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Dieses Video einer bewaffneten Fahrzeugkontrolle wurde in russisch besetztem Gebiet aufgenommen

Ein im März 2023 online geteiltes Video soll angeblich zeigen, wie ein ukrainischer Soldat eine Frau und ihr Kind in einem Auto bedroht. Der Clip sei ein Beleg dafür, wie russischsprachige Menschen in der Ukraine misshandelt werden, so User im Netz. Bei dem Aufnahmeort handelt es sich allerdings um ein Gebiet, das im September 2022 von Russland einseitig annektiert wurde. Das konnte anhand von Merkmalen im Bild nachgewiesen werden. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass ukrainische Soldaten zurzeit in diesem Gebiet tätig sind. 

Hunderte User haben das Video des angeblichen Zwischenfalls auf Twitter und Facebook geteilt. Tausende sahen den Clip auf TikTok und Telegram. Weitere Versionen des Videos wurden auf Tschechisch, Bulgarisch, Rumänisch, Polnisch und Serbisch geteilt. Auch das russische Außenministerium verbreitete den Clip auf Twitter. Das Außenministerium löschte den Tweet später wieder ohne weitere Erklärungen. Die Aufnahme wurde zudem vom slowakischen Ableger des NewsFront Netzwerks auf Telegram geteilt. Das Netzwerk verbreitet pro-russische Propaganda in zehn Sprachen. Laut US-Finanzministerium steht NewsFront unter Kontrolle des russischen Geheimdienstes FSB.

Die Behauptung: Das Video zeigt Aufnahmen einer Auto-Dashcam. Zu sehen ist, wie ein Fahrzeug mit einer ukrainischen Flagge und einem alten deutschen Militärsymbol vor einem Wagen mit einer Frau und einem Kind anhält. Ein Soldat verwickelt die Mutter in ein Gespräch und wird zunehmend aggressiver. User schreiben, die ukrainischen Kämpfer hätten das Auto angehalten, weil dieses einen Militärkonvoi überholt habe. Der Soldat klopft dann an den Wagen und beginnt die Frau zu beschimpfen, als diese beginnt, Russisch zu sprechen. Er fordert sie auf, Ukrainisch zu nutzen. Als der Soldat sich wieder vom Wagen entfernt, gibt er noch einige Schüsse ab.

Facebook-Screenshot der Behauptung: 4. April 2023

Nach Veröffentlichung des Videos begannen investigative Recherchegruppen wie Bellingcat und Geoconfirmed den Aufnahmeort mithilfe von Elementen im Clip ausfindig zu machen. Die Suche ergab, dass sich der Aufnahmeort unweit der russisch kontrollierten Stadt Donezk befindet, etwa 20 Kilometer entfernt von der Frontlinie zur Ukraine. Das Gebiet steht bereits seit April 2014 unter der Kontrolle pro-russischer Separatisten und wurde im September 2022 einseitig von Russland annektiert.

AFP untersuchte ebenfalls Merkmale in der Umgebung der Aufnahme und verglich diese mit Google Earth. Dabei kam die Redaktion zum gleichen Ergebnis. Ein ukrainischer Blogger teilte später ein Video, das zeigt, wie er die Route aus dem Clip von Donezk aus bis zum Aufnahmeort nachfuhr. Die übereinstimmenden Merkmale aus den Aufnahmen können belegen, dass es sich um einen Clip von der russischen Seite der Front handelt.

Obwohl einige Details zum Video wie der Urheber der Aufnahme und die Identitäten der zu sehenden Menschen nicht geklärt werden konnten, bestätigen die von AFP geprüften Hinweise aus der Geolokalisierung, dass der Clip am Rand der Stadt Makijiwka auf dem Weg von Donezk entstand.

Andere Faktencheck-Organisationen wie Demagog, Mythdetector oder Stopfake kamen in ihren Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass auch weitere Elemente des Videos auf eine Fälschung hindeuten. So weise der Ton im Video Unstimmigkeiten auf. Auch Dashcams seien in der Ukraine verboten. Die ukrainische Nachrichtenagentur Ukrinform berichtete in diesem Artikel, dass die Kameras seit März 2022 verboten seien, um zu vermeiden, dass Informationen über ukrainische Truppenbewegungen weiterverbreitet werden.

