Inmitten von Protesten bulgarischer Bergarbeiter und Angestellter von Kohlekraftwerken gegen Pläne der Regierung zum Ausstieg aus der Kohlekraft haben mehr als 11.000 Nutzer in sozialen Medien ein Video zu deutschen Kohlekraftwerken geteilt. Darin wird behauptet, Deutschland habe keine Pläne, aus dieser Form der Energiegewinnung auszusteigen. Doch sowohl der Betreiber der Kraftwerke als auch die Landesregierung bestätigten AFP gegenüber, dass die beiden Kraftwerke bis 2030 abgeschaltet werden sollen.
„Herr Denkov, fragen Sie Deutschland, warum sie Ihre thermischen Kraftwerke nicht abstellen, und sie mit voller Kraft weiterlaufen,“ schreibt ein Benutzer zu einem aus einem Fahrzeug aufgenommenen Kurzvideo. Seit dem 2. Oktober 2023 wurde der bulgarischsprachige Beitrag bereits über 11.000 Male auf Facebook geteilt.
In der Aufnahme ist die Stimme eines Mannes zu hören, der sagt: „Seht euch an, was diese thermischen Kraftwerke in Deutschland produzieren. Doch sie sagen, unsere Kraftwerke seien schuld, weil sie viel verschmutzen. Und diese hier sind sehr sauber.“ Dabei zeigt er auf eine Grube neben der Straße, die ein Tagebau zu sein scheint.
Der Beitrag begann sich weit zu verbreiten, als Bergarbeiter und Angestellte des Energiesektors in Bulgarien gegen einen Plan der Regierung protestierten, aus der Kohlekraft auszusteigen. In einer Entscheidung vom 29. September 2023 teilte die Regierung der Europäischen Kommission ihre Pläne für einen „fairen Übergang“ aus der Kohlekraft für die Regionen Pernik, Kyustendil und Stara Zagora mit. Die Regierung in Sofia plant, 3,5 Milliarden Bulgarische Lew (etwa 1,8 Milliarden Euro) in die umweltfreundliche Neuorientierung und die Erschaffung neuer Jobs in diesen Regionen zu investieren.
Während der Proteste, die nur wenige Wochen vor den bulgarischen Lokalwahlen stattfanden, wurden auf wichtigen Hauptverkehrsrouten Barrikaden errichtet.
Der Ausstieg aus der Kohlekraft ist zentral für den Erfolg des sogenannten Green Deal der EU, welcher vorsieht, bis 2030 die Emissionen von schädlichen Treibhausgasen um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken und bis 2050 auf „netto-null“ — also keine neuen Emissionen — zu verringern.
Das in sozialen Medien geteilte Video ist allerdings irreführend, was die deutschen Pläne für die Zukunft der Kohlekraft angeht.
Braunkohlekraftwerke in Nordrhein-Westfalen
Im ersten Schritt sah sich AFP das Video an, um bestimmte geographische Merkmale oder Infrastruktur zu erkennen, die bei der Identifikation des Aufnahmeortes helfen könnten. Nach sechs Sekunden sind einige Schilder zu erkennen, auf denen die Universität RWTH Aachen angeschrieben ist (insgesamt sind sechs solcher Schilder auf der linken Seite der Straße zu erkennen). Die Universität befindet sich in der nordrhein-westfälischen Stadt Aachen. Die Gegend wird als „wichtigste Bergbau- und Energiegewinnungsregion Deutschlands“ bezeichnet.
Durch eine Stichwortsuche fand AFP heraus, dass die Schilder mit einem Forschungsprojekt zu autonomen Fahrzeugen zu tun haben. Eines der Bilder in einer Präsentation zu dem Projekt zeigt eine Karte mit den Standorten von Wärmebildkameras — in der Nähe eines großen Autobahnkreuzes der A44.
Mithilfe dieser Hinweise konnte AFP ein Video finden, das am Dreieck Jackerath aufgenommen wurde. Somit konnten die Faktenchecker bestätigen, dass das Video von Facebook von einem Fahrzeug auf der A44 in Richtung Düsseldorf aus aufgenommen wurde.
