Am 10. Oktober 2022 griff Russland das Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kiew und weitere ukrainische Städte mit Raketen an. Dabei wurden unter anderem das Bürogebäude Tower 101 zerstört und Zivilistinnen und Zivilisten verletzt. In sozialen Netzwerken beschuldigen seitdem jedoch mehrere User, die „westlichen Medien“ fälschlicherweise, Bilder von „Fake-Verletzten“ zu verbreiten, die Teil einer Inszenierung gewesen wären und nur geschauspielert hätten. Die Behauptungen sind falsch: Mehrere Fotografen, die das Geschehen an diesem Tag festgehalten haben, haben AFP bestätigt, dass Ärzte den blutbedeckten Opfern der Anschläge Hilfe geleistet haben. Zahlreiche Fotos, Videos und Reportagen bestätigen das ebenfalls.
Wenige Tage nach russischen Anschlägen auf Kiew am 10. Oktober 2022, beschuldigen mehrere User in sozialen Netzwerken auf verschiedenen Sprachen die „westlichen Medien“ fälschlicherweise, die Bilder einer Inszenierung zu verbreiten: auf Französisch, Spanisch, Niederländisch und Englisch. Die „Fake-Verletzten“ seien lediglich geschminkte Zivilisten. Den englischen Tweet der russischen Polit-Journalistin Maria Dubovikova hatte unter anderem der russische Vize-UN-Botschafter Dmitri Poljanski geteilt. Auch auf Deutsch hatten Userinnen und User die Behauptung verbreitet, ein hundertfach geteiltes Posting hat den Beitragstext mittlerweile aber geändert.
Die Behauptung: In dem deutschen Post unterstellte eine Facebook-Nutzerin den ukrainischen Streitkräften, Fotos und Videos der Verletzten nach den Bombenangriffen auf Kiew nur inszeniert zu haben: „Das ist Kunstblut und muss deshalb nicht zensiert werden.“ Zusammen mit den Behauptungen werden ein Foto und ein Video gepostet: Das Foto zeigt eine ältere Frau und einen älteren Mann, beide mit bandagiertem Kopf und blutüberströmtem Gesicht. Das Video zeigt, wie die beiden fotografiert werden.
Während der Bombenangriffe waren mehrere Fotoreporter vor Ort. Sie haben gegenüber der Nachrichtenagentur AFP bestätigt, Menschen gesehen und fotografiert zu haben, die verletzt waren, geblutet haben und von Ärzten versorgt wurden. Diese Berichte machen die Bezichtigung der „Inszenierung“ zunichte, die in sozialen Netzwerken geteilt wurde. Sie bestätigen darüber hinaus, dass die Bombardierungen vom 10. Oktober 2022 Opfer gefordert und materiellen Schaden verursacht haben. Internationale Medien und Presseagenturen veröffentlichten dazu eine Vielzahl von Fotos, Videos und Reportagen und haben damit die Ereignisse dokumentiert.
Es ist nicht das erste Mal, dass in irreführenden Veröffentlichungen den ukrainischen Streitkräften und „westlichen Medien“ eine vermeintliche Inszenierung der Opfer des Konflikts vorgeworfen wird. AFP hat bereits andere Artikel zu ähnlichen Anschuldigungen veröffentlicht (hier, hier und hier). Faktenchecks zum Thema Ukraine sammelt AFP hier.
Woher kommen diese Aufnahmen?
In dem geteilten Video mit ukrainischen Untertiteln stehen eine Frau und ein Mann, beide blutverschmiert, neben einem anderen Mann in militärischer Uniform. Ihnen gegenüber richten mehrere Fotografen ihren Fotoapparat auf sie, während sich eine ältere Frau ihr Smartphone nahe ans Gesicht hält, so als würde sie gleich ein Foto machen.
„Was ist das? Ich weiß es nicht. Fotografieren Sie mich, Andrej Andrejewitsch. Warten Sie, ich mache ein Foto und schicke es meiner Schwester in Russland“, sagt sie auf Ukrainisch.
Der deutsch-russische private Fernsehsender OstWest hatte die Aufnahmen am 10. Oktober 2022 online gestellt. In der Videobeschreibung auf YouTube steht: „Angriff auf das Zentrum von Kiew und Bombardierung der Ukraine“.
Die französische Tageszeitung Libération berichtete in ihrer Titelgeschichte vom 11. Oktober 2022 über die russischen Angriffe auf mehrere ukrainische Städte als Vergeltung für den Angriff auf die Krim-Brücke. Die Nachrichtenseite „Der Spiegel“ berichtete ebenfalls zu den Raketenangriffen.