Video tauchte zuerst auf russischem Telegram-Kanal auf

Bei einer Suche nach dem Ursprung des Clips machte AFP den russischen Telegram-Kanal „Two majors“ als den ersten Kanal aus, auf dem das Video am 27. März 2023 erschien. Die russische Botschaft in Großbritannien teilte das Video auf Twitter, wo der Beitrag als Falschinformation gekennzeichnet wurde.

Mittlerweile ruderten auch einige kremlnahe Social Media-Kanäle zurück und kennzeichneten den Clip des angeblichen Zwischenfalls als „Fake“, so auch der Telegram-Kanal „Neues aus Russland“ der Bloggerin Alina Lipp, die bereits in der Vergangenheit mit Falschinformationen zum Ukrainekrieg aufgefallen ist.

Das Video wurde auch auf russischen Nachrichtenseiten veröffentlicht (hier, hier, hier).

OSINT-Community stellte Aufnahmeort fest

Nachdem das irreführende Video Ende März 2023 im Netz erschien, begannen mehrere OSINT-Expertinnen und Experten nach dem Ursprung des Clips zu suchen. Als OSINT, Open Source Intelligence, werden Informationen aus frei zugänglichen Quellen bezeichnet, die bei Recherchen helfen können.

Dabei fanden sich Belege, die zeigten, dass der Clip zwischen den Städten Donezk und Makijiwka aufgenommen wurde, einer Region, die im September 2022 auf Basis eines diskreditierten Referendums von Russland annektiert wurde.

Eliot Higgins, Analyst des Rechercheprojekts Bellingcat, benannte den exakten Aufnahmeort des Videos und äußerte Zweifel am Ursprung des Videos. Für seine Recherche stützte er sich auf die Arbeit von GeoConfirmed, eine Gruppe von Freiwilligen, die sich auf die Geolokalisierung von Aufnahmen im Zuge der russischen Invasion in der Ukraine spezialisiert hat. In einem Twitter-Thread vom 27. März 2023 nannte die Gruppe eine Koordinatenangabe zwischen Donezk und Makijiwka für den Aufnahmeort: 47.977044, 37.953754.

Der Twitter-Nutzer Tatarigami_UA, der von sich angibt, ein Reserveoffizier des ukrainischen Militärs zu sein, sowie der pro-ukrainische Account PStyle0ne1 kamen bei einer Geolokalisierung zum selben Ergebnis.

AFP-Recherche bestätigte Aufnahmeort

Trotz der geringen Videoqualität konnte AFP die Angaben aus der OSINT-Recherche mit Satellitendaten und Aufnahmen der Region in Google Earth gegenprüfen. Dabei kam die Redaktion ebenfalls zum Ergebnis, dass sich der Aufnahmeort zwischen Donezk und Makijiwka in russisch kontrolliertem Gebiet befinden muss, etwa 20 Kilometer von der Frontlinie entfernt.

In den ersten Sekunden des Videos sind zwei Strommasten auf der rechten Straßenseite zu sehen:

Screenshots des irreführenden Videos mit Strommasten an der Straße: 30. März 2023

Ein paar Sekunden später können wir im Video einen weißen Pfosten auf der linken Straßenseite erkennen:

Screenshots des irreführenden Videos mit weißem Pfosten an der Straße: 30. März 2023

Sowohl den Pfosten als auch die Strommasten konnte AFP in Google Earth-Aufnahmen der Region ausfindig machen:

Google Earth-Screenshot mit weißem Pfosten (grün) und Strommasten (rot) an der Straße: 30. März 2023

In dem irreführenden Video wird zudem eine Zeitangabe eingeblendet. Demnach wurde der Clip am 24. März 2023 um 12.18 Uhr aufgenommen. Mithilfe meteorologischer Daten lässt sich nachvollziehen, dass das Wetter zu diesem Zeitpunkt in Makijiwka mit dem klaren Wetter im Video übereinstimmt.

Mithilfe des Tools SunCalc lässt sich zudem nachvollziehen, in welchem Stand die Sonne zum Zeitpunkt der Aufnahme befand. Die Angaben von SunCalc stimmen grob mit dem irreführenden Video überein. Dabei fällt auf, dass die aus Südwesten scheinende Sonne Schatten in Richtung Nordosten wirft, die am Soldaten und am Fahrzeug erkennbar sind.