Die Kameraaufnahmen zeigen zuerst die Landschaft auf der rechten Seite der Straße, in Blickrichtung Ost bis Nordost. Von dem Standort aus sind zwei Kohlekraftwerke von der Straße aus sichtbar: das Kraftwerk Neurath (links, welches die meiste Zeit in dem Video zu sehen ist), und das Kraftwerk Niederaußem (rechts gelegen).
Wenn die Kamera dann zur anderen Seite der Straße schwenkt, ist der Tagebau Garzweiler zu sehen.
Die Kraftwerke sollen bis 2030 geschlossen werden
„An allen Standorten haben wir im Zuge des Kohleausstiegs bereits mehrere Blöcke endgültig stillgelegt und setzen dies auch weiter fort“, so Guido Steffen, Pressesprecher der RWE Power AG, in einer E-Mail an AFP am 4. Oktober 2023. Das liege am „im Rheinland bis 2030 vorgesehenen und mit Bund und Land vereinbarten Kohleausstieg „, fügte er hinzu. Dies sei auch der Grund, weshalb an den beiden im Clip gezeigten Standorte nicht mehr in Betrieb seien. Steffen sagte außerdem, dass diese Einheiten „sehr flexibel“ betrieben werden, je nachdem, was die Anforderungen durch „planmäßige und außerplanmäßige, also reparatur- und störungsbedingte Stillständen“ verlangen würden. Deswegen, so der Sprecher der RWE, sei es keine Frage der ‚vollen Kapazität‘, wie der irreführende Beitrag behauptet.
Das Wirtschaftsministerium des Landes sagte gegenüber AFP in einer E-Mail vom 5. Oktober 2023, dass ein Übereinkommen zwischen den Betreibern der Kraftwerke — der RWE AG — und Landes- und Bundesbehörden getroffen wurde, um den geplanten Ausstieg aus der Kohlekraft um acht Jahre auf 2030 zu beschleunigen.
Auf Bundesebene gibt das Kohleverstromungsbeendigungsgesetz im Anhang zwei Termine für die Abschaltung von großen Braunkohlekraftwerken in der Region vor, so das Ministerium gegenüber AFP.
Nach diesem Gesetz sind alle Blocks der Kraftwerke Neurath und Niederhausen bis zum 31. März 2030 außer Betrieb zu nehmen. Diese Fristen spiegeln sich auch in den Informationen wider, die auf der Website von RWE erhältlich sind.
Detaillierte Daten zur Stromerzeugung sind auch in der SMARD-Datenbank (hier archiviert) zu finden, welche Informationen über den Strommarkt in Deutschland zur Verfügung stellt. Die Diagramme zu Niederaußem und Neurath zeigen, dass sie in den letzten Monaten nicht mit voller Leistung betrieben wurden.
Kohlekraftwerke in Bulgarien und Deutschland — irreführende Ähnlichkeiten
Um die Vergleiche des Facebook-Beitrags zwischen den Vorhaben der bulgarischen und der deutschen Regierungen genauer zu verstehen, fragte AFP bei Experten nach.
„Deutschland hat seine Stromerzeugung 2023 deutlich verringert und wird dieses Jahr 50 Prozent seines Stroms durch erneuerbare Energien gewinnen“, so Martin Vladimirov, der Direktor des Energie- und Klimaprogramms des Center for Study of Democracy, einer Denkfabrik in Sofia, am 4. Oktober 2023 gegenüber AFP.
„In Deutschland arbeiten fast 55.000 Menschen [in der Kohleindustrie] und es gibt Kapazitäten zur Erzeugung von 38 Gigawatt durch Kohle. In Bulgarien arbeiten etwa 13.000 in der Industrie und das Land hat etwa ein Zehntel der Kapazität“, fügte er hinzu.
„Knapp über 30 Prozent der Energie, die in Deutschland 2022 erzeugt wurde, kam aus Kohle. 46 Prozent der Energie wurde durch erneuerbare Quellen gewonnen, vor allem Wind und Sonne“, so Meglena Antonova, Direktorin von Greenpeace Bulgarien, in einer E-Mail an AFP vom 4. Oktober 2023 mit Bezug auf die Informationen der European Network Transmissions Systems Operators-Datenbank.
