errichtet werden. „Eine Windkraftanlage braucht 4000 Tonnen Stahl – das ist ein halber Eiffelturm. Das heißt fünf Eiffeltürme jeden Tag und das für die nächsten acht Jahre, 365 Tage im Jahr“, sagt Steilemann.

Anders als es die Erstversion des „Bild“-Artikels suggeriert, erweckt Steilemanns Aussage auf dem Podium nicht den Eindruck, als halte er die Energiewende für grundsätzlich nicht umsetzbar. Vielmehr warnt der VCI-Präsident anhand seiner Beispielrechnung davor, die Bemühungen um die Umsetzung der Energiewende zu vernachlässigen. Steilemann sagt wörtlich: „Da müssen wir hin, weil ansonsten wird alles, was wir hier heute diskutieren, Makulatur bleiben und Deutschland wird sich von einer Industrienation in ein Industriemuseum verwandeln und zwar schneller, als wir uns das vorstellen können.“

Der VCI ordnet Steilemanns Aussage nachträglich auf seiner Website ein: „Angesichts dieser immensen Herausforderung müssten wir beim Ausbau der Erneuerbaren viel, viel mehr Tempo machen, um die Transformation zu Nachhaltigkeit und Klimaschutz zu schaffen.“ Die „Bild“ habe das Zitat in ihrer Berichterstattung jedoch verkürzt wiedergegeben und „aus dem Zusammenhang gerissen, dass der Eindruck entstand, Herr Steilemann halte die Energiewende für nicht umsetzbar. Das Gegenteil ist richtig, wie auch im Statement deutlich wird“, heißt es vonseiten des VCI.

Unabhängig davon argumentierte Steilemann in seinem Rechenbeispiel zum Ausbau der Windenergie mit falschen Zahlen, wie er später selbst einräumte. Einen Tag nach Veröffentlichung des „Bild“-Artikels, am 6. Oktober 2022, twitterte der Bundesverband Windenergie, an den Behauptungen des VCI-Präsidenten stimme „schlichtweg nichts“. Steilemann selbst nahm seine Äußerungen am selben Tag ebenfalls auf Twitter zurück und entschuldigte sich für seinen Fehler. Auch die „Bild“ fügte ihrem ursprünglichen Artikel ein Update hinzu, das auf Steilemanns Entschuldigung und die fehlerhaften Zahlen verweist. Steilemanns ursprüngliche Behauptungen kursieren seitdem jedoch weiter in sozialen Netzwerken.

 

Nach Angaben des Bundesverbandes Windenergie benötigt eine Windkraftanlage mit einer Leistung von fünf Megawatt (MW) inklusive Turbine, Turm und Fundament lediglich 500 bis 600 Tonnen Stahl, etwa ein Achtel der von Steilemann ursprünglich behaupteten 4000 Tonnen. Stephan Barth von der Universität Oldenburg ist der geschäftsführende Direktor des Zentrums für Windenergieforschung „For Wind“, einem gemeinsamen Forschungszentrum für Windenergie der Universitäten Oldenburg, Hannover und Bremen. Er bestätigte die Zahlen des Bundesverbandes Windenergie am 10. Oktober 2022 gegenüber AFP. Für den Bau einer Windkraftanlage an Land würden pro MW Leistung etwa 100 Tonnen Stahl benötigt, erklärte Barth.

Massiver Ausbau der Windenergie nötig

Anders als in den aktuell geteilten Postings behauptet, benutzte Steilemann in seinem Statement auf der Podiumsdiskussion nicht die Formulierung „Habecks Energiezielen“. Tatsächlich sagte der VCI-Präsident „das Ausbauziel“, wobei er sich auf die Pläne der Bundesregierung für den Ausbau erneuerbarer Energien bezieht. Im Juli 2022 hatte der Bundestag mit dem sogenannten Osterpaket eine Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) beschlossen. Demnach soll der Anteil erneuerbarer Energien am deutschen Bruttostromverbrauch von aktuell rund 40 Prozent bis 2030 auf mindestens 80 Prozent steigen.

Eine zentrale Rolle kommt dabei der Windenergie zu: Bis zum Jahr 2030 sollen alle Windenergieanlagen an Land insgesamt über eine Leistung von 115 Gigawatt (GW) verfügen. Aktuell liegt die installierte Leistung bei 57 GW. In den kommenden acht Jahren bis Ende 2030 sollen hierzu pro Jahr bis zu zehn GW zusätzliche Leistung an Land installiert werden, insgesamt 80 GW. Da im Laufe der Jahre auch bestehende Anlagen zurückgebaut werden müssen, ist die Summe der bestehenden installierten Leistung und des geplanten Zubaus mit 127 GW höher als die anvisierten 115 GW. Die Kapazität von Offshore-Anlagen vor der deutschen Küste soll von aktuell 7,7 GW bis 2030 um rund 22 GW auf 30 GW steigen.

AFP Foto zeigt die Installation einer Windkraftanlage in Sindersdorf bei Nürnberg

In den aktuell geteilten Postings heißt es – wie von VCI-Präsident Steilemann zuerst fälschlich behauptet –, in Deutschland müssten „jeden Tag zehn Windkraftanlagen“ gebaut werden, um die Ausbauziele bei der Windkraft zum Ende des Jahrzehnts erreichen zu können. Diese Zahl ist jedoch deutlich zu hoch angesetzt.