Screenshot aus dem Video (links) im Vergleich mit SunCalc (rechts). Richtung der Schatten wurde mit einem blauen Pfeil markiert: 31. März 2023

Zweites Video bestätigt Aufnahmeort 

Bei der Suche nach weiteren Belegen stieß AFP zudem auf ein am 28. März 2023 erschienenes Video des ukrainischen Bloggers Anatoly Shariy, der für seine pro-russischen Ansichten bekannt ist. In Youtube-Videos äußert sich Shariy außerdem häufig kritisch zum ukrainischen Präsidenten Selenskyj und der ukrainischen Regierung. In der Vergangenheit wurde Shariy wegen Verrats angeklagt. Im Jahr 2011 wurde aufgrund eines Vorfalls in einem Fast Food-Restaurant gegen Shariy ermittelt. 2012 verließ er die Ukraine für die Europäische Union. 2019 meldete er eine Partei mit dem Namen „Die Partei von Shariy“ an, die im März 2022 nach der Invasion in der Ukraine zusammen mit mehreren pro-russischen Gruppierungen vom nationalen Sicherheitsrat der Ukraine verboten wurde.

Am 28. März 2023 veröffentlichte Shariy auf seinen Telegram– und Youtube-Kanälen ein Video mit Aufnahmen einer Fahrt beginnend auf einer Straße in Donezk bis genau zum Aufnahmeort des Videos mit den beiden bewaffneten Männern.

Die beiden öffentlichen Versionen seines Videos waren jedoch an verschiedenen Stellen bearbeitet oder geschnitten, weshalb AFP Shariy direkt um die unbearbeitete Version bat. Diese stellte er am 30. März bereit. Mithilfe der ungeschnittenen Version konnte AFP den Aufnahmeort bestätigen.

Die Aufnahme beginnt auf der Straße des Kommunismus in Donezk (Streetview-Ansicht hier). Zu sehen ist ein Supermarkt auf der linken Straßenseite, sowie einige Flaggenmasten auf der gegenüberliegenden Seite, hier im Vergleich mit Bildern von Yandex Maps.

Aufnahmen der Straße aus dem Jahr 2010 auf Yandex (links) und ein Screenshot aus dem Video von Shariy (rechts)

Das Video folgt dem Weg des Autos über mehrere Minuten durch Donezk. Schließlich kommt der Wagen am Aufnahmeort des online kursierenden Clips an:

Fahrtweg des Autos zum Aufnahmeort markiert mit roten Pfeilen

Gegen Ende des Videos von Shariy sind auch die Bäume aus dem irreführenden Video wiedererkennbar. Die Äste und Zweige stimmen überein:

Vergleich der Astgabeln aus dem irreführenden Video (links) und dem Video von Anatoly Shariy (rechts): 31. März 2023

Shariy bestätigte zudem gegenüber AFP, dass das Video am 28. März 2023 von einem Mitglied seines Teams aufgenommen wurde. In dem Video ist zudem ein Radiosprecher des russischen Regionalsenders Mayak zu hören, der sagt: „Gestern war der Nationalfeiertag der nationalen Garde der Russischen Föderation“. Dieser Tag wird am 27. März gefeiert.

Das Gebiet steht nicht unter ukrainischer Kontrolle

Die Region, in der das aktuell online kursierende Video angefertigt wurde, steht mit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 weiterhin unter russischer Kontrolle.

Karte mit militärischer Lage in der Ukraine.

Die Luftlinie zwischen dem Aufnahmeort des Videos und der Frontlinie betrug Ende März 2023 etwas weniger als 20 Kilometer.

Screenshot der Website liveuamap.com: 30. März 2023

Einige Nutzer kommentierten, das kursierende Video sei ein Beispiel für die laufende Desinformationskampagne Russlands. In einem Facebook-Post erklärte die slowakische Polizei, das Video sei „eine weitere Fälschung aus der russischen Propaganda-Werkstatt“.

Auch der ukrainische Militärgeheimdienst spricht auf Telegram von einer Inszenierung des Videos. Demnach würden die Aufmachung und Karosserie des Fahrzeugs nicht zum ukrainischen Militär passen.

Fazit: Das Gebiet, in dem das online kursierende Video aufgenommen wurde, befindet sich seit neun Jahren nicht mehr unter der Kontrolle der ukrainischen Streitkräfte. Das lässt sich mithilfe einer Geolokalisierung nachvollziehen. Es ist extrem unwahrscheinlich, dass ukrainische Truppen in diesem Gebiet aktiv wären.

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Politik, Ukraine

Autor(en): Robert BARCA / Saladin SALEM / Rossen BOSSEV / AFP Bulgarien / AFP Slowakei / AFP Deutschland

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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