Laut demselben Datensatz erzeugte Bulgarien 2022 fast 53 Prozent seiner Energie mithilfe fossiler Brennstoffe, vor allem durch Braunkohle, und nur 14 Prozent stammten aus erneuerbaren Quellen.
„Die Nutzung der Kohlekraft sinkt von aktuell rund 40 bis 50 Prozent auf zehn Prozent bis Ende des Jahrzehnts, so die Analyse des Center for the Study of Democracy, welches sich unterschiedliche Szenarien zur Schließung von Kraftwerken und deren Auswirkung auf den Stromsektor Bulgariens und der Region ansah“, sagte Vladimirov AFP gegenüber. Die Studie aus dem September 2023 kann online gelesen werden.
Antonova erklärte gegenüber AFP, dass im Rahmen des Plans zum Ausstieg aus der Kohlekraft in Deutschland „dieses Jahr drei Kohlekraftwerke abgeschaltet werden. Diese Entscheidung wurde schon 2020 getroffen.“ Im Jahr 2024 sollen zehn Kraftwerke permanent vom Netz genommen werden; ihnen sollen zwei weitere jeweils 2025 und 2026 folgen, so Antonova.
Laut Ember, einer „unabhängigen Denkfabrik, die datenorientierte Einsichten für den weltweiten Wechsel zu sauberer Energie“ liefert, sind die Kraftwerke in Neurath und Niederaußem einige der größten CO2-Produzenten in Europa. Im Jahr 2022 haben sie insgesamt 41,22 Millionen Tonnen des Gases produziert. Obwohl das bulgarische Braunkohlekraftwerk Maritsa East-2 nur etwa ein Sechstel der Leistung liefert, schafft es auch dieses Kraftwerk mit 10,93 Millionen Tonnen ausgestoßenen CO2s auf die Liste der zehn größten Verschmutzer in der EU.
Nutzung wegen des Kriegs in der Ukraine
Als Reaktion auf die ausbleibenden russischen Gaslieferungen nach der Invasion der Ukraine durch Moskau, beschloss man in Deutschland, bereits abgeschaltete Kohlekraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen. Die Pläne zum Ausstieg aus der Kohlekraft ändert dies allerdings nicht.
Es sei eine Entscheidung, „kurzfristig einige Kapazitäten weiterzunutzen, die schon für die Stilllegung geplant waren. [Die Regierung] sagte keine Pläne für die Energiewende weg von Kohle ab, ebensowenig hob sie bestimmte Termine zur Stilllegung in den nächsten Jahren auf“, so Antonova von Greenpeace Bulgarien.
Trotz der Entscheidung zur Reaktivierung stillgelegter Kraftwerke erreichte Deutschland 2022 seine Emissionsziele, so die Umweltbehörde des Landes.
Im Oktober 2023 gab die deutsche Bundesregierung in einer Presseaussendung bekannt, mehrere Kohlekraftwerke als Vorsorgemaßnahme für den kommenden Winter vom 1. Oktober 2023 bis 31. März 2024 reaktivieren zu wollen. „Das Ziel, den Kohleausstieg idealerweise im Jahr 2030 zu vollenden, bleibt, wie auch die Klimaziele, davon unberührt“, fügte das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz hinzu.
Laut der Verordnung der Bundesregierung betrifft dies auch die Einheiten Niederaußem E und F sowie Neurath C, welche in dem irreführenden Facebook-Video zu sehen sind.
Fazit: Das auf Facebook kursierende Video wurde in der Tat in Deutschland aufgenommen und zeigt tatsächlich aktive Braunkohlekraftwerke. Doch diese arbeiten, anders als behauptet, nicht mit voller Leistung, und auch an den Plänen zum deutschen Ausstieg aus dem Kohlestrom bis zum Ende des Jahrzehnts hat sich nichts verändert — das zeigen offizielle Stellungnahmen, Informationen des Energiekonzerns, Gesetzestexte und Expertenaussagen. Der Anteil von erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung ist in Deutschland unterdessen schon jetzt deutlich höher als in Bulgarien.