Bewertung
Für das behauptete Missmanagement gibt es keine Belege. Der Betrieb von Talsperren ist komplexer als beschrieben. Dem Betreiber der Harz-Talsperren und seiner Aufsichtsbehörde zufolge ist der vorgeschriebene Rückhalteraum für Hochwasser eingehalten und genutzt worden. Zusätzlich wurde ab Mitte Dezember Wasser abgelassen, um Kapazitäten zu schaffen – also vor dem verheerenden Hochwasser in Niedersachsen.
Fakten
Der Betreiber Harzwasserwerke veröffentlicht regelmäßig Angaben über die Füllstände der Talsperren im niedersächsischen Teil des Harzes. Diese befinden sich zum Beispiel an der Oker und der Innerste – beides Nebenflüsse der Aller und der Leine, die besonders vom Hochwasser in Niedersachsen betroffen waren.
Auf diese Veröffentlichungen der Harzwasserwerke stützt sich auch ein privater Blog, dessen Darstellungen in sozialen Medien herangezogen werden, um die Behauptungen zum angeblich menschlichen «Versagen» zu untermauern. Die Grafiken auf dem Blog geben die Füllstände der Talsperren von Söse, Oker, Oder, Innerste, Grane und Ecker wieder – einzeln und summiert, jeweils für die Jahre ab 2019. Sie zeigen, dass die Füllstände zu Beginn des Winters 2023 deutlich höher lagen als in den Vorjahren.
Vergleichsjahre ab 2019 waren eher zu trocken
Ein Vergleich des Jahres 2023 nur mit den trockenen Jahren der jüngeren Vergangenheit ist nur ein kurzer Ausschnitt – das birgt die Gefahr von Verzerrung. Die Harzwasserwerke schreiben auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur, dass die Vergleichsjahre bis 2022 trocken gewesen seien, «zum Teil mit Rekordminuswerten beim Niederschlag». Die niedrigen Werte der Vorjahre waren also aus Sicht des Betreibers nicht erstrebenswert.
Das deckt sich mit den verfügbaren Angaben zum Niederschlag. Zum Beispiel aus der Stadt Wernigerode im Harz: Dort fiel der Niederschlag in den Jahren ab 2019, mit Ausnahme des Jahres 2021, deutlich geringer aus als im langjährigen Mittel. Im Jahr 2023 lag er hingegen deutlich darüber. Insbesondere im Dezember 2023 fiel fast zweieinhalb mal so viel Regen und Schnee wie sonst im Vergleichszeitraum.
2023 war trotz Hitzerekorden ein vergleichsweise nasses Jahr. Trotzdem führt die Behauptung, das Hochwasser – also die enormen Regenmengen rund um Weihnachten – seien «mit Ansage» gekommen, in die Irre. Wie stark Niederschlag ausfällt, lässt sich kaum mit einem Vorlauf von Wochen oder Monaten sagen. Im Sommer war also nicht bekannt, wie viel Regen und Schnee im Herbst und Winter fallen würde.
Die Niederschläge an Weihnachten und im gesamten Dezember waren sowohl in den Hochwassergebieten als auch am Oberlauf im Harz außergewöhnlich stark. Das Portal «WetterOnline» sprach in einer Monatsbilanz vom nassesten Dezember in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt seit Beginn der regelmäßigen Wetteraufzeichnungen. Auch der Deutsche Wetterdienst sieht für den Dezember in den betroffenen Regionen deutlich mehr Niederschlag als gewöhnlich.
Rückhalteraum war zu Beginn des Hochwassers nicht gefüllt
Talsperren sind darauf ausgelegt, diese Unsicherheiten und Schwankungen weitestgehend abfangen zu können. Die Harzwasserwerke weisen gegenüber dpa darauf hin, dass die Talsperren einen sogenannten Hochwasserrückhalteraum haben: Sie dürfen nicht vollständig gefüllt werden, sondern müssen Platz für den Fall eines Hochwassers frei halten.
Für Talsperren ist in der DIN-Norm 19700 festgelegt, wie viel Kapazität für den Hochwasserschutz vorgehalten werden muss. Welcher Art von Hochwasserereignis sie standhalten müssen, wird in Wahrscheinlichkeiten angegeben. Ein Beispiel ist das sogenannte hundertjährige Hochwasser, das also statistisch gesehen alle 100 Jahre erwartet wird. Laut Landesbetrieb für Wasserwirtschaft sei bei der Vergrößerung der Hochwasserrückhalteräume im Harz 2017 auch der Klimawandel, der die Wahrscheinlichkeit für extreme Hochwasser erhöhen kann, berücksichtigt worden.
