Ende September 2024 war der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zu einem diplomatischen Besuch in Washington – an dessen Ende stand die Ankündigung weiterer Ukraine-Hilfen von fast acht Milliarden US-Dollar. Kurz darauf verbreitete sich online die Falschbehauptung, Selenskyj habe einen Mercedes gekauft, der einst Adolf Hitler gehört habe. Ein Foto sollte diese Behauptung stützen. Dabei handelt es sich jedoch um eine Fotomontage. Die Behauptung reiht sich ein in das prorussische Narrativ, dass ukrainische Funktionäre Nazis seien.
„Zelensky hat Hitlers Parade-Mercedes gekauft..um 15 Mio. Dollar“, heißt es in einem Beitrag in einem Telegram-Kanal vom 9. Oktober 2024. Neben dieser Behauptung beinhaltet der Post ein Bild eines Mercedes vor dem Präsidialamt der Ukraine sowie eine Website namens Seattle Tribune als vermeintliche Quelle. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sei dem Beitrag zufolge mit einem Mercedes-Benz 770K in Kiew gesehen worden, „einem ehemaligen Paradeauto von Adolf Hitler“.
Die Behauptung wird auch auf Facebook und X verbreitet. In den Beiträgen wird ein Zusammenhang zu Selenskyjs USA-Besuch Ende September 2024 hergestellt, bei dem US-Präsident Joe Biden der Ukraine ein Hilfspaket von fast acht Milliarden US-Dollar zusagte. Die Posts suggerieren, Selenskyj würde die finanziellen Hilfen westlicher Länder nicht für die Verteidigung seines Landes gegen Russland verwenden, sondern hätte sich davon den Mercedes gekauft.
In einigen Beiträgen wird zudem ein Video geteilt, in dem Aufnahmen von einem alten Mercedes, Adolf Hitler und Selenskyj zu sehen sind. Bei Minute 0:54 wird ein Screenshot eines angeblichen Telegram-Posts eingeblendet, der dem Anschein nach von dem Kanal „Voynareal“ stammt. Darin ist ebenfalls das Foto des alten Mercedes vor dem Präsidialamt auf der Bankowa-Straße in Kiew enthalten.
Die Behauptung wird auch auf anderen Sprachen wie Bulgarisch, Englisch, Französisch, Polnisch, Russisch und Ungarisch geteilt.

Das Foto, das sowohl einzeln als auch in dem geteilten Video als angeblicher Beweis vorkommt, ist jedoch nicht echt. Zudem gibt es keine verlässlichen Quellen oder Beweise, die den angeblichen Autokauf belegen. In einem Facebook-Beitrag des ukrainischen Zentrums für die Bekämpfung von Desinformation vom 8. Oktober 2024 wies die Institution, die zum Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat des Landes gehört, die Behauptung zurück und bezeichnete sie als „falsch“ (hier archiviert).
Oldtimer aus Fotomontage steht in Kalifornien
Obwohl es keine Spur von der angeblichen Veröffentlichung auf dem ukrainischen Telegram-Kanal „Voynareal“ gibt, führte eine umgekehrte Bildsuche des Fotos zu den beiden Bildern, die für die Montage verwendet wurden.
Das Bild, das den Hintergrund, also das ukrainische Präsidialamt zeigt, ist in der Bilddatenbank Adobe Stock zu finden (hier archiviert). Die Bildunterschrift lautet aus dem Englischen übersetzt „Bürogebäude des Präsidenten der Ukraine, Stadt von Kiew“.

Das zweite Foto taucht in einem X-Beitrag von Februar 2019 auf (hier archiviert). Darauf ist das gleiche Mercedes-Modell zu sehen, allerdings vor einem anderen Hintergrund.

Verschiedene Details wie die Spiegelung der Bäume in der Windschutzscheibe des Autos und ein Fleck auf dem Boden verraten, dass das Fahrzeug aus dem Foto herausgeschnitten und in das Bild des Präsidialamtes eingefügt wurde, wie auch ein Faktencheck des französischen Senders France 24 vom 8. Oktober 2024 erläutert.

