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Vermeintliches Arendt-Zitat ist nirgends belegt

Die Publizistin Hannah Arendt ist unter anderem für ihre Überlegungen zu Freiheit und Gehorsam bekannt, die während der Pandemie erneut auf großes Interesse stießen. So soll sie einem Bild auf Facebook zufolge gesagt haben: «Niemand, dem du beibringst, zu denken, kann danach wieder so gehorchen wie zuvor. Nicht aus rebellischem Geist heraus, sondern wegen der Angewohnheit, im Zweifel alle Dinge zu prüfen.» Aber woher genau stammen die Sätze?

Bewertung

Es gibt keine Belege dafür, dass Arendt sich in dieser Form geäußert hat. Es ist weder in ihren Hauptwerken noch ihrer Privatkorrespondenz zu finden und auch verschiedenen Experten unbekannt.

Fakten

Die deutsch-amerikanische Denkerin Hannah Arendt beschäftigte sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit der Natur des politischen Handelns, vor allem in totalitären Herrschaftssystemen. Insofern waren Denken, Freiheit und Gehorsam wiederkehrende Begrifflichkeiten in ihrem Werk.

Arendt verfasste mehrere Artikel, Bücher und Essays, zudem sind persönliche Aufzeichnungen sowie Vortrags- und Vorlesungsmaterial aus ihrem Nachlass erhalten. Aus welcher ihrer Publikationen das Zitat stammen soll, ist dem Post nicht zu entnehmen. Eine Internetsuche fördert keine aussagekräftigen Ergebnisse oder seriösen Quellen zutage.

Zur politischen Theorie Arendts

Eine der berühmtesten Veröffentlichungen der Autorin ist «Origins of Totalitarianism» («Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft»), das erstmals 1951 auf Englisch erschien und als eines der Standardwerke der Totalitarismusforschung gilt. Dort geht es zwar unter anderem um Gehorsam, die ihr zugeschriebenen Sätze tauchen jedoch weder in der zitierten noch in abgewandelter Form auf.

Das gleiche gilt für weitere bekannte Schriften wie «The Human Condition» («Vita activa oder Vom tätigen Leben») oder «Eichmann in Jerusalem», ihr Bericht über den Prozess gegen den ehemaligen NS-Beamten Adolf Eichmann, sowie ihr Werk «On Revolution» («Über die Revolution»): Keines der Bücher enthält diese – oder ähnlich lautende – Aussagen.

Der Nachlass Arendts wurde der Kongressbibliothek in Washington D.C. vermacht. Für die digitalisierte Fassung wurde eigens eine Suchmaschine programmiert, die auch handschriftliche Dokumente berücksichtigt – hier ist das Zitat ebenfalls nicht zu finden.

Kopien dieser Papiere befinden sich im Hannah Arendt-Archiv am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Eine Mitarbeiterin des Forschungszentrums teilte der dpa auf Anfrage mit, dass die beiden Sätze weder inhaltlich noch stilistisch Arendts Ausdrucksweise entsprächen.

Auch Thomas Meyer von der Ludwigs-Maximilians-Universität München, Philosophie-Professor und Herausgeber der Werke von Hannah Arendt, hält die Zuordnung für falsch. Es gebe jede Menge solcher Variationen von Arendt-Zitaten, die teilweise geradezu systematisch erfunden würden und in den sozialen Netzwerken kursierten.

Hannah Arendt, der Gehorsam und die Querdenker

Im Zuge der Pandemie ist das Interesse an Arendt im Internet sichtbar gestiegen. Ihre Äußerungen fanden auch in «alternativ denkenden» Kreisen Anklang, es wurde gar eine neu gegründete Akademie nach ihr benannt, in der bekannte Verschwörungstheoretiker und Populisten dozieren sollten und die darum in Fachkreisen heftige Kritik auslöste.

Das Phänomen der Aneignung Arendtschen Gedankenguts hat auch Markus Linden beobachtet. Er ist außerordentlicher Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier und forscht unter anderem zu politischer Repräsentation und Partizipation sowie zu Alternativmedien und Verschwörungstheorien.

Hannah Arendt sei bei manchen Akteuren der Querdenken-Bewegung zu einer Art Ikone erhoben worden, berichtete Professor Linden der dpa. Und das, ohne sich überhaupt mit ihrem Werk auseinandergesetzt zu haben, so der Politikwissenschaftler weiter. Denn bei Arendt hätten gerade Tatsachenwahrheiten eine besondere Bedeutung gehabt – und die genau leugneten Querdenker eben.

(Stand: 19.4.2023)

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Autor(en): dpa

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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