Das Titelbild der Libération hatte der ukrainische Fotograf Efrem Lukatksy für die US-amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press (AP) gemacht. Es zeigt diese blutüberströmte Frau:
Ebenso beschreibt eine AFP-Meldung mit der Aussage einer Einwohnerin die Folgen der russischen Bombenangriffe auf Kiew und andere ukrainische Städte am 10. Oktober 2022. Das Originalvideo, das AFP über eine Stichwortsuche gefunden hat, belegt die Geschehnisse ebenfalls.
Die Nachrichtenagentur Associated Press veröffentlichte das Originalvideo am 10. Oktober 2022. Es zeigt laut Videobeschreibung „eine verletzte Frau auf der Straße mit einem Krankenwagen, umgeben von anderen verletzten Personen, der ein Mann in Uniform hilft. […] Russland hat am Montag eine Reihe von tödlichen Angriffen gegen mehrere ukrainische Städte gestartet und dabei zivile Ziele zerstört, darunter auch das Zentrum von Kiew.“
Bei dem Foto, das in sozialen Netzwerken verbreitet wurde, führte eine Rückwärtssuche zur Bilderdatenbank von AP, ebenfalls versehen mit dem Datum vom 10. Oktober 2022.
Wie schon das Foto, das von Libération verwendet wurde, hatte auch dieses der Fotograf Efrem Lukatsky aufgenommen. Er bestätigte AFP per Messenger am 14. Oktober 2022, Urheber des Fotos und des Videos zu sein. Auch auf seinem Facebook-Account bezog er noch einmal selbst öffentlich Stellung zu den Anschuldigungen. „Sie beschuldigen mich, die Welt mit meinen Fotos zu täuschen“, schrieb er dazu.
Zwei Tage nach der Bombardierung konnte die Frau aus dem Video als Oleksandra Kiselyova identifiziert werden. Über die Geschehnisse sprach sie mit dem ukrainischen Sender TCH, der ihr Zusammentreffen mit dem uniformierten Mann gefilmt hatte. Er hatte ihr zur Zeit des Angriffs geholfen.
Auf den Aufnahmen ist das Gesicht Oleksandra Kiselyovas voller Blutergüsse und Spuren von Schnitten. Im Verlauf des Interviews erwähnt sie, wie im Video in den sozialen Netzwerken, ihre Schwester. „Sie weiß, was mit mir passiert ist, aber sie hat nicht angerufen“, sagt sie.
Vor Ort: Verletzte und Rettungskräfte
Mehrere Fotoreporter, die am 10. Oktober 2022 vor Ort waren, haben das Ereignis aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen und veröffentlicht. Ihre Berichte bestätigen, dass mehrere Zivilistinnen und Zivilisten bei dem Raketenangriff verletzt wurden und versorgt werden mussten.
Der ukrainische Fotograf Oleksandr Khomenko veröffentlichte beispielsweise auf seinem Facebook-Account ein Video, in dem Oleksandra Kiselyova zu sehen ist, um die sich gerade ein Mann kümmert und ihr blutbeflecktes Gesicht verbindet. Weitere Personen, die ebenfalls im Gesicht verletzt sind, werden auch verarztet.
„Nach einem Raketenangriff auf Bürogebäude in der Nähe von Kiews Hauptbahnhof am 10. Oktober 2022, leisten Ärzte die Erstversorgung der Verletzten. Ich habe elf Verletzte gesehen, die weggebracht wurden, zum Glück gibt es keine Toten“, steht in der Videobeschreibung.
„Ich ging gerade in der Nähe des Bahnhofs in Richtung Taras-Schewtschenko-Straße, wo die erste Rakete einschlug, als ich eine Explosion hörte und Rauch in der Nähe sah. Ich bin sofort hingelaufen. Die Rakete ist beim Bürogebäude Tower 101 heruntergekommen, in der Nähe des Wärmekraftwerks“, sagte der Fotograf gegenüber AFP via Messenger am 17. Oktober 2022.