Windenergieanlagen unterscheiden sich je nach Modell in ihrer Leistung und ihrem tatsächlichen Materialbedarf. Die folgende Beispielrechnung bezieht sich auf eine Anlage mit einer durchschnittlichen Leistung von fünf MW, beziehungsweise 0,005 GW. Dies entspricht nach Angaben des Bundesverband Windenergie, dem Mittelwert der in den ersten neun Monaten des Jahres 2022 neu genehmigten Anlagen in Deutschland.

Fünf bis sechs Windräder täglich bis 2030 

Würden, wie in den aktuellen Postings und von Steilemann ursprünglich behauptet, täglich zehn Windräder mit einer durchschnittlichen Leistung von fünf MW gebaut werden, ergäbe das 50 MW installierter Leistung am Tag und rund 18.000 MW oder 18 GW pro Jahr. Das wäre knapp doppelt so viel wie die von der Bundesregierung anvisierten zusätzlichen zehn GW installierter Leistung pro Jahr.

Jürgen Quentin ist Referent für Energiewirtschaft und EEG der Fachagentur Windenergie an Land. Er kalkulierte den benötigten Zubau von Windenergieanlagen für das Erreichen der Ausbauziele bis 2030 am 17. November 2022 in einer Modellrechnung für AFP. „Legt man als typische Laufzeit 25 Betriebsjahre zugrunde, wären zur Erreichung der 115 GW im Jahr 2030 neben den bestehenden 57 GW noch weitere 14,4 GW durch Neuanlagen zu ersetzen“, schrieb Quentin. Die Summe von 71,4 GW zusätzlicher Leistung würde einen Zubau von 14.280 Neuanlagen mit fünf MW Leistung erfordern. Das entspräche durchschnittlich dem Bau von 1.785 Anlagen pro Jahr, beziehungsweise rund fünf Windturbinen pro Tag.

Ein Zubau von zehn GW pro Jahr über acht Jahre bis 2030 entspräche einer installierten Leistung von insgesamt 80 GW oder 80.000 MW für Windkraftanlagen an Land. Bei einer durchschnittlichen Anlagenleistung von fünf MW und einer Betriebsdauer von durchschnittlich 20 Jahren müssten demnach 16.000 Anlagen zusätzlich gebaut werden. Umgerechnet auf acht Jahre entspricht das dem Bau von 2000 Anlagen pro Jahr, beziehungsweise 5,5 Anlagen pro Tag.

Andere Modellrechnungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Einem Szenario der Denkfabrik Agora Energiewende von Juni 2022 zufolge müssten im Jahr 2023 fünf GW und ab 2024 pro Jahr neun GW zusätzlicher Leistung an Land installiert werden, um die Ausbauziele für die Windenergie an Land bis 2030 zu erreichen. Das entspräche rund 1000 Anlagen mit fünf MW Leistung, beziehungsweise drei Anlagen pro Tag für das Jahr 2023. In den folgenden Jahren 2024 bis 2030 müssten 1800 Anlagen jährlich, beziehungsweise fünf Anlagen täglich gebaut werden.

Nach einer Berechnung der Deutschen Energieagentur (Dena) müssten von 2023 bis 2030 pro Werktag sechs Anlagen mit einer Gesamtleistung von 25 Megawatt (MW) an Land gebaut werden, um die vorgesehenen 115 GW zu erreichen. Die Behauptung, dass bis 2030 zehn Windkraftanlagen pro Tag errichtet werden müssten, ist demnach deutlich zu hoch, wie auch Jürgen Quentin bestätigte: „Die von Herrn Steilemann behauptete Zahl von 10 Anlagen pro Tag ist aus meiner Sicht genauso wenig begründet wie dessen These zur Höhe des Stahlbedarfs.“

Dena-Modellrechnung für die Zubauraten für erneuerbare Energien

Die aktuell geteilten Postings suggerieren, dass der Stahlbedarf für den bis 2030 geplanten Windkraftausbau zu hoch sei. Bei einem Zubau von sechs Windrädern pro Tag, für deren Bau wie oben erwähnt 500 bis 600  Tonnen Stahl pro Anlage benötigt werden, würden pro Tag 3300 Tonnen Stahl benötigt, legt man einen durchschnittlichen Stahlverbrauch von 550 Tonnen zugrunde. Pro Jahr wären demnach 1,2 Millionen Tonnen Stahl und in den acht Jahren bis Ende 2030 9,6 Millionen Tonnen Stahl erforderlich. Zum Vergleich: Nach Angaben der Wirtschaftvereinigung Stahl wurden 2021 in Deutschland 40,1 Millionen Tonnen Stahl produziert.

Das Stahlgerüst des Eiffelturms in Paris wiegt 7300 Tonnen. Um täglich sechs Windkraftanlagen zu bauen, wird also weniger als ein halber Eiffelturm am Tag benötigt. Auch Stephan Barth vom Forschungszentrum „For Wind“ glaubt nicht, dass die Energiewende am Stahl für Windräder scheitern wird: „Stahl ist kein begrenzender Faktor für das Erreichen der Zubauziele bei der Windenergie.“

Fazit: Die Aussagen des VCI-Präsidenten Markus Steilemann zu den Ausbauzielen für die Windkraft in Deutschland wurden aus dem Kontext gerissen und beruhen teilweise auf falschen Zahlen. Der Bau einer durchschnittlichen Windkraftanlage an Land benötigt nicht 4000 Tonnen Stahl, sondern lediglich 500 bis 600 Tonnen. Um die gesetzlichen Zubauziele bis 2030 zu erreichen, müssen in den kommenden Jahren nicht zehn Windkraftanlagen pro Tag gebaut werden, sondern je nach Szenario fünf bis sechs.

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Politik, Umwelt

Autor(en): Feliks TODTMANN, AFP Deutschland

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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