Der vorgeschriebene Rückhalteraum der Stauseen im Harz sei im Herbst und Winter 2023 eingehalten worden. Das teilen sowohl die Harzwasserwerke als auch die zuständige Aufsichtsbehörde, der niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, auf dpa-Anfrage mit. «Die Talsperren waren daher nicht zu hoch eingestaut», schreiben die Harzwasserwerke.
Füllstand unterliegt Abwägungen zwischen Aufgaben der Talsperre
Mit Beginn der starken und anhaltenden Regenfälle im Dezember wurden diese Rückhalteräume dann gefüllt. Im Zuge des Hochwassers seien sieben Millionen Kubikmeter Wasser zusätzlich aufgenommen worden, so der Betreiber.
Talsperren erfüllen allerdings mehrere Funktionen. Gerade jene im Harz werden neben dem Hochwasserschutz vor allem für die Trinkwasserversorgung genutzt. Die Harzwasserwerke schreiben, dass beide Zwecke berücksichtigt werden müssten. In den Vorjahren habe vergleichsweise wenig Trinkwasser für die Sommermonate gespeichert werden können. Eine «zu Beginn des Winters leergefahrene Talsperre» könne zwar bei Hochwasser mehr aufnehmen, wenn dann der Regen ausbleibe, sei aber die «Versorgungssicherheit mit Trinkwasser» gefährdet, schreibt ein Sprecher der Harzwasserwerke.
Für das Abwägen dieser Faktoren gebe es einen Betriebsplan. Dieser sei auch im Herbst, also vor den Hochwassern, eingehalten worden. Abweichungen vom Plan müssten von der Aufsichtsbehörde genehmigt werden.
Betreiber ließ ab Mitte Dezember vorsorglich Wasser ab
Das wurde Mitte Dezember 2023 tatsächlich beantragt – um den See zu leeren: Die Harzwasserwerke schreiben, dass sie aufgrund eines zu erwartenden Hochwasserereignisses ab dem 15. Dezember mehr Wasser als üblich abgelassen hätten, «um nochmals zusätzlichen Stauraum zu gewinnen».
Das lässt sich auch der Website der Harzwasserwerke entnehmen. Ab Mitte Dezember, also noch vor dem Beginn der starken und anhaltenden Regenfälle und der Hochwasser entlang der Unterläufe, ist zum Beispiel an der Okertalsperre ein deutlich erhöhter Ablass erkennbar.
Außergewöhnlich viel Niederschlag
Das Beispiel der Okertalsperre zeigt allerdings auch, dass der Regen ab den Weihnachtstagen den Zufluss wieder stark erhöhte. Offenbar so stark, dass deutlich mehr Wasser abgelassen werden musste. Wie die Harzwasserwerke Mitte Januar berichteten, wurde auch über den automatischen Überlauf Wasser abgegeben, denn die Talsperre sei voll gewesen.
In den ersten Tagen des neuen Jahres kam wieder mehr Wasser dazu, es wurde aber deutlich weniger abgegeben. Die Behörden verbuchen das als Zeichen des Erfolgs. Der Landesbetrieb für Wasserwirtschaft teilt unter Berufung auf die Daten mit, dass die Okertalsperre «durch die Reduzierung der Hochwasserscheitel zu einer deutlichen Entlastung bei den Unterliegern beigetragen hat».
Zugleich weist die Behörde aber darauf hin, dass der Einfluss der Talsperren auf Hochwasserpegel abnimmt, je weiter flussabwärts diese liegen. Am Pegel in Groß Schwülper nördlich von Braunschweig mache das Einzugsgebiet der Okertalsperre nur noch rund fünf Prozent des gesamten Einzugsgebiets der Oker in diesem Abschnitt aus.
In Niedersachsen waren vom Hochwasser zudem nicht nur Flüsse betroffen, deren Oberläufe oder Nebenflüsse durch Talsperren reguliert werden – etwa die Hunte für Überschwemmungen in der Region um Oldenburg oder weiter westlich die Ems.
Bisher gibt es also keinen echten Beleg für ein Missmanagement an den Talsperren. Die Abwägungen beim Betrieb der Stauseen sind komplizierter als in sozialen Medien behauptet. Der Vergleich zwischen eher trockenen Jahren mit einem sehr regenreichen Jahr birgt zudem die Gefahr der Verzerrung.
Vollständig aufgeklärt ist der Umgang mit dem Hochwasser allerdings noch nicht. Kritik am Hochwasserschutz in Niedersachsen und am Krisenmanagement der Behörden geht noch in andere Richtungen: So gelten viele Deiche als veraltet, die Umsetzung von Hochwasserschutzprojekten als zu langsam. Das Deutsche Rote Kreuz beklagte eine unzureichende Ausrüstung des Katastrophenschutzes.
(Stand: 23.1.2024)