Während die Wahl zum Europäischen Parlament am 6. bis 9. Juni 2024 immer näher rückt, warnen Expertinnen und Experten vor einer möglichen Überflutung der sozialen Medien durch falsche Behauptungen über den Krieg in der Ukraine, die das Ziel haben, die Unterstützung für rechtskonservative und nationalistische Parteien zu erhöhen. Dieses Phänomen wird durch Faktenchecks aus der Datenbank von Elections24Check bestätigt.
Am 2. April 2024 war der Krieg in der Ukraine das meistgenannte Thema bei Elections24Check (hier archivert), das im Vorfeld der Europawahl 2024 geprüfte Informationen für die Bürgerinnen und Bürger sammelt und kategorisiert.
Pro-russische Akteurinnen und Akteure haben auf Facebook, X, Tiktok und Telegram Beiträge veröffentlicht, die ukrainische Flüchtlinge als gewalttätige Kriminelle darstellen oder Mitgliedern der Regierung in Kiew vorwerfen, westliche Finanzhilfen abzuzweigen, um sich damit Luxusyachten und Villen zu kaufen.
Ein weiteres Narrativ, das vor allem in Ländern, die dem Konflikt am nächsten stehen, verbreitet ist, ist die Behauptung, dass Flüchtlinge höhere staatliche Leistungen erhalten würden als Einheimische.
AFP widerlegte Postings aus Tschechien, in denen behauptet wurde, dass ukrainische Mütter doppelt so viel Familienbeihilfe wie tschechische erhalten würden oder dass Ukrainerinnen und Ukrainer staatliche Zuschüsse für ihre Hypotheken bekämen.
Das Ziel solcher Propaganda ist, die Entschlossenheit der EU zu schwächen und gleichzeitig einwanderungsfeindliche Parteien wie die deutsche AfD, das französische Rassemblement national oder die niederländische Partei für die Freiheit zu stärken, sagte Jakub Kalensky, leitender Analyst am Europäischen Exzellenzzentrum für die Bekämpfung hybrider Bedrohungen (Hybrid CoE) in Helsinki, Finnland.
Derartige Desinformationskampagnen werden bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni – wenn mehr als 400 Millionen Europäerinnen und Europäer die Mitglieder des Parlaments für weitere fünf Jahre wählen – „definitiv eine Rolle spielen“, so Kalensky. Er fügte hinzu, dass „man einwanderungsfeindlichen Parteien Auftrieb gibt, wenn man Angaben zu ukrainischen Einwanderern verfälscht und/oder bei Daten übertreibt“.
„Ich bin davon überzeugt, dass ohne die russische Propaganda Bewegungen wie in Frankreich unter Marine Le Pen, in den Niederlanden unter Geert Wilders oder in der Slowakei unter Robert Fico deutlich schlechtere Wahlergebnisse erzielt hätten“, schlussfolgerte Kalensky.
Aus dem Zusammenhang gerissene Memes
Anfang 2024 wurde ein Video in mehreren Sprachen – wie Slowakisch, Tschechisch, Englisch und Französisch – geteilt, das angeblich reiche Verwandte der ukrainischen Elite zeige, die zu exotischen Destinationen geflohen sind, um dort einen luxuriösen Lebensstil zu genießen, anstatt für ihr Land zu kämpfen.
Diese Videos (beispielsweise hier oder hier zu sehen) stellen verschiedene wohlhabend aussehende Männer dar – oft in Begleitung von Frauen – und dabei kann man eine Stimme auf Russisch vernehmen, die sagt: „Bataillon Monaco, Leute, der Sohn eines bekannten ukrainischen Staatsanwalts protzt in Europa mit teuren Autos, während sein Vater arbeitet. Da haben wir es!“
Wie AFP bereits berichtete, sind diese Videos Teil eines Trends auf der Plattform Tiktok – Hunderte von Nutzerinnen und Nutzern filmen sich selbst mit teuren Autos und fügen dann dieselbe Tonspur hinzu. Dies ist ein Scherz, der den Eindruck erwecken soll, dass sie selbst „der Sohn eines bekannten ukrainischen Staatsanwalts“ seien – ein Schlagwort, das von Ukrainerinnen und Ukrainern ironisch verwendet wird, um Personen zu beschreiben, die den Schutz ihrer hochrangigen Verwandten genießen.