Der jetzt schwer beschädigte Wolkenkratzer Tower 101 ist auf dem auf YouTube veröffentlichten Video von Associated Press zu erkennen, genau wie auf dem Facebook-Video von Oleksandr Khomenko und auf Google Street View:
Der Tower 101 befindet sich im Zentrum von Kiew, nicht weit vom Schewtschenko-Park entfernt, der am 10. Oktober 2022 von den Anschlägen getroffen wurde. Das bestätigt diese AFP-Meldung: „In dem hübsch bewaldeten Schewtschenko-Park hat die Rakete einen tiefen Krater geschlagen und einen Kinderspielplatz zerstört.“
„Das erste, was ich gesehen habe, waren die Ärzte, die mehrere Personen behandelten, deren Gesicht und Körper blutüberströmt waren. Mehrere Journalisten arbeiteten vor Ort, darunter Efrem Lukatsky. Wir haben 15 bis 20 Minuten Seite an Seite gearbeitet“, sagte Oleksandr Khomenko weiterhin.
Im von ihm aufgenommenen Video sagen Oleksandra Kiselyova und der Mann in Uniform, der ihr zu Hilfe kommt:
(Mann): „Nun, ich möchte nach Hause gehen. Da warten Freunde auf mich. Aber machen Sie sich keine Sorgen, wir bringen alles wieder in Ordnung. Mit dem Verband bin ich fertig.“
(Oleksandra Kiselyova): „Überall ist mein Blut, auch auf meinem Pullover.“
(Mann): „Das ist nicht schlimm, die Hauptsache ist, dass es Ihnen gut geht. Meine Hose ist voller Blut und ich weiß nicht, von wem es ist.“
Wladyslaw Musijenko, ein weiterer freier Fotograf, der auch vor Ort war, sagte auf Anfrage von AFP via Messenger am 25. Oktober 2022: „Ich habe diese Fotos am 10. Oktober 2022 in Kiew aufgenommen, in der Nähe dieses Gebäudes, das Energie liefert (Wärmekraftwerk, Anm. d. Red.) und in der Nähe des Hauptbahnhofs. Nicht weit von der Stelle entfernt, an der ich die Fotos gemacht hatte, war eine russische Rakete explodiert. Das war ein schrecklicher Vormittag – es gab zahlreiche Explosionen.“
„Die Personen, die ich fotografiert habe, wurden während der Explosion verletzt. Wie sich das abgespielt hat, weiß ich nicht. Ich war erst an Ort und Stelle, als die Ärzte schon Hilfe geleistet haben. In der Umgebung wurden noch weitere Personen verletzt, man kann sie übrigens auch auf anderen Fotos sehen“, sagte der Fotograf und verwies auf Fotografien, die er für die internationale Nachrichtenagentur Reuters gemacht hatte.
AFP veröffentlichte ebenfalls Fotos zu den Folgen dieser Bombardierung, wie die nachfolgenden, die am 10. Oktober 2022 vom staatlichen Rettungsdienst der Ukraine aufgenommen worden waren:
Auch andere Faktencheck-Initiativen haben sich des Themas angenommen und Artikel dazu veröffentlicht: hier und hier.
Unterbrechung des ukrainischen Stromnetzes: Russlands neue Strategie
Die Bombenangriffe, die Russland am 10. Oktober 2022 verübte, zielten vor allem darauf ab, die ukrainische Infrastruktur zu zerstören und den Zugang des Landes zu seinen Energieressourcen zu beschränken.
Nach einer Reihe von Niederlagen an mehreren Fronten in der Ukraine, hatte sich Russland zu einem Strategiewechsel entschieden, um eine Wende der Situation herbeizuführen: massive Angriffe auf ukrainische Kraftwerke im Angesicht des Winters.
Seit Anfang Oktober haben die russischen Streitkräfte Salven von Marschflugkörpern und Hunderte von Kamikaze-Drohnen aus iranischer Produktion auf Energieanlagen in der gesamten Ukraine, insbesondere auf die Hauptstadt Kiew, abgefeuert. Damit gelang es Russland, rund 40 Prozent des ukrainischen Stromnetzes lahmzulegen.
Am 23. Oktober 2022 nahm der staatliche Energieversorger Ukrenergo in Kiew Stromabschaltungen vor, um die Stromversorgung nach wiederholten russischen Luftangriffen auf die Infrastruktur des Landes zu „stabilisieren“, wie AFP von einem Privatunternehmen erfuhr.
Fazit: Das in sozialen Medien gezeigte Video und das dazugehörige Foto zeigen keine ukrainischen Schauspielerinnen und Schauspieler in Kiew, die zu Bombenopfern geschminkt wurden. Es sind Zivilistinnen und Zivilisten zu sehen, die bei den russischen Raketenangriffen auf die Hauptstadt am 10. Oktober 2022 verletzt wurden. Das haben verschiedene Fotoreporter gegenüber AFP bestätigt, die vor Ort waren. Über die Folgen der Bombardierung berichteten auch verschiedene internationale Medien.