Auf Tiktok versucht ein Nutzer mit einer Horrormeldung Stimmung gegen Windräder zu machen. Er kommentiert ein Bild, das angeblich ein Windrad nach zwei Jahren zeigt, und schreibt, die Erosion setze „feinste Glasfaser- und Epoxidharzpartikel frei“. Die Fasern seien „lungengängig und krebserregend“. So erreichte das Video rund 200.000 Aufrufe.
Wir haben mit Fachleuten über die Erosionsprozesse bei Windrädern gesprochen. Unsere Recherche zeigt: Nur Menschen, die zum Beispiel durch Schleifarbeiten einer großen Menge Staub ausgesetzt sind, müssen Maßnahmen ergreifen, um sich zu schützen.
In Windrad-Rotorblättern sind Glasfaser und Epoxidharze verarbeitet
Das Tiktok-Video zeigt ein Rotorblatt, dessen Beschichtung sich bis auf die darunterliegende Struktur abgelöst hat. Über die Zusammensetzung von Rotorblättern schreibt das Umweltbundesamt (UBA) in einem Bericht aus dem Juli 2022, ein Rotorblatt bestehe aus zwei Halbschalen, die mit Harzkleber miteinander verbunden werden. Verbaut seien darin zum Großteil Faserverbundstoffe aus Glasfasern, Carbonfasern und Epoxidharzen.
Genau darauf nimmt der Beitrag auf Tiktok Bezug. Die mit Glasfasern verstärkten Kunststoffe (GFK) sind umgangssprachlich auch als Fiberglas bekannt. Epoxidharz wird künstlich hergestellt, schreibt eine Untergruppe des Verbands der Kunststoffhersteller in Europa auf ihrer Webseite. Je nach Anwendung kann es fest, flüssig oder halbfest eingesetzt werden. In Windrädern komme es in halbfester Form vor.
Rotorblätter sollen durch Schutzschichten gegen Erosion gewappnet sein
Steffen Czichon, Leiter der Abteilung Rotorblätter am Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme, sagte im Gespräch mit CORRECTIV.Faktencheck, die Rotorblätter seien neben Lacken teils auch mit Folien, Tapes oder Schutzkappen aus Kunststoff geschützt. Bei dem Bild in Sozialen Netzwerken sei die Erosion bis auf den glasfaserverstärkten Kunststoff (GFK) erfolgt. „Das ist schon ein extremer Fall und man versucht eigentlich immer zu verhindern, dass die Erosion bis auf das GFK runtergeht“, so Czichon. Ein solcher Schaden sei nicht der Regelfall und werde üblicherweise bereits vorher repariert.
Das UBA schreibt in seiner Studie, dass viele Beschichtungen „eine Lebensdauer von höchstens acht Jahren“ hätten, die geplante Lebensdauer eines Rotorblatts liege typischerweise bei 15 bis 20 Jahren.
Dass ein Rotorblatt überhaupt in dieser Form geschädigt wird, liegt an der sogenannten Vorderkantenerosion, die vor allem durch Regen und Sandkörner verursacht wird, schreibt das UBA. Laut Czichon sind auch die UV-Strahlung und der Salzgehalt der Luft von Bedeutung.
Können diese Glasfaser- und Epoxidpartikel in die Luge gelangen?
In dem Tiktok-Video ist die Rede davon, dass bei der Erosion von Windrädern „lungengängige“ Glasfaser- und Epoxidpartikel entstehen würden. Von lungengängigen Fasern ist die Rede, wenn diese so klein sind, dass sie tief in die Lunge vordringen.