Laut Olena Churanowa von der ukrainischen Faktencheck-Organisation StopFake.org wurden diese Satire-Videos von der russischen Propaganda aufgegriffen, um ein Narrativ über Kinder der ukrainischen Elite zu schaffen – sie entziehen sich dem Militärdienst, während die „gewöhnlichen Ukrainer aus den Dörfern kämpfen“.
Gülle in Paris?
Menschen, die Desinformation verbreiten, greifen auch häufig auf reale, aber nicht in Zusammenhang stehende Ereignisse zurück, um den Eindruck zu erwecken, dass Ukrainerinnen und Ukrainer in Europa nicht mehr willkommen wären. Viele von AFP bereits widerlegte Behauptungen sind etwa in der Datenbank von Elections24Check zu finden, wo sie im Vorfeld der Europawahl gesammelt und kategorisiert werden.
Ein Video, das fälschlicherweise Euronews zugeschrieben wird, zeigt zum Beispiel eine Demonstration französischer Landwirtinnen und Landwirte, die angeblich die ukrainische Botschaft in Paris mit Gülle besprühen. Diese Demonstration hatte aber nichts mit der Ukraine zu tun. Außerdem fand sie im Dezember 2023 in der französischen Stadt Dijon statt und das Video wurde auch nicht von Euronews gedreht – wie, neben AFP, auch die spanische Faktencheck-Organisation Newtral und die litauische Faktencheck-Seite Delfi berichteten.
Dietmar Pichler, Desinformations-Analyst am Zentrum für digitale Medienkompetenz in Wien, Österreich, glaubt, dass anti-ukrainische Desinformation vor der Wahl im Juni wahrscheinlich noch zunehmen werde, da Russland versuche, Kreml-freundliche europäische Parteien zu fördern.
Er identifizierte zwei Hauptnarrative, die in EU-Kampagnen bereits aufgetaucht sind – die Sanktionen gegen Russland und die Finanzhilfe für die Ukraine. „Akteurinnen und Akteure, die darauf abzielen, diese Unterstützung für die Ukraine zu stoppen, setzen Desinformation und russische Propagandanarrative ein, um diese anti-ukrainische Position zu ‚rechtfertigen'“, so Pichler.
Ein Beispiel für solche Propaganda ist die falsche Behauptung, dass der französische Staat plane, „500 Euro“ von den Sparkonten „jeder zehnten Französin und jedes zehnten Franzosen“ abzuheben, um der Ukraine zu helfen. AFP widerlegte diese Behauptung hier.
Pro-russische Narrative wirken sich auch auf die Politik der etablierten Parteien aus und bringen manchmal diejenigen zum Schweigen, die sich sonst hinter die Ukraine stellen würden, so der Analyst.
Er fügte hinzu, dass sich „einige Politikerinnen und Politiker inzwischen davor scheuen, Themen wie die Ukraine oder Russland überhaupt anzusprechen, weil sie Angriffe von russischen Trollen, Bots und pro-russischen Akteurinnen und Akteuren auf nationaler Ebene befürchten“.
Fruchtbarer Boden
Die Kreml-freundliche Desinformationskampagne könnte in Ländern wie Ungarn und der Slowakei auf besonders fruchtbaren Boden stoßen, da deren Regierungen aktiv einwanderungsfeindliche Stimmungen schüren und Brüssel dazu drängen, Frieden mit Russland zu schließen, so Kalensky vom Hybrid CoE.
