„Entschlossene Maßnahmen“ habe die isländische Regierung Anfang Dezember 2023 angeblich ergriffen: Weil „plötzliche Todesfälle“ sprunghaft ansteigen würden, soll Island die mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 verboten haben, heißt es in Beiträgen auf X und Facebook. Hunderttausende Aufrufe verzeichnet allein der X-Beitrag.
Die Behauptung stammt von einem Artikel der US-Webseite Slay News, veröffentlicht am 30. November 2023, doch mittlerweile gelöscht. Die Webseite fiel schon mehrfach mit Desinformation auf – so auch diesmal, wie unsere Recherche zeigt.
Artikel falsch interpretiert – Island empfiehlt weiterhin Covid-19-Impfung für Risikogruppen
Slay News schreibt, die isländische Regierung habe die Bürgerinnen und Bürger über das Verbot der mRNA-Impfstoffe in einer Mitteilung informiert, die am 17. November 2023 in einem Artikel der isländischen Tageszeitung Morgunbladid erschienen sei. Auf diese Quelle beruft sich auch der englischsprachige Blog Newsaddicts, der die Behauptung ebenfalls teilte.
Doch in dem Artikel von Morgunbladid – der hinter einer Paywall ist – steht nichts von einem Verbot der Covid-19-Impfstoffe, wie uns die Zeitung auf Anfrage bestätigt. Darin heißt es lediglich, dass sich die breite Öffentlichkeit „nächste Woche“ gegen Grippe impfen lassen könne, aber „im Moment“ nicht gegen Covid-19.
Auf der Webseite der isländischen Gesundheitsbehörde steht ebenfalls nichts von einem Verbot der Covid-19-Impfung.
Im Gegenteil: Laut einer Pressemitteilung und den neuesten Richtlinien zur Covid-19-Impfung vom 2. Oktober 2023 empfiehlt die isländische Chef-Epidemiologin Guðrún Aspelund Vorerkrankten, medizinischem Personal mit Kontakt zu Risikogruppen, Schwangeren und allen Menschen ab 60 Jahren eine Impfung mit dem Impfstoff von Biontech/Pfizer gegen die Omikron-Variante XBB.1.5. Auf Anfrage bestätigt uns Margrét Erlendsdóttir, Pressesprecherin des isländischen Gesundheitsministeriums: „Die Impfungen gegen Covid-19 laufen weiter.“
Kein sprunghafter Anstieg der Übersterblichkeit in Island
Als Grund für das angebliche Verbot der Covid-19-Impfung in Island nennen die Blog-Beiträge einen sprunghaften Anstieg der Übersterblichkeit aufgrund „plötzlicher Todesfälle“. Doch auch das stimmt nicht, schreibt uns Erlendsdóttir.
Die in den Blog-Beiträgen angeführte Grafik von der Webseite „Our World in Data“ soll zeigen, dass in Island die Übersterblichkeit nach den Covid19-Impfungen und nicht während der gesamten Pandemie angestiegen sei. Der Begriff „Übersterblichkeit“ soll in diesem Kontext ausdrücken, dass in einem bestimmten Zeitraum mehr Menschen starben, als nach durchschnittlichen Sterbefallzahlen vergangener Jahre im selben Zeitraum zu erwarten gewesen wäre.
Dabei fällt auf: In der Grafik ist mit dem 1. Mai 2020 ein Startzeitpunkt gewählt worden, der den Anfang der Pandemie nicht abbildet und den Anstieg der Todesfälle ab etwa Februar 2022 besonders drastisch erscheinen lässt, wie folgender Vergleich zeigt.
Die Impfungen in Island begannen Ende 2020, ein Anstieg der Übersterblichkeit lässt sich in der Folge in der Grafik nicht erkennen.
Auch Kristjana Hrönn Ásbjörnsdóttir, Epidemiologin an der Universität von Island, schreibt uns, dass es sich bei der Behauptung um Falschinformation handele.
Epidemiologin: Anstieg der Übersterblichkeit ab Februar 2022 nicht wegen Covid-19-Impfungen
In der Grafik ist zu erkennen, dass etwa ab Februar 2022 die Sterberate in Island leicht angestiegen ist. Das sei aber nicht auf die Covid19-Impfungen zurückzuführen, schreibt Ásbjörnsdóttir. „Nach den umfassenden Impfungen in Island wurden im Februar 2022 alle Beschränkungen im Zusammenhang mit Covid aufgehoben, was zu einer erneuten Übertragung der Influenza und einer verstärkten Übertragung von Covid führte.“
Hinzu kam im selben Zeitraum die besonders ansteckende Omikron-Variante, wie Chef-Epidemiologin Guðrún Aspelund dem Sender RÚV erklärte: „Im Jahr 2022 kam es zu einer Übersterblichkeit, etwa zur gleichen Zeit, als die große Omikron-Welle zwischen Februar und März auftrat.“
„Wenn die Impfung eine Flut von Todesfällen verursacht hätte“, schreibt uns Ásbjörnsdóttir, „müsste sich dies in den Mustern der Todesursachen auf den Totenscheinen widerspiegeln, was aber nicht der Fall ist.“
OECD-Zahlen zeigen, dass die Übersterblichkeit in Island im weltweiten Vergleich gering ist
Der Grafik von „Our World in Data“ lägen zudem absolute Todeszahlen zugrunde, die keine Veränderungen in der Bevölkerung, wie das Wachstum oder die Alterung, berücksichtigten. „Solche Faktoren können sich stark auf die beobachteten Trends auswirken, insbesondere in Island, wo die Bevölkerung so klein ist“, schreibt Ásbjörnsdóttir. So könne eine „kleine absolute Zahl von Todesfällen“ zu einer „großen proportionalen Abweichung“ vom Vergleichsjahr führen.
Eine differenziertere Auswertung (Seite 19, Grafik 3.3) habe die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erstellt. Sie zeige, dass die Übersterblichkeit in Island in den letzten Jahren im weltweiten Vergleich gering sei, schreibt uns Ásbjörnsdóttir weiter: 2020 und 2021 lag die Sterblichkeit deutlich unter dem Vergleichszeitraum (2015 bis 2019), im Jahr 2022 leicht darüber, aber innerhalb der normalen Schwankungsbreite, so Ásbjörnsdóttir. Verglichen mit den anderen OECD-Ländern hatte Island nach Neuseeland die geringste Übersterblichkeit in den Jahren 2020 bis 2022.
Island hat eine besonders hohe Impfquote gegen Covid-19 im europäischen und weltweiten Vergleich – laut Medienberichten waren im November 2021 mehr als 90 Prozent der Personen über 16 Jahren geimpft.
Redigatur: Kimberly Nicolaus, Gabriele Scherndl
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Pressemitteilung des isländischen Gesundheitsministeriums, 2. Oktober 2023: Link (Englisch, archiviert)
- Richtlinien zur Covid-19-Impfung, Isländische Gesundheitsbehörde, 2. Oktober 2023: Link (Englisch, PDF, archiviert)
- Auswertung OECD: „OECD Health Working Paper No. 163“, 17. November 2023: Link (Englisch, PDF, archiviert)