In einer Broschüre zum Thema „Einsatzstellen mit Faserverbundwerkstoffen“ illustriert die Bundeswehr, welche Fasergrößen wie tief in die Atemwege eindringen können:
Freisetzung von lungengängigen Faserpartikeln bei Erosion laut Experte unwahrscheinlich
Volker Trappe, Leiter des Fachbereichs Polymere Verbundwerkstoffe bei der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM), schrieb uns dazu: „Die Freisetzung von lungengängigen Faserpartikeln (Glas- oder Carbon-Fasern) im laufenden Betrieb an Bruch- und/oder Erosionsstellen ist unwahrscheinlich und vernachlässigbar.“ Zudem sei der Betreiber bemüht, offen liegende Stellen schnellstmöglich mit einem Lack wieder zu schützen.
Größere Mengen an lungengängigen Faserpartikeln würden lediglich beim Schneiden und Schleifen der Verbundstoffe freigesetzt, dann sei es nötig, Arbeitsschutzkleidung wie Atemschutzmasken zu tragen. „Dies ist insbesondere ein Thema beim Bau von Rotorblättern im Herstellungsbetrieb. In geringeren Mengen werden auch Faserpartikel bei der Reparatur von Rotorblättern im Feld freigesetzt“, so Trappe. Es werde aber zunehmend mit Werkzeugen gearbeitet, die bereits während der Arbeiten die größte Menge an Staub absaugten.
Eine Gefahr für Menschen, die in der Nähe von Windkraftanlagen wohnen, sei nicht zu befürchten, so der Experte, denn ein Abstand von „wenigen hundert Metern“ genüge, um dafür zu sorgen, dass keine mess- und nachweisbare Faserstaubbelastung mehr vorliege. Aktuell (Stand: 30. April) ist laut Medienberichten in den meisten Bundesländern ein Mindestabstand für Windräder von wenigen hundert bis zu 1.000 Metern zu Wohngebäuden vorgeschrieben.
CFK-Fasern stehen im Verdacht, krebserregend zu sein – keine Belege bei Glasfaser- und Epoxidpartikeln
Wie die Bundeswehr in ihrer Broschüre schreibt, können bei CFK (carbonfaserverstärktem Kunststoff) durch große Hitzeentwicklung lungengängige Faserbruchstücke entstehen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie krebserregend sind. Die Fasern können zum Beispiel durch Brände oder Bearbeitung des Kunststoffs freigesetzt werden.
Auch CFK ist Bestandteil der Rotorblätter. Wie uns Steffen Czichon sagte, sind CFK-Teile jedoch nicht von der Regenerosion betroffen, die auf Tiktok gezeigt wird, weil sie an anderen Stellen verbaut seien. Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei dem Stoff, der durch die Erosion der Rotorblätter freigelegt werden kann, um mit Glasfasern verstärkten Kunststoff, das Epoxidharz kann sich schon in der Beschichtung darüber befinden.
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) schrieb uns auf Anfrage: „Wir wissen aus den Erfahrungen mit Asbest, dass lungengängige Fasern unter bestimmten Bedingungen Krebs auslösen können. Dieses Risiko kann daher auch bei anderen Fasern bestehen, die klein genug sind, um in die tiefe Lungen vorzudringen.“ Ein Krebsrisiko für GFK-Fasern und Epoxidpartikel ist also theoretisch zwar nicht auszuschließen, wir fanden aber keine Belege dafür.
Fazit: In der Regel werden Windräder gewartet, bevor ihre Schutzschicht so stark erodiert ist, dass glasfaserverstärkte Kunststoffe, die in darunterliegenden Schichten verbaut sind, beschädigt werden können. Sollte das trotzdem passieren, ist es laut der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung unwahrscheinlich, dass Fasern freigesetzt werden. Nach wenigen hundert Metern in der Luft seien sie zudem unbedenklich und eine krebserregende Wirkung ist nicht belegt. Schutzmaßnahmen müssen lediglich Arbeiterinnen und Arbeiter ergreifen, die Rotorblätter schleifen oder schneiden.
Redigatur: Kimberly Nicolaus, Alice Echtermann
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- UBA-Bericht: „Entwicklung von Rückbau- und Recyclingstandards für Rotorblätter“, Juli 2022: Link (archiviert)