Als sich der russische Einmarsch am 24. Februar zum zweiten Mal jährte, beschuldigte der slowakische Ministerpräsident Fico – der Ukrainerinnen und Ukrainer wiederholt mit Nazis verglichen hat und sich damit der Rechtfertigung Moskaus für den Angriff anschloss – die EU, „die Russische Föderation zu hassen“, und forderte sie auf, „einen Friedensplan für beide Länder vorzulegen“.
Ungarische Staatsmedien suggerieren oft, dass der Ukraine-Konflikt zum Dritten Weltkrieg führen könnte, oder stellen unbegründete Behauptungen über die Zwangsrekrutierung ukrainischer Männer auf.
Selbst Kiews treueste Verbündete wie Polen sind nicht immun gegen die Propaganda, die seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 das Internet überflutet. In polnischen sozialen Medien wird immer wieder behauptet, dass Flüchtlinge den Arbeitsmarkt unterwandern, die Löhne unterbieten oder Sozialleistungen erhalten, von denen Einheimische nur träumen können.
Eine dieser falschen Behauptungen besagt, dass in Polen lebende Ukrainerinnen und Ukrainer an polnischen Wahlen teilnehmen dürfen, ohne die polnische Staatsbürgerschaft annehmen zu müssen, wie das polnische Faktencheck-Portal Demagog berichtete.
In einem anderen Fall, der von der lettischen Faktencheck-Organisation Rebaltica überprüft wurde, wird fälschlicherweise behauptet, dass Ukrainerinnen und Ukrainer in Lettland ungestraft den Staat kritisieren und ohne Papiere Nahrungsmittelhilfe erhalten können, während es der russischsprachigen Minderheit in Lettland sogar verboten sei, Russisch zu sprechen.
„Die Botschaft lautet: ‚Das ist der ukrainische Dank für eure Hilfe‘, ’sie benutzen uns‘ und ’sie respektieren uns nicht'“, so Andrzej Kozlowski, Experte für Cybersicherheit und Desinformation an der Universität Lodz in Polen.
„Russische Desinformationsmaschinerie“
Bei den jüngsten Demonstrationen polnischer Landwirtinnen und Landwirte gegen ukrainische Getreideimporte sind Pro-Putin-Slogans aufgetaucht und in polnischen sozialen Netzwerken häufen sich die Vorwürfe, dass Flüchtlinge den Arbeitsmarkt destabilisieren würden.
Die Bauernproteste in ganz Europa Anfang des Jahres 2024 wurden von russischen Propagandisten und rechtskonservativen Parteien in vielen Ländern Europas zu Desinformationszwecken missbraucht. Diese Proteste „haben höchste Priorität für die russische Desinformationsmaschinerie“ im Vorfeld der kommenden Wahlen in Polen im April und der EU-Wahlen im Juni, so Kozlowski.
Laut einer Ipsos-Umfrage vom Februar 2024 gewinnt die rechts außenliegende Konföderation – die einzige Partei im polnischen Parlament, die die russische Invasion nicht eindeutig verurteilt – am schnellsten an Unterstützung und könnte bei den Kommunalwahlen am 7. April 2024 zwölf Prozent erreichen.
„Am Anfang haben wir über die russischen Fake News gelacht, aber die Statistiken zeigen, dass die Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge und Einwanderer in Polen immer mehr abnimmt, ebenso wie die Unterstützung für die Lieferung von Munition und Waffen in die Ukraine“, so Kozlowski.
Kalensky vom Hybrid CoE glaubt, die größte Herausforderung für Europa sei es, vereint zu bleiben und der Flut von Desinformationen zu widerstehen. Die Gefahr, dass eine Lüge, die hundertmal wiederholt wird, schließlich zur Tatsache wird, sei nämlich ziemlich groß.
Dieser Artikel ist Teil eines Gemeinschaftsprojekts von über 40 Organisationen, darunter AFP, unter der Leitung des European Fact-Checking Standards Network (EFCSN) zur Bekämpfung von Desinformationen über die Europawahlen 2024. Weitere Informationen finden Sie unter elections24.efcsn.com