Eine Stichwortsuche nach „Mercedes-Benz 770K“ ergab darüber hinaus, dass das Foto des Autos bereits 2014 beim Pebble Beach Concours d’Elegance (hier archiviert) aufgenommen wurde, einem jährlichen Oldtimertreffen im US-Bundesstaat Kalifornien. Eine Nahaufnahme der Windschutzscheibe des Fahrzeugs zeigt ein Etikett mit der Aufschrift „Show Car“.

Das Etikett ist mit den Schildern vergleichbar, die bei dem Oldtimertreffen für die unterschiedlichen Wettbewerbskategorien verwendet werden, in denen die Fahrzeuge antreten. Das zeigt ein Vergleich mit dem nachfolgenden Foto, das während des Jahrestreffens von 2015 entstand.
Verschiedene weitere Fotos des Oldtimertreffens im Jahr 2014 auf dem Facebook-Account der Veranstaltung zeigen ebenfalls den Mercedes aus der Fotomontage. Einzelne Details wie beispielsweise das weiße Nummernschild stimmen in den Fotos überein.
Laut einer Pressemitteilung der Veranstalter vom 17. August 2014 gewann dieser „1941 Mercedes-Benz 770K W150 Offener Tourenwagen“ den ersten Preis in seiner Fahrzeugkategorie („Klasse I“, was die Aufschrift „I-05“ auf dem Schild an einem der Scheinwerfer erklärt). Zudem gehört er der Mitteilung zufolge der Familie William Lyon aus Newport Beach in Kalifornien. Das bestätigt ein Foto des Fotografen Jason Henry in einem Artikel über die Veranstaltung vom 19. August 2014 im US-Medium „Wired“, auf dem ein grünes Schild auf dem Nummernschild mit dem gleichen Familiennamen zu sehen ist.
Auf der Website des Lyon Air Museums in Kalifornien für Luftfahrt und Fahrzeuge des 20. Jahrhunderts, das von dem ehemaligen hochrangigen Offizier William Lyon gegründet wurde, wird erläutert, der Mercedes 770K habe Carl Gustaf Emil Mannerheim gehört, dem Oberbefehlshaber der finnischen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg. Dieses Modell gehörte laut Museumswebsite zu den „Favoriten von Staatsoberhäuptern und anderen Würdenträgern bei feierlichen Anlässen“.
Außerdem fand AFP auf Google Street View (hier archiviert) den Eingang zu dem Golfplatz, auf dem die am Wettbewerb des Oldtimertreffens teilnehmenden Autos parken. Derselbe Zaun ist auf dem Foto zu sehen, das seit mindestens 2019 in sozialen Medien geteilt werden.

Auf Anfrage von AFP erklärten die Veranstalter des Oldtimertreffens Pebble Beach Concours d’Elegance am 15. Oktober 2024, dass das Foto vermutlich zu dem Zeitpunkt aufgenommen wurde, als die „Concours-Autos zu unserem Ausstellungsfeld hinunterfahren“. Sie fügten hinzu, dass sie den Fotografen oder die Fotografin nicht kennen, da das Bild außerhalb des Bereichs gemacht wurde, der den offiziellen Fotografen und Fotografinnen der Veranstaltung vorbehalten ist.
Wie das britische Medium „The Telegraph“ in einem Artikel aus dem Jahr 2021 ausführt (hier archiviert), wurden zwischen 1938 und 1943 nur 88 Fahrzeuge des Typs 770K hergestellt, was dieses Mercedes-Modell heute noch seltener macht. Ein Exemplar wurde „im Jahr 1938 als Repräsentationsfahrzeug an die Reichskanzlei ausgeliefert“ und von Adolf Hitler bei Paraden genutzt, schreibt das Technik Museum Sinsheim, das dieses Exemplar in seiner Sammlung hat, auf seiner Website. „Technisch befand sich der mächtige, bei vielen Paraden verwendete Wagen damals auf dem neuesten Stand der Automobiltechnik“, erklärt das Museum weiter.
Website Seattle Tribune wurde im Oktober 2024 erstellt
Einige der Beiträge mit der Falschbehauptung verweisen auf eine Website namens Seattle Tribune als angebliche Quelle. Dort findet sich tatsächlich ein Artikel über Selenskyjs vorgeblichen Kauf von Hitlers Mercedes. Die Website hat jedoch kein Impressum oder Haftungsausschluss und veröffentlicht schlicht Artikel anderer englischsprachiger Medien, insbesondere des in Seattle ansäßigen Senders Fox.
Den öffentlichen Daten der Domain von Seattle Tribune zufolge wurde die Website am 3. Oktober 2024 und somit nur wenige Tage vor der Verbreitung der Falschinformation erstellt (hier archiviert).
Der Artikel beinhaltet dasselbe Video wie einige der Beiträge in sozialen Medien. Es beginnt mit einer Nahaufnahme eines alten Mercedes und scheint geschnittene Aufnahmen eines AFP-Reports im Vorfeld einer Auktion in Scottsdale im US-Bundesstaat Arizona von Dezember 2017 zu enthalten. Dem Artikel zufolge wurde das Auto im Video im Jahr 1939 hergestellt, das Auto auf dem Foto des Pebble Beach Concours d’Elegance im Jahr 1941.

Der Titel Seattle Tribune kann leicht mit der authentischen amerikanischen Tageszeitung „Seattle Times“ verwechselt werden. Sie berichtete im Februar 2018, wie einer der Mercedes-Benz 770K in einer Straße in der Stadt Medina im US-Bundesstaat Washington geparkt und zuvor versteigert wurde. Einige der Beiträge in sozialen Medien zitieren diesen echten Artikel, der die Geschichte des Autos im Laufe der Jahre erzählt. Dabei wird jedoch der Teil ausgelassen, in dem es heißt, dass es ein russischer Milliardär war, der offenbar sechs Exemplare des Modells 770K kaufte.
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 werden vermehrt Falschinformationen über Wolodymyr Selenskyj in sozialen Medien geteilt und behauptet, er zweige Hilfsgelder westlicher Staaten ab oder hänge dem Nationalsozialismus an. So widerlegte AFP beispielsweise im Januar 2024 die Desinformation, Selenskyj habe die ehemalige Villa des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels nahe Berlin gekauft.
Vor der russischen Invasion wurde Selenskyj im Zuge der Veröffentlichung der Pandora Papers, einer großen Recherche des International Consortium of Investigative Journalists, vorgeworfen, ab 2012 ein Netz von Offshore-Firmen gegründet zu haben, die angeblich zum Kauf von drei Luxusimmobilien in London genutzt wurden. Die Recherche basiert auf über 11,9 Millionen Dokumenten von 14 Finanzunternehmen.
Den Pandora Papers zufolge verkaufte Selenskyj zudem seine Anteile an einer dieser Offshore-Firmen, Maltex Multicapital, kurz vor seiner Wahl zum ukrainischen Präsidenten im Jahr 2019 an seinen damaligen Partner Sergej Schefir, der später sein Top-Berater wurde.
Weitere Faktenchecks rund um den Ukrainekrieg und Wolodymyr Selenskyj sammelt AFP auf ihrer Website.
Fazit: Bei dem Foto, das Adolf Hitlers Mercedes-Benz 770K vor dem ukrainischen Präsidialamt zeigen soll, handelt es sich um eine Fotomontage. Der Mercedes im Bild stammt aus einem Foto, das 2014 bei einem Oldtimertreffen in den USA entstanden ist. Darüber hinaus gibt es keine Beweise, dass Wolodymyr Selenskyj Hitlers Mercedes gekauft habe, wie die Website Seattle Tribune behauptet.