Am 29. Oktober 2024 wurde die Region Valencia in Südspanien von verheerenden Überschwemmungen getroffen. In sozialen Medien kursierte seitdem vielfach ein Video mit der Behauptung, die EU habe zuvor 27 Staudämme in der Region abreißen lassen und somit die Katastrophe verursacht. Expertinnen und Experten erklärten jedoch, dass sturzflutartige Regenfälle die Überschwemmungen ausgelöst haben und in der Region lediglich fünf inaktive Wehrmauern abgerissen worden seien.
„Riesenüberschwemmungen in Valencia“, heißt es in einem tausendfach geteilten Tiktok-Video vom 2. November 2024. „Ist der Klimawandel die erste Ursache oder vielleicht sind es EU-Bürokraten, die aus völligem Wahnsinn einfach gebaute Talsperren und Rückhaltebecken abreißen?“, sagt darin ein wütend in die Kamera sprechender Mann. Im Hintergrund werden dabei Filmsequenzen von überfluteten Straßen und abgerissenen Staumauern gezeigt.
Der Clip wurde ursprünglich auf dem Tiktok-Kanal „InsiderNewsTV“ veröffentlicht, der laut Eigenbeschreibung „News / Nachrichten / Neuigkeiten“ verbreitet.
Im weiteren Verlauf des Videos heißt es, dass aufgrund einer EU-Regelung in der Region Valencia „27 Talsperren, Staudämme und so weiter“ abgerissen worden seien. Die EU habe Prämien für abgerissene Dämme gezahlt und Spanien diese Regelung übererfüllt. „Und angeblich soll der Klimawandel schuld sein“, sagt der Sprecher im Clip und schlussfolgert: „Das ist für mich schon fast verbrecherisch.“ Zudem wird ein spanischer Biologe namens Fernando López Mirónes mit den folgenden Worten zitiert: „Beim Abriss dieser Dämme und Stauseen braucht es nicht einmal starken Regen für Überflutungen.“ Das Wasser habe buchstäblich kein Hindernis mehr.
Auf X, Facebook, Telegram und Instagram wurde das identische Video vielfach geteilt und kursierte zudem auf spanischsprachigen Facebook-Profilen.
Die Region Valencia wurde am 29. Oktober 2024 von den schlimmsten Überschwemmungen seit Jahrzehnten getroffen, wie AFP berichtete. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels waren bereits über 220 Menschen bei der Flutkatastrophe ums Leben gekommen.
Gleichzeitig kursierten jedoch zahlreiche Falschinformationen, die AFP bereits untersucht hat: Irreführende Warnmeldungen über angebliche Dammbrüche verbreiteten Panik und behinderten teilweise die Arbeit von Feuerwehr, Polizei und Gesundheitspersonal. Auch Klimawandelleugnerinnen und -leugner suchten nach vermeintlichen Schuldigen der Katastrophe und bedienten dabei gängige Verschwörungserzählungen, beispielsweise die Falschbehauptung, dass ein US-amerikanisches Forschungsprojekt die starken Niederschläge künstlich erzeugt hätte.
Entgegen dieser Desinformation sind sich Expertinnen und Experten einig, dass der menschengemachte Klimawandel sehr wahrscheinlich für die Flutkatastrophe verantwortlich ist.
Einfluss des Klimawandels auf Starkniederschläge
Am 28. Oktober 2024 wurde der Südosten Spaniens von einem Sturmtief getroffen. Innerhalb weniger Stunden fiel so viel Regen, wie sonst in einem ganzen Jahr, berichtete AFP. Die darauf folgenden Überschwemmungen standen im Zusammenhang mit einem für diese Jahreszeit typischen Sturmphänomen, bei dem kalte Luft über das warme Wasser des Mittelmeers strömt und sich große Regenwolken bilden.
Nach Angaben der World Weather Attribution, einer internationalen Gruppe von Forschenden, die den Zusammenhang zwischen extremen Wetterereignissen und dem Klimawandel untersucht, war der menschengemachte Klimawandel „sehr wahrscheinlich“ die Ursache für die außergewöhnlich starken Regenfälle. Laut deren Analyse sind die sintflutartigen Regenfälle zwölf Prozent intensiver ausgefallen, als es in vorindustriellen Zeiten der Fall gewesen wäre. Im heutigen Klima, das demgegenüber 1,3 Grad wärmer ist, träten Extremwetterereignisse zudem etwa doppelt so häufig auf.
Expertinnen und Experten erklärten gegenüber AFP, dass die Überschwemmungen auch durch mangelhafte Planung und Fehleinschätzungen so verheerend ausgefallen seien: Eine schlechte Stadtplanung habe zu vielen versiegelten Oberflächen geführt, wodurch das Wasser nicht schnell genug versickern konnte. Zudem hätten ein mangelndes Verständnis der Wetterlage und unzureichende Warnungen der Behörden die Situation weiter verschlimmert.
Alte Videosequenz ohne aktuellen Bezug
In dem online kursierenden Video wird behauptet, dass ein EU-geförderter Abriss von Staudämmen und Talsperren die Wasserregulierung in Valencia verhindert habe und so die Überschwemmungen maßgeblich befördert hätte. Untermauert wird diese Behauptung mit dramatischen Videosequenzen von überfluteten Straßen, gefolgt von Clips, die große Maschinen beim Abriss von Mauern in einem Fluss zeigen. Der Zusammenschnitt dieser Sequenzen erzeugt den Eindruck eines direkten Zusammenhangs.
Mithilfe einer umgekehrten Videosuche konnte AFP nachweisen, dass die überfluteten Straßenaufnahmen, die in den ersten 16 Sekunden des Clips gezeigt werden, seit dem 29. Oktober 2024 vielfach in sozialen Medien geteilt wurden und tatsächlich von den Überflutungen in Valencia stammen.
Eine spätere Videosequenz, die ab Sekunde 0:16 gezeigt wird und eine demolierte Staumauer zeigt, ist jedoch deutlich älter: Die Sequenz stammt aus einer Dokumentation, die am 21. Dezember 2012 auf der Plattform Vimeo von der Hydrographischen Vereinigung Duero (Confederación Hidrográfica del Duero) veröffentlicht wurde.
Laut Videobeschreibung zeigt das Originalvideo den Abriss eines inaktiven Wehrs am Fluss Bernesga in der spanischen Provinz Léon. Wehre sind kleine Mauern, die in Flüssen errichtet werden, um einen Teil des Flusswassers für Bewässerungszwecke abzuleiten. Die im Video gezeigte Wehrmauer musste abgerissen werden, weil ihre Betriebskonzession abgelaufen war und der Flusslauf durch eine enorme Ansammlung an Schlamm und Sand blockiert wurde. Die Bauarbeiten wurden von der Hydrographischen Vereinigung Duero durchgeführt, die auch das Video auf ihrem Vimeo-Kanal veröffentlichte.
Im Jahr 2022 wurde die identische Videosequenz vielfach in sozialen Medien mit der Falschbehauptung geteilt, sie zeige, wie abgerissene Dämme die Wüstenbildung in Spanien verstärken würden. AFP hat diese Behauptungen bereits im November 2022 in einem spanischsprachigen Faktencheck widerlegt.
Mit den aktuellen Überschwemmungen in Valencia von Ende Oktober 2024 hatte diese Videosequenz somit nichts zu tun.
Onlinebeitrag zitiert unseriöse Stimmen
Im Video werden zudem Zitate von vermeintlichen spanischsprachigen Experten eingeblendet, um die Argumentation zu untermauern. Zunächst wird der „Journalist Faucet Morgade“ mit den Worten zitiert, Spanien übererfülle seit Jahren EU-Regelungen zum Abriss von Staumauern. Dazu wird ein X-Profil mit dem Nutzernamen „R.MAG“ eingeblendet. Hinter dem X-Profil verbirgt sich jedoch kein Journalist des Namens Faucet Morgade, sondern laut Eigenbeschreibung der spanische Finanzjournalist Ricardo Martín de Almagro, der über „Wirtschaft und Business“ berichtet. AFP konnte auf seiner Website keine Hinweise auf eine Betätigung als hydrologischer Experte finden.
Als zweiter Stimmgeber wird der Biologe Fernando López-Mirones mit deutlicher Kritik an Flussrenaturierungsprojekten der EU zitiert. Wie eine erweiterte Websuche ergab, ist López-Mirones ausgebildeter Biologe und arbeitet hauptsächlich als Drehbuchautor und Dokumentarfilmer. Er übte bereits in der Vergangenheit öffentlich Kritik an Renaturierungsprogrammen der EU, jedoch nicht in seriösen wissenschaftlichen Publikationen. Er fiel zudem darüber auf, Desinformation über Covid-19 und den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu verbreiten, wie die spanischsprachige Faktencheckorganisation Maldita berichtete.
EU-Renaturierungsgesetz wird fälschlich beschuldigt
Der im online kursierenden Video geäußerte Vorwurf, die EU sei durch massenhafte Dammabrisse für die Überschwemmungen in Valencia verantwortlich, entspricht einem verbreiteten Narrativ, wonach EU-Regelungen pauschal für Missstände verantwortlich gemacht werden. In der Vergangenheit hat AFP bereits mehrfach vergleichbare Falschinformationen widerlegt.
Tatsächlich führt die EU in einigen Regionen Spaniens und der gesamten EU Renaturierungsprojekte durch, um Ökosysteme wiederherzustellen. Dabei geht es jedoch nicht um den flächendeckenden Abriss aller Staudämme und Talsperren, sondern darum, alte, inaktive und teilweise beschädigte Bauwerke abzubauen, die den Flusslauf behindern.
Die Europäische Kommission schlug am 22. Juni 2022 eine Verordnung über die Wiederherstellung der Natur vor, um zur langfristigen Wiederherstellung geschädigter Land- und Meeresgebiete der EU beizutragen – beispielsweise durch Aufforstung, den gezielten Schutz von Meereshabitaten oder die Wiederherstellung von Flussläufen. Wie auf der Website der Europäischen Kommission angegeben, ist das Renaturierungsgesetz ein wesentlicher Bestandteil des Europäischen Grünen Deals.
Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass es in Europa mehr als eine Million Staudämme gibt, die Flussläufe blockieren. Im Jahr 2016 wurde das Projekt Dam Removal Europe (DRE) ins Leben gerufen. Laut Eigenbeschreibung ist DRE „eine Bewegung von Flussliebhabern, Freiwilligen, Aktivisten, Biologen, Umweltbehörden und sonstigen Akteuren der Wasserwirtschaft in der Wiederherstellung von Süßwasserökosystemen“. Das Projekt wird maßgeblich getragen von Naturschutzorganisationen wie WWF, The Nature Conservancy, European Rivers Network und anderen.
Ziel von DRE ist es, die Beseitigung inaktiver Staudämme zu fördern, damit die Flüsse ihre „natürliche Funktionsweise“ wiedererlangen und die Populationen von Fischen und anderen Arten zurückkehren, wie es auf der Website des Projektpartners World Fish Migration Network heißt. Durch die Beseitigung inaktiver Wehre könnten demnach Überschwemmungen und Dürren sogar verringert werden, da dem Fluss mehr Raum gegeben wird. Die Beseitigung dieser Wehrmauern erfolgt laut DRE durch lokale Initiativen. Eine „EU-Prämie“, wie im online kursierenden Video behauptet, sei dafür jedoch nicht vorgesehen.
Keine Staudämme, sondern stillgelegte Wehre wurden entfernt
In dem online kursierenden Video ist von 27 Talsperren und Staudämmen die Rede, die in der Region Valencia in den letzten Jahren abgerissen worden seien. Im Gegensatz zu Wehren werden Staudämme zur Speicherung von Wasser genutzt. Expertinnen und Experten erklärten jedoch gegenüber AFP, dass es keinerlei Beweise für diese Behauptung gebe.
Die Pressestelle des spanischen Ministeriums für ökologischen Wandel und demografische Herausforderung (Miteco) erklärte gegenüber AFP in einer E-Mail vom 4. November 2024, dass in ganz Spanien seit dem Jahr 2000 keinerlei Staudämme oder Talsperren, die dem Schutz vor Hochwassern dienen, abgerissen worden seien. Lediglich „kleine Dämme oder Wehre von wenigen Metern, die nicht mehr genutzt werden“, seien entfernt worden. Nach Angaben der Miteco-Pressestelle wurde in der Provinz Valencia seit 2000 lediglich das Wehr Corindón am Fluss Turia im Jahr 2017 und die Wehre Algoder 1-4 am Fluss Rambla de L’Algoder im Jahr 2006 abgerissen.
Eine Karte, die auf der Website des Geoportals der spanischen Regierung verfügbar ist, verzeichnet alle Staudämme, Wehre und Staustufen des Landes. Die Daten auf der Karte decken die Jahre 2000 bis 2021 ab und zeigen ebenfalls, dass in diesem Zeitraum in der Region Valencia lediglich die genannten Bauwerke an den Flüssen Rambla de L’Algoder und Turia entfernt wurden:
Von 27 abgerissenen Talsperren und Staudämmen kann somit keine Rede sein.
Unterscheidung zwischen Staudämmen und Wehren
Damit Dämme bei Überschwemmungen wirksam sind, müssen sie in der Lage sein, eine große Menge Wasser zu speichern, erklärte Ignacio Escuder-Bueno, Professor für Wasserbau an der Polytechnischen Universität Valencia, am 5. November 2024 gegenüber AFP. Dies war bei den in Spanien abgerissenen Infrastrukturen jedoch nicht der Fall: „Einige Wehre oder kleine Staudämme, die nicht mehr in Gebrauch sind, können eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen oder negative Auswirkungen auf die Umwelt haben“, erklärte Escuder-Bueno.
César Rodríguez, Generalsekretär des spanischen Flussschutzverbandes AEMS-Ríos con Vida, stimmte dieser Einschätzung zu und sagte am 4. November 2024 gegenüber AFP, die abgerissenen Wehre hätten keine Rolle für den Hochwasserschutz gehabt. Rodríguez erklärte, dass ein Wehr, wenn es nicht genutzt oder nicht gewartet wird, „die Ansammlung von Material und damit einhergehend einen Anstieg des Wasserspiegels verursachen“ könnte. Im schlimmsten Fall komme es so zu Überschwemmungen, oder die Wehre gingen kaputt.
Selbst größere Infrastrukturen könnten diese Probleme verursachen, wie es 1982 beim Tous-Staudamm im Júcar-Becken der Fall war: Der Staudamm in der Region Valencia wurde nicht genügend gewartet, stürzte ein und mehrere Menschen wurden getötet, so Rodríguez.
Alle Faktenchecks in Zusammenhang mit dem Klimawandel finden sich auf der Website von AFP.
Fazit: Ein online kursierendes Video verbreitet die Falschbehauptung, dass EU-Renaturierungsprojekte die verheerenden Überschwemmungen in Spanien verursacht hätten. Laut den Beiträgen wurden 27 Staudämme und Talsperren in der Region Valencia abgerissen. Das ist jedoch falsch: Seit dem Jahr 2000 wurden in der Region Valencia lediglich fünf inaktive Wehre und kleinere Dämme entfernt, die jedoch keine Rolle beim Hochwasserschutz spielten. Fachleute sind sich einig, dass Klimaveränderungen und extreme Wetterlagen für die Überschwemmungen verantwortlich waren.