Ein Video, das einen Stau in der Nähe des polnischen Dorfes Dorohusk zeigt, wurde in sozialen Netzwerken seit Dezember 2022 hunderte Male geteilt. Damit einher ging die Behauptung, dass es sich dabei um Polinnen und Polen handeln würde, die aus ihrem Land nach Deutschland fliehen würden, nachdem ihnen mitgeteilt worden sei, dass 200.000 Personen zum Militär berufen werden sollten. Das Video wurde jedoch nicht an der polnisch-deutschen, sondern an der polnisch-ukrainischen Grenze aufgenommen. Die Zahl von 200.000 einberufenen Personen ist laut polnischem Verteidigungsministerium außerdem die gleiche wie in den Vorjahren und auch Massen von polnischen Bürgerinnen und Bürgern, die das Land verlassen, konnten nicht beobachtet werden.
Das Video wurde auf Twitter und auf Facebook geteilt. Ähnliche Behauptungen kursierten auch auf Niederländisch, Russisch, Englisch und Französisch.
Die Behauptung: Das fast 30 Sekunden lange Video wird aus dem Inneren eines Autos gefilmt und zeigt einen langen Stau auf einer zweispurigen Straße. In der Beschreibung behauptet eine Twitter-Nutzerin, dass es sich um die deutsch-polnische Grenze handeln würde: „Die Polen verdrücken sich massenweise nach der Ankündigung der Mobilisierung ‚für Militärübungen‘ aus Polen.“
Eine polnische Straße an der Grenze zur Ukraine
Laut den Beiträgen in den sozialen Netzwerken zeigt das Video angeblich eine lange Fahrzeugschlange auf dem Weg von Polen nach Deutschland. Das stimmt aber nicht: Das Video wurde an der polnischen Straße E373 bei Dorohusk an der Grenze zur Ukraine aufgenommen. AFP fand das Originalvideo mit einer umgekehrten Bildsuche über verschiedene Suchmaschinen, darunter Yandex. Es wurde schon am 14. Dezember 2022 mit derselben Behauptung in einem russischen Telegramkanal geteilt wurde. Am selben Tag wurden auch verschiedene französischsprachige Facebook- und Twitterbeiträge geteilt (hier und hier).
Ein Kommentar auf Twitter bot einen ersten Hinweis darauf, wo das Video aufgenommen wurde. Eine Twitteruserin erklärte am 17. Dezember 2022, dass das Video an einer anderen Grenze zu einer anderen Jahreszeit gefilmt worden war und dass es im Schengen-Raum, zu dem Deutschland und Polen gehören, „keine Grenzkontrollen gibt“. An den Binnengrenzen im Schengenraum gibt es zwar tatsächlich keine Grenzkontrollen, aber sie können in Ausnahmefällen, bei einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit, vorübergehend wieder eingeführt werden.
Die Userin fügte hinzu, dass die Autos sich auf die polnisch-ukrainische Grenze „in Dorohusk“ zubewegen würden und teilte dazu Fotos von Google Maps. AFP war es nicht möglich, mit der Twitternutzerin in Kontakt zu treten. Mit weiteren Nachforschungen gelang es AFP dennoch, Beweise dafür zu finden, dass es sich beim Ort im Video tatsächlich um Dorohusk handelt.
Bei einer Suche auf Google Maps mit den Stichwörtern „E373 Dorohusk“ erschien eine Straße mit der gleichen Nummer nahe der Grenze zur Ukraine. AFP konnte dann den im Video gefilmten Straßenabschnitt in der Street-View-Ansicht von Google Maps ausfindig machen, zu der man gelangt, indem man die gelbe Figur an einen Ort zieht. Wie die Twitter-Nutzerin betonte, ähneln sich ein Straßenschild, die Schallschutzplatten und eine Werbetafel und scheinen sich am selben Ort zu befinden wie im geteilten Video.
Die Anzeige auf der Werbetafel scheint jedoch verschieden zu sein, was sich durch das Datum der Bilder auf Google Street View erklären lässt: Sie wurden vor mehreren Jahren, im Juli 2012, aufgenommen. AFP fand heraus, dass beide Werbetafeln für dasselbe Geschäft warben, für Majster.
Da sich Straßen stark ähneln können und grüne Schallschutzwände an verschiedenen Orten zu finden sind, beschloss AFP, mehr Informationen über das Gebiet zu sammeln, um zu sehen, ob es tatsächlich mit dem Video übereinstimmt. Am 6. Januar 2023 kontaktierte AFP einen Mechaniker in Dorohusk, Adam Albiniak, dessen Werkstatt sich in der Nähe der Werbetafel befindet.
Nachdem AFP ihm das Video geschickt hatte, antwortete er: „Ja, diese Stelle erkenne ich wieder, das Video wurde die Straße hinunter am Ende einer Brücke gefilmt, auf der E373, nahe dem Grenzposten in Dorohusk.“ Dank der Fotos, die Albiniak auf Anfrage von AFP hin machte, konnte AFP sicher feststellen, dass es dasselbe Areal wie im Video ist: die Bäume, die Plakatwand, der Radweg und die Straße an sich passen zusammen (markiert von AFP). „Das muss im Frühling gewesen sein, als Ukrainerinnen und Ukrainer viele Autos in Polen gekauft haben, um sie in die Ukraine zu importieren, man sieht Autos auf den Anhängern“, wies er bezüglich des Videos hin.
Auf dem Werbeplakat war immer noch dasselbe zu sehen wie auf dem Video, wozu Albiniak erklärte: „Das alte Plakat wirbt für den längst geschlossenen Laden Majster-DIY in Chelm, 25 Kilometer von der Grenze gelegen.“ Mithilfe von Albiniaks Fotos konnte AFP verifizieren, was genau auf dem Plakat auf Polnisch geschrieben steht: „Likwidacja sklepu -90 Prozent – Nie przepłacaj – 25 km. Majster Chelm, ul Rampa Brzeska 14 a „. („Lagerräumung -90 Prozent – günstige Preise – 25 km. Majster Chelm, Rampa-Brzeska-Straße 14a“)
Dank einer lokalen Pressemeldung von 2019 fand AFP heraus, dass das Heimwerkfachgeschäft Majster aufgelöst wurde. Der Inhaber eines benachbarten Geschäfts bestätigte gegenüber AFP, dass das Geschäft geschlossen worden war und das Plakat mit der Ankündigung der Auflösung stehen gelassen wurde.
Ein weiteres Video von der Straße mit demselben Werbeplakat wurde im September 2020 auf der Videoplattform YouTube mit der Angabe, dass es in Dorohusk aufgenommen wurde, veröffentlicht. Auf diesem Video sind jedoch nur große Lastwagen zu sehen, im Gegensatz zu dem Video in den analysierten Beiträgen: Darin sieht man Autos, Kleinbusse und Autos auf Transportanhängern.
Tausende Autos in die Ukraine importiert
Auch wenn es AFP gelang, die Stelle zu finden, an der das Video gedreht worden war, konnte nicht festgestellt werden, wann es genau entstanden ist. Es wurde wahrscheinlich zwischen dem 20. Mai 2022 und dem 1. Juli 2022 aufgenommen, als der Stau vor dem Grenzübergang Dorohusk dichter war und sich von den üblichen LKW-Warteschlangen in der Gegend unterschied, die auf einem Satellitenbild auf Google Maps zu sehen sind.
Albiniak erwähnte, dass das Video wahrscheinlich im Frühling aufgenommen wurde und auch ein Sprecher der polnischen Grenzbeamten der Region Nadbużański Oddział SG kam zum selben Schluss, nachdem er das Video angesehen hatte. Sprecher Dariusz Sienicki, mit dem AFP am 9. Januar 2023 sprach, erkannte die Stelle und sagte: „Das ist die Straße, die zum Dorohusk-Grenzposten führt. Da es sich um eine EU-Außengrenze handelt, bilden sich in der Gegend auf dem Weg in die Ukraine häufig lange LKW-Schlangen, aber in dem Video sehen wir viele Autos, die auf Anhängern transportiert werden, im Gegensatz zu den üblichen Warteschlangen auf dieser Straße. Das Video muss zu dem Zeitpunkt gefilmt worden sein, als Ukrainerinnen und Ukrainer sehr viele Autos in Polen kauften, die dann in die Ukraine exportiert wurden.“
Über einen Monat nach dem russischen Angriff am 24. Februar 2022 setzte die Ukraine die Steuern auf importierte Fahrzeuge aus (Mehrwertsteuer, Verbrauchssteuer, Zoll). Drei Monate später, am ersten Juli 2022, wurden die Steuern wieder eingeführt. Verschiedene Medien berichteten über die langen Schlangen an der Grenze. „Aufgrund der Steuerbefreiungen haben die Ukrainerinnen und Ukrainer seit April mehr als 250.000 Gebrauchtwagen importiert, hauptsächlich aus Polen“, sagt ein Artikel von Radio Lublin.
Die polnische Zeitung „Interia reads“ berichtete am 13. Mai 2022, dass eine „acht Kilometer lange Schlange von Autos darauf wartete, Polen über die Grenze zur Ukraine in Dorohusk (Lubelskie) zu verlassen, während die Schlange für importierte Waren bis zu 15 Kilometer lang war. In beiden Schlangen standen vor allem Fahrerinnen und Fahrer, die Autos in die Ukraine brachten“. Der Artikel fügte hinzu, dass die Wartezeiten bis zu 25 Stunden betrugen, bis die Wartenden endlich die Grenze überqueren konnten.
Polnisches Ministerium dementiert „Massenflucht“ aus Polen
In den Beiträgen, die mit den Videos verbreitet wurden, wird behauptet, dass 200.000 Polinnen und Polen aus dem Land flohen, weil sie zur militärischen Ausbildung einberufen werden sollten.
Die Zahl 200.000 stand im Dezember in den Plänen des Verteidigungsministeriums als Maximalanzahl der Einberufungen von Reservistinnen und Reservisten im Jahr 2023.
Die Welle der Falschinformationen, die auf diese Nachricht folgte, veranlasste die Zentrale Militärkommission Polens zur Klarstellung, dass „diese Zahl die gleiche wie im Vorjahr ist und nicht die absolute Umsetzung bedeutet“. In mehreren Artikeln wurde erklärt, dass diese Zahl nicht mit dem Krieg in der Ukraine in Verbindung steht, sondern darauf abzielt, Reservisten auszubilden. Zu keinem Zeitpunkt gab es einen Hinweis darauf, dass eine Wehrpflicht eingeführt werden sollte. Diese wurde in Polen 2009 abgeschafft.
AFP hat nachgeforscht und herausgefunden, dass die gleiche Zahl (bis zu 200.000 Reservisten) in den Plänen des Verteidigungsministeriums für die Jahre 2021 und 2022, also vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine, tatsächlich angekündigt wurde.
AFP erfragte am 13. Januar 2023 weitere Einzelheiten bei Justyna Balik, Sprecherin der polnischen Armee für Rekrutierungen. Der Plan für 2023 sieht vor, dass für ein Training von bis zu 16 Tagen bis zu 200.000 Reservisten einberufen werden sollen, die aus der Vergangenheit bereits über gewisse militärische Erfahrungen verfügen, erklärte sie. Darunter sind bis zu 3000 Personen (von der Armee „passive Reservisten“ genannt), die tauglich für den Militärdienst wären, aber noch nicht in Kontakt mit der Armee gekommen sind und eine zweitägige Schulung durchlaufen werden. Dazu gehören beispielsweise Krankenschwestern, Informatikerinnen und Informatiker oder Kraftfahrerinnen und Kraftfahrer. Diese Personen können Widerspruch einlegen, wenn sie nicht an der Ausbildung teilnehmen können, erklärte sie weiter.
AFP hat keine widerlegbaren Informationen gefunden, wonach polnische Bürgerinnen und Bürger nach dieser Ankündigung massenweise geflüchtet seien. Die polnische Faktencheckseite „Konkret24“ hat Behauptungen über die angebliche Flucht von Polinnen und Polen vor einer Zwangsmobilisierung widerlegt.
Auf eine AFP-Anfrage zu diesen Behauptungen antwortete das polnische Verteidigungsministerium in einer E-Mail am 10. Januar 2023: „Wir haben keine Massenflucht von Personen, die für den Militärdienst qualifiziert sind, registriert. Wir haben auch keine Massenflucht von Teilnehmenden an Militärübungen wahrgenommen. Und, was ebenso wichtig ist, es wurde keine allgemeine oder teilweise Mobilisierung im Land angeordnet.“
Fazit: Das online kursierende Video zeigt die polnisch-ukrainische Grenze beim polnischen Dorf Dorohusk, vermutlich zu einem Zeitpunkt, als viele Ukrainerinnen und Ukrainer gebrauchte Autos in Polen kauften und diese in die Ukraine importiert wurden. Auch das polnische Verteidigungsministerium bestätigte, dass keine Massenabwanderung von Polinnen und Polen wegen des Militärdienstes beobachtet